“Quellenkritik im digitalen Zeitalter”: Zum Positionspapier des Historikerverbands (original) (raw)

Der Historikerverband hat ein wichtiges Positionspapier zu den Historischen Grundwissenschaften (auch Hilfswissenschaften genannt) veröffentlicht: “Quellenkritik im digitalen Zeitalter”. Hier einige Gedanken dazu.
Die Mediävistin Eva Schlotheuber (Düsseldorf) und der Zeithistoriker Frank Bösch (Potsdam) zeichnen für das bei HSozuKult und im Blog des Historikerverbands veröffentlichte Papier verantwortlich. Ich gehe hier nur auf das eigentliche Papier ein, nicht auf die bei HSozuKult publizierten Diskussionsbeiträge.

Jetzt schon tl;dr? – Ganz am Ende wird aufgelöst, was im Bild über diesem Beitrag steht.

Ein gutes Papier

Dies ist ein taktisches Papier. Es begründet gegenüber Politik und Bürokratie, warum grundwissenschaftliche Lehre notwendig ist und bedient geschickt die Erwartungshaltungen dieses Publikums: die Sorge um die Konkurrenzfähigkeit gegenüber der “angelsächsische[n] Forschung” oder die Beschwörung von Synergien, gewürzt mit zeitgeistigen Neologismen wie “basal[e] Kompetenzen”. Das ist sinnvoll, um der Zielgruppe die Botschaft zu vermitteln.

Die Botschaft ist schlüssig: Immer mehr menschliche Aufzeichnungen aus unterschiedlichsten Medien werden online verfügbar. Durch den fortschreitenden Abbau der grund- oder hilfswissenschaftlichen Lehre an den Universitäten können gleichzeitig immer weniger Studenten methodische Kenntnisse zu ihrer Interpretation erwerben.

Schlüssig ist es deshalb auch, die Schaffung von speziell auf die Auswertung von Digitalisaten ausgerichteten Techniken zum Kern der grundwissenschaftlichen Didaktik zu zählen. “Digital Humanities” sind obligatorisch.

Wer sich verkaufen will, darf keine Selbstzweifel zeigen. Diesem taktischen Papier ist also nicht vorzuwerfen, dass es eine kritische Reflexion versäumt. Um so wichtiger ist es, diese Defizite im Fachdiskurs anzusprechen. Sie könnten Anteil an der prekären Lage des Fachs haben.

Das archivalische Loch

Frank Bösch sagt mit Recht, dass die Grundwissenschaften für die Zeitgeschichte erweitert werden müssen, und benennt als Desiderate die Interpretation von Statistiken, audiovisuellen Quellen und mündlichen Zeugnissen (“Oral History”). Gerade für die aufsteigende transnationale Geschichtsforschung sei dies unverzichtbar.

Dass Schriftquellen institutioneller Akteure, insbesondere der Staaten, also Akten, immer noch zentrale Quellen sind, ist dabei klar. Frank Bösch hat gerade einen ausgezeichneten Aufsatz über die Haltung der Bundesrepublik zur iranischen Revolution von 1979 veröffentlicht, der fast ausschließlich auf Aktenmaterial des Auswärtigen Amts und des Bundeskanzleramtes basiert (Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 3/2015).

Es wäre falsch, aus dem Fehlen von Forschungen zur Aktenkunde des 20. Jahrhunderts zu folgern, dass zeitgeschichtliche Aktenstücke, mit der Maschine geschrieben, keine formalen Schwierigkeiten bereithalten und deshalb keine vertiefte hilfswissenschaftliche (da ist der Begriff wieder) Betrachtung erfordern würden. Was bei einer merowingischen Urkunde offensichtlich ist, erweist sich in der Zeitgeschichte erst im Detail und ist deshalb besonders tückisch.

Nicht umsonst befasst sich ein Arbeitskreis des Verbands deutscher Archivarinnen und Archivare mit dem Thema; siehe den Werkstattbericht im Archivar 3/2014, S. 293 ff.

Eva Schlotheuber stellt die Nützlichkeit des klassischen grundwissenschaftlichen Fächerkanons für Epigrafik und Kodikologie heraus und bezieht en passant auch noch das “frühe 20. Jahrhundert” ein. Kaum zu bestreiten ist aber doch, dass die Abdeckung des Quellenmaterials durch die klassische universitäre Lehre und Forschung in den Grundwissenschaften schon im Spätmittelalter merklich dünner wird und in der Frühen Neuzeit weitgehend aussetzt.

Die Wahrscheinlichkeit, auf ein methodenvermittelndes Seminar zu Papsturkunden oder zu frühneuzeitlichen Amtsbüchern zu stoßen, dürfte sich im Durchschnitt immer noch antiproportional zur Menge der Überlieferung in den Archiven verhalten. Die Einführung in neuzeitliche Akten wird in der Regel über Lehraufträge an Archivare ausgelagert und beschränkt sich vielleicht auf 2 Wochenstunde in jedem zweiten Semester.

Dieses Problem ist auch struktureller Art: Abgesehen von den beiden noch bestehenden rein hilfswissenschaftlichen Professuren ist das Fach immer an mittelalterliche oder landesgeschichtliche Lehrstühle gekoppelt; siehe die Zusammenstellung von Andrea Stieldorf (Archivar 3/2014, S. 258). Das liegt natürlich an an der Genese und Geschichte des Fachs.

So bleiben vielleicht 90 % des archivalischen Quellenmaterials der Geschichtswissenschaft, zu denen die universitären Historischen Grundwissenschaften kaum etwas zu sagen haben. Der traditionelle mediävistische Kanon ruht in sich selbst, in der Zeitgeschichte wird das Problem nicht gesehen.

Die Lehre ist nicht genug

Daran wird deutlich, dass die Misere nicht auf die Lehre beschränkt ist. Das Fach sollte seinen Inhalt grundsätzlich neu aufstellen und seine historisch gewachsene Kleinteiligkeit (Sphragistik, Chronologie usw.) überdenken; auf seine Art instruktiv ist in diesem Zusammenhang das Interview mit Eckart Henning in der FAZ vom 18. November 2015, Seite N4.

Von Seiten der Archivare wird seit langem eine überwölbende Archivalienkunde gefordert, die alle in Archiven verwahrten Schriftquellen einbezieht. Und sie arbeiten auch daran; es sei nur auf die einschlägigen Veröffentlichungen Robert Kretzschmars hingewiesen. Spezialisierte Betrachtungsweise etwa von Urkunden, Aktenstücken oder Siegeln sollen nicht überschrieben, aber aufgehoben und eingebettet werden.

Eine solche Archivalienkunde hätte auch Masse genug, um einen der zeitgeschichtlichen Medienkunde oder der Erzählforschung gleichgewichtigen Block zu bilden, und ihre Berechtigung wäre der Bürokratie wohl auch leichter zu vermitteln als die eines singularisierten Fachs “Sphragistik”.

(Ich habe weder etwas gegen Siegel noch, als promovierter Mediävist, etwas gegen die mediävistischen Hilfswissenschaften. Als zeitgeschichtlich arbeitender Archivar sehe ich aber ein Problemfeld.)

Allein aus einer Verstärkung der universitären Lehre wird die nötige Neuaufstellung nicht entspringen. Im Wesentlichen wird es sich dabei doch um Grundkurse “Einführung in die …” handeln, die das Überleben in Archiv und Bibliothek sicherstellen. Sinnvolle Wissensvermittlung setzt aber natürlich stetigen Wissenschaftsfortschritt voraus.

Ausgehend von der Diplomatik haben auch die Grundwissenschaften längst einen Schwenk (“turn”) in die Kulturwissenschaften vollzogen – und zwar einen sinnvollen. Konzepte wie Pragmatische Schriftlichkeit gehen mit traditionellem Quellenhandwerk sehr fruchtbare Verbindungen ein. Den Grundwissenschaften bietet sich damit die einmalige Möglichkeit, ihre bloß dienende Rolle abzustreifen und an Eigenwert zu gewinnen. Damit überschreiten sie freilich auch den Rahmen der im Papier geforderten Methodenvermittlung im Studium.

Eine der vermeintlich “kleinen” Grundwissenschaften, die Numismatik, hat durch die Einbeziehung von archäologischen Schatzfunden und Schriftquellen zum Münzwesen diesen Schritt schon vor längerem vollzogen und dabei eine Verselbständigung erreicht, die die Vereinnahmung in den Kanon der Grundwissenschaften kaum noch rechtfertigt.

Die “Community” sollte deshalb auch gegenüber der Bürokratie einfordern, die Grundwissenschaften in der Einheit von Forschung und Lehre weiterzuentwickeln, wobei sich die universitäre Forschung enger als bisher mit außeruniversitären Zentren vernetzen sollte, die aus der Praxis wichtige Anregungen geben könnte.

Eine Wissenschaft der Materialität

Schließlich ist auf eine Gegenläufigkeit zur Bewegung ins Digitale hinzuweisen: Der Gegenstand der Grundwissenschaft ist per definitionem der Überlieferungsträger an sich, ihre Methoden setzen an seiner Materialität an.

Die grundwissenschaftliche Ausbildung muss deshalb vor allem auch den Sinn für die Diskrepanzen zwischen Digitalisaten und Originalen schärfen. Gerade hier kann sie ihren Wert beweisen, offenbaren sich diese Diskrepanz der Geschichtswissenschaft doch gerade als ernste methodologisches Problem; ich verweise auf die lebhafte Diskussion im Mittelalter-Blog vom Sommer dieses Jahres.

Digitalisate wollen mit Verstand genutzt werden. Dieser Verstand kann jedoch nur anhand von Originalen ausgebildet werden. Dazu zählen neben herkömmlichen Schriftträgern natürlich auch die Materialien vorelektronischer audiovisueller Medien. Und warum nicht auch die Technikgeschichte der Gerätschaften, mit denen Töne und Bewegtbilder produziert wurden?

Ein deutliches Warnsignal zu den Grenzen der digitalen Repräsentierbarkeit sollte den Grundwissenschaften als Materialkunde sogar helfen, ihre Notwendigkeit zu begründen.

Fazit

Im Kampf gegen die Marginalisierung ist es ein Erfolg für sich, dass sich mit dem Historikerverband die Spitzenorganisation der deutschen Geschichtswissenschaft das Thema zu eigen gemacht hat.

Das Papier bietet einen exzellenten Aufschlag zur Behauptung und Selbstvergewisserung des Fachs. Nicht daran ist falsch. Es zeigt sich daran aber auch, dass das Fach eine Bringschuld hat, wenn es inhaltlich zukunftsfähig bleiben möchten.

Ach ja: Das Rätsel. Hier noch einmal in ganzer Breite:

1974-02-08 BM-Vlg

Es handelt sich um eine Verfügung Bundesaußenminister Scheels für den Leiter des Ministerbüros im Auswärtigen Amt (Politisches Archiv des Auswärtigen Amts, B 1, Bd. 574) zur Organisation des Besuchs der Fußballweltmeisterschaft von 1974 durch den US-Außenminister Henry Kissinger.

Zeitgenössische Individualschriften sind, vor allem im Zeitalter der mit Kugelschreiber geschriebenen Schnurschriften, eine besondere paläografische Herausforderung. Ein weites Feld für die Paläografie, deren neuzeitlicher Zweig vor allem außeruniversitär beheimatet ist. Plausibelste Transkription:

“Da Dr. Kissinger nach dem Warschau-Besuch wieder am 15. Juni zurückkehrt, wäre auch ein Spiel dieser Woche zu besuchen, z. Bsp. 22. in Hamburg!”


OpenEdition schlägt Ihnen vor, diesen Beitrag wie folgt zu zitieren:
Holger Berwinkel (28. November 2015). “Quellenkritik im digitalen Zeitalter”: Zum Positionspapier des Historikerverbands. Aktenkunde. Abgerufen am 12. Februar 2025 von https://doi.org/10.58079/axr3