93 | 2006 - Camera Austria (original) (raw)

In der aktuellen Ausgabe von Camera Austria, Nr. 93/2006, stellen wir künstlerische Positionen zweier Generationen vor, deren gemeinsamer Fokus zugleich im Bild und dennoch außerhalb des abgebildeten Gegenstandes zu liegen scheint. Der Gegenstand der Arbeit könnte nicht unterschiedlicher sein, doch verbindet Jean-Luc Mylayne und Mladen Stilinovic (beide in den vierziger Jahren geboren) die ihnen eigene kompromisslose Konsequenz ihrer künstlerischen Praxis: Jean-Luc Mylayne verfolgt seit Jahren beharrlich ein einziges Sujet mit der Kamera: Singvögel. Dieser Aufgabe ordnet er seine gesamte Lebensorganisation unter, und diese faszinierende Konstante war für Anne Bertrand der Anlass, in Gesprächen mit dem Künstler Zugang zu dieser sehr spezifischen Arbeit zu finden und deren ästhetisches und konzeptuelles „punctum“ heraus zu arbeiten.

Die Strategien des kroatischen Künstlers Mladen Stilinovic stehen im Mittelpunkt des Essays von Sandra Krizic Roban. Ausgehend von seinen künstlerischen Anfängen im internationalen Kontext der Konzeptkunst und in der gesellschaftspolitischen Rahmung Jugoslawiens der siebziger Jahre versucht die Autorin – eingedenk der nachhaltigen politischen und ökonomischen Umwälzungen, denen das Land in den nachfolgenden Jahren unterlag – einen Zugang zur Arbeit dieses multimedial arbeitenden Künstlers und seinem (stets politisch und gleichzeitig zutiefst persönlich verstandenen) Gegenstand zu erarbeiten.

Einem direkteren dokumentarischen Zugriff auf die Wirklichkeit verpflichtet sehen wir die seriell angelegten Arbeiten von Ahlam Shibli und Markus Krottendorfer, die beide in den siebziger Jahren geboren wurden. Ulrich Loock beschäftigt sich in seinem Text mit der neuen Fotoserie „Trackers“ von Ahlam Shibli, die sie palästinensischen Freiwilligen beduinischer Herkunft widmet, die als Spurenleser („tracker“) in der israelischen Armee eingesetzt werden. Shibli thematisiert hier schwer begreifbare und ebenso schwer annehmbare Widersprüche innerhalb des palästinensischen Volkes, dem die Künstlerin selbst angehört.

Der Text von Andreas Spiegl bietet überhaupt eine erste theoretische Auseinandersetzung mit der Arbeit von Markus Krottendorfer. In seinem Beitrag für Camera Austria stellt Krottendorfer sein bisheriges künstlerisches Schaffen in Ausschnitten vor: Neben einer umfangreichen Serie über die ökologischen und sozialen Transformationen, die mit dem „Drei-Schluchten-Projekt“ in China einhergehen, reicht die Bandbreite seiner Themen von einer (auch politisch motivierten) Auseinandersetzung mit Architektur und urbanen Strukturen bis hin zur Porträtfotografie.

Für die Weiterführung unserer Kolumne konnten wir die Philosophin Ruth Sonderegger gewinnen: Sie beginnt ihre Essayreihe mit einem Text zu den visuellen Praktiken des Nein-Sagens vor dem Hintergrund eines Kritikbegriffes nach dem Poststrukturalismus, mit dem sie sich auch in den nachfolgenden drei Ausgaben von Camera Austria auseinander setzen wird.

Den Beiträgen des vorliegenden Heftes vorangestellt haben wir eine Serie von Montagen von Jörg Schlick, der im Dezember 2005 verstorben ist. Wir möchten hier unsere Verbundenheit, unsere Trauer und unseren Dank zum Ausdruck bringen. Jörg Schlick hat uns nicht nur als Freund unterstützt und bestärkt, auch unsere Arbeit für Camera Austria hat er durch seine Geistesgegenwart und Inspiration nachhaltig geprägt. So hat er im Jahr 2000, angesichts der dramatischen Veränderungen in der damaligen politischen Landschaft Österreichs die Nr. 69 für Camera Austria (das „schwarze Heft“) gestaltet, eine Ausgabe, die eine intensive politische Debatte unter den Kunst- und Kulturschaffenden auslöste, die wir in den nachfolgenden Heften des Jahrgangs 2000 auf undogmatische Weise aufgreifen und abbilden konnten. In seiner Kunst hat Jörg Schlick sich immer wieder mit der gesellschaftlich zugeschriebenen Rolle des Künstlers auseinander gesetzt, ohne diese politische Frage auf didaktische Weise in seiner Arbeit zum „Thema“ zu machen; eher ist an seiner Haltung insgesamt – als Künstler, Vermittler, Gestalter und Lehrer – sein zutiefst ethischer Ansatz lesbar geworden, der uns immer wieder zur Überprüfung unserer Arbeit veranlassen sollte.

Christine Frisinghelli