DAS KARTENHAUS | NZZ (original) (raw)
Wie Google innerhalb von nur zehn Jahren zur Grossmacht der Kartographie aufstieg.
«Map», Arles 2011, Installation des deutschen Künstlers Aram Bartholl.
Aram Bartholl/datenform.de
Am 10. Februar 2013 traf sich am Bahnhof Giesshübel in Zürich eine Schar Tibeter zu einem seltsamen Protest. Für einmal streckten sie keine «Free Tibet»-Plakate in die Höhe, sondern rote Tafeln mit schwarzen Rändern, deren Design durch das US-Patent D620,950 S geschützt war: «tropfenförmiges Kennzeichnungssymbol inklusive Schatten». Das Ziel ihres Marsches war der Schweizer Sitz von Google an der Brandschenkestrasse, wo das Entwicklungsteam des Kartendiensts Google Maps arbeitet.
Das «tropfenförmige Kennzeichnungssymbol» ist als Google Pin bekannt, der auf den digitalen Karten von Google einen Zielort markiert. Obwohl erst zehn Jahre alt, ist er bereits zur Ikone einer neuen Geographie geworden: Für die einen ein Zeichen von Effizienz und Bequemlichkeit, um mit Hilfe des Smartphones von A nach B zu gelangen, für die anderen die Erinnerung daran, dass der Datenriese nicht mehr nur weiss, wer wir sind, sondern auch, wo wir uns befinden. Die Tibeter schliesslich sahen in ihm einen Ausdruck dafür, dass einmal mehr Fremde über ihre Kultur herrschten. Vor dem Gebäude angekommen, entrollten sie ein Spruchband mit ihrer Forderung: «Put Tibet back on the map».
Tibetische Berge, Flüsse und Dörfer sind auf Google Maps in Englisch und Chinesisch angeschrieben, nicht aber in Tibetisch. Was der Verein Tibeter Jugend in Europa, der hinter der Aktion stand, verlangte, waren zusätzlich tibetische Namen. «So kann Google die Erhaltung tibetischen Kulturguts im digitalen Raum sichern», hiess es in der Pressemitteilung.
Bis vor kurzem hätten sich Leute mit ähnlichen Anliegen vielleicht an die 1888 gegründete «National Geographic Society» gewandt oder an die «Gruppe der Experten für geographische Namen der Vereinten Nationen», die sich seit 1959 offiziell um die korrekte Benennung von Orten kümmert. Heute richten sie ihre Forderung an einen gerade mal 17jährigen Internetkonzern, dessen Hauptinteresse noch nicht einmal Karten gilt.
Vor zehn Jahren ging Google Maps online, heute ist Google eine Grossmacht der Kartographie. Zugriffszahlen sind zwar keine bekannt, aber der Kartendienst wird ohne Frage viel häufiger eingesetzt als jeder andere. Schätzungsweise eine Milliarde Personen – die Hälfte aller Menschen mit Internetzugang – benutzen ihn. Hinzu kommen zahllose Firmen und Organisationen. Die Weltgesundheitsorganisation markiert Krankheitsausbrüche auf Google-Karten, die Website safe2pee.org geschlechtsneutrale Toiletten und die palästinensischen al-Aksa-Brigaden Raketenziele in Israel.
Google hat kürzlich sogar die letzten weissen Flecken auf der Landkarte entdeckt: das Innere von Flughäfen und Einkaufszentren. Mit dem neuen Dienst Indoor Maps ist es nun möglich, eine Reise von Timbuktu direkt in die Staubsaugerabteilung des Mediamarkts im Zürcher Sihlcity zu planen. Die Reise, so spuckt Google aus, dauert 80 Stunden, und man wird darauf hingewiesen, dass «die Verkehrsverhältnisse aufgrund von Baustellen, Verkehr, Wetter oder anderen Ereignissen von den in der Karte dargestellten Suchergebnissen abweichen können».
Die Bittschrift der Tibeter blieb nicht die einzige dieser Art. Die Internetpetition an Google-Gründer Sergey Brin, das Südchinesische Meer in Ostvietnamesisches Meer umzutaufen, hat zwar erst 31 Unterschriften, um den Persischen Golf hingegen tobt seit Jahren ein heftiger Streit. Im Jahr 2008 führte Google den zweiten Namen Arabischer Golf ein. Nach anhaltenden Protesten von Iran gegen diese Entscheidung benannte Google das Binnenmeer 2012 eine Zeitlang überhaupt nicht mehr. Ein Vertreter von Google sagte der BBC damals, man würde nicht jeden Ort auf der Welt mit einem Namen versehen, was natürlich die Frage aufwarf, warum Google das Löchli in Oberuzwil benennt, nicht aber ein strategisch wichtiges Binnenmeer so gross wie England.
Wichtiger war natürlich der zweite Teil der Begründung: Das Unternehmen wolle in der Sache keine politische Position beziehen. Doch genau das hatte es mit der Tilgung des Namens getan – jedenfalls aus Sicht von Iran. Das iranische Aussenministerium drohte Google zu verklagen, obwohl unklar blieb, welches Gesetz das Weglassen eines Namens auf einer Karte verbietet. Gemäss Uno lautet die korrekte Bezeichnung Persischer Golf. Heute werden – zumindest in der Schweiz – wieder beide Namen angezeigt, mit einer leichten Bevorzugung des Persischen Golfs, der schon bei Zoomstufe 3 erscheint, während der Arabische Golf Zoomstufe 6 abwarten muss.
Wer sich anschickt, die umfassendste Karte der Welt zu publizieren, bekommt es früher oder später auch mit den geopolitischen Problemen dieser Welt zu tun. Der Versuch, sich aus der Politik herauszuhalten, ist schon die erste politische Entscheidung.
Eine Möglichkeit, es allen recht zu machen, hat Google jedoch gefunden: Umstrittene Grenzen werden jeweils so eingeblendet, wie sie dem Land, aus dem der Benutzer kommt, genehm sind. Ob die Krim zu Russland oder zur Ukraine gehört, hängt bei Google Maps ausschliesslich davon ab, aus welchem Land die Karte abgerufen wird. So verfährt Google mit einem knappen Dutzend unklarer Grenzverläufe zwischen Indien, Pakistan, Bhutan und China. Der Brauch, Karten lokalen Präferenzen anzupassen, ist kein Kind des Internetzeitalters. Harper-Collins, einer der grössten Verlage der Welt, hat über Jahre Atlanten in arabische Länder geliefert, auf denen Israel fehlte. Israel aufzunehmen wäre für die Kunden am (Persischen? Arabischen?) Golf «nicht akzeptierbar» gewesen, sagte ein Firmensprecher.
Krim auf Google Maps. Links, internationale Ansicht: mit gestrichelter Grenze. Mitte, ukrainische Ansicht: zur Ukraine gehörend. Rechts, russische Ansicht: zu Russland gehörend.
Ob auf Papier oder am Bildschirm: Die Täuschung funktioniert nur so lange, bis einer in der Realität einfordert, was ihm auf der Karte gehört. Am 3. November 2010 besetzte der nicaraguanische Militärkommandant Edén Pastora einen umstrittenen Fleck Land im Südosten von Costa Rica. Als Rechtfertigung sagte er der costaricanischen Zeitung «La Nación»: «Schauen Sie sich Googles Satellitenbilder an, dann sehen Sie die Grenze.» Tatsächlich musste Google einräumen, dass die Grenze auf ihren Karten falsch eingezeichnet war. Damit wurde Google Maps die zweifelhafte Ehre zuteil, als erste Karte ihren Namen einem Krieg zu leihen: dem «Google Maps War».
Auf die Forderungen der jungen Tibeter reagierte Google mit einer für Grosskonzerne üblichen Taktik: gar nicht. «Google schweigt» ist mittlerweile eine stehende Wendung mit 2480 Fundstellen im Internet. Tenzin Tibatsang, dessen Idee der Protest war, ist enttäuscht. «Google bildet die Welt ab und trägt damit eine grosse Verantwortung. Die sollte das Unternehmen auch wahrnehmen.» Er hat seine Google-Pins-Tafeln an so viele Demonstrationen mitgenommen, dass es seinen Freunden auffiel, wenn er sie einmal nicht dabeihatte. Doch irgendwann waren die Ränder bestossen, der Karton geknickt, und er warf sie weg.
Als Google am 8. Februar 2005 den Dienst Maps ankündigte, war keineswegs vorgezeichnet, dass der Suchmaschinengigant bald auch die Welt der digitalen Karten beherrschen würde. Zwar erhielt Google Maps jene 20 Prozent der Suchanfragen bei Google, die sich auf geographische Orte bezogen, als Mitgift auf den Weg, doch hatten andere Kartendienste zu diesem Zeitpunkt bereits Jahre Vorsprung. Mapquest ging schon 1996 ins Internet und war im Jahr 2000 so wertvoll, dass die Firma für 1,1 Milliarden Dollar von America-Online übernommen wurde. Auch Yahoo drängte 2002 mit eigenen Karten ins Netz. Was Google zum Marktführer der digitalen Geographie machte, war vor allem die herausragende Bedienerfreundlichkeit des Dienstes.
Im Jahr 2004 wandten sich die Brüder Lars und Jens Eilstrup Rasmussen, zwei dänische Softwareingenieure, an Google. Mit ihrer Firma «Where 2 Technologies» hatten sie eine Anwendung für die Darstellung von Karten am Computer programmiert und schlugen Google vor, sie für einen Online-Kartendienst zu verwenden. Was die Technik der Brüder von Konkurrenten unterschied, war die intuitive Bedienung. Bei Mapquest mussten die Karten jeweils neu geladen werden, wenn man den Massstab wechselte oder den Ausschnitt links oder rechts neben dem angezeigten sehen wollte. Rasmussens Karten konnte man dagegen kontinuierlich vergrössern und verkleinern oder mit der Maus packen und verschieben. Im Oktober 2004 übernahm Google «Where 2 Technologies» samt ihren Gründern Lars und Jens Rasmussen und machte ihre Technik zur Grundlage von Google Maps.
Im Juni 2005 lancierte Google eine zweite Kartenanwendung: Google Earth, ein Gratisprogramm, das die Welt das Staunen lehrte. Wer es öffnete, sah ein Bild der Erdkugel aus dem All, das an jene legendäre Aufnahme erinnerte, die 1972 die Astronauten von Apollo 17 geschossen hatten. Doch anders als die statische «blaue Murmel», wie das Bild genannt wurde, erlaubte Google Earth eine Achterbahnfahrt durch die Weltgeographie. Man stürzte im freien Fall dem Erdboden zu, das Mittelmeer unten, die Britischen Inseln oben, dann kam Kontinentaleuropa ins Blickfeld, die Alpen, der Zürichsee, der Bahnhof, die Limmat, Lastwagen, Bäume, Autos, Sonnenschirme, Menschen, ein Hund am Limmatquai. So etwas kannte man bisher nur aus der Geheimdienstzentrale im Spionagefilm.
Die militärische Anmutung der atemberaubenden Flüge per Mausklick war kein Zufall. Die Technik stammte von einer weiteren Firma, die Google im Oktober 2004 übernommen hatte: Keyhole, ein Unternehmen, das sich auf die Visualisierung von Satellitenbildern spezialisiert hatte. Sein Durchbruch erfolgte mit dem dritten Golfkrieg, dem Einmarsch der Amerikaner im Irak 2003. Keyhole stellte Fernsehstationen ihre 3-D-Simulation Earth Viewer zur Verfügung, wenn sie die Internetadresse EarthViewer.com einblendeten. Das Programm erlaubte, den Vorstoss der Truppen mittels videospielartiger Darstellung von Satellitenbildern nachzuvollziehen. Mit dem Blick eines Generals verfolgten Millionen von Fernsehzuschauern die Bahn der Marschflugkörper bis ins Ziel in Bagdad, sie glitten über potentielle neue Ziele und beurteilten die Schäden an Gebäuden. Die Website EarthViewer.com brach unter dem Ansturm begeisterter Zuschauer zusammen. «Es ist unglücklich, dass es einen Krieg brauchte, damit die Leute unsere Technik entdeckten», sagte Firmengründer John Hanke, «aber es brachte uns eine Menge Aufmerksamkeit und hatte einen starken Einfluss auf unser Geschäft.»
Als die spektakulären ersten Angriffe in eine lange graue Besetzung mündeten, suchte Hanke nach neuen Kunden: «Was die Generäle benutzen, um einen Krieg zu planen, kann man auch verwenden, um eine Mountainbike-Tour vorzubereiten.» Routen zu planen war zwar zweifellos praktisch, ihre Popularität verdanken Google Maps und Google Earth aber nicht ihrer Nützlichkeit, sondern einer Eigenschaft, die auf der Prioritätenliste von Kartographen bisher nicht weit oben gestanden hatte. «Wir glauben, dass Karten nützlich sein können und Spass machen», schrieb Productmanager Bret Taylor im ersten Blogeintrag über Google Maps im Februar 2005.
Und wie sie Spass machten! «Die Satellitenbilder waren zu nichts nütze, aber sie waren bezaubernd», sagt Steven Feldman, der die Beratungsfirma KnowWhere für Geoinformationssysteme betreibt und ein Experte für die Geschichte digitaler Karten ist. «Jeder suchte zuerst sein Haus, obwohl er doch wusste, wo er wohnte!» Dann flogen die Leute ihren Arbeitsweg ab, die Wanderung vom vergangenen Herbst aufs Hörnli, die Fahrt nach Rimini. Schliesslich wurden sie zu Weltreisenden am Schreibtisch. Schon vor dem Frühstück ging es zur Verbotenen Stadt und dann mit einem Zwischenhalt bei den Pyramiden zum Roten Platz. New York, Tokyo, Zäziwil, alles einen Mausklick entfernt. Man drehte die Weltkugel wie ein Gott.
Zu den meistbesuchten Attraktionen gehörten die Chinesische Mauer, der Eiffelturm und das Haus von Bill Gates. Die Welt im Computer war voller Wunder, und wie die Forschungsreisenden des 19. Jahrhunderts begannen die Bürostuhlabenteurer Sammlungen anzulegen: Swimmingpools, Achterbahnen und die seltene Gattung der Flugzeuge im Flug. Schnell bildete sich eine treue Gemeinschaft, die eigene Blogs ins Leben rief. Die Site «Google Sightseeing» gab sich die Unterzeile «Warum sich die Mühe machen, die Welt in Wirklichkeit anzusehen?» Noch nie hatte ein Programm die Herzen der Internetbenutzer so ergriffen wie die Google-Karten.
Auch Wissenschafter waren begeistert. Google habe ein «Archiv von Bildern kreiert, deren Beschaffung die Mittel des einzelnen Forschers übersteigt», sagte der Geologe John E. Bailey von der University of Alaska in Fairbanks anlässlich der Konferenz «Google Earth und virtuelle Visualisierungen in Ausbildung und Forschung in den Geowissenschaften» im Jahr 2011. Die ganze Welt als einfach navigierbares Satellitenbild – und das noch dazu gratis –, davon hatten die Forscher noch nicht einmal zu träumen gewagt. Wegen der grossen Dienste, die ihm diese Satellitenbilder erwiesen, taufte der Insektenforscher Brian L. Fisher von der California Academy of Science eine von ihm entdeckte Ameisenart in Madagaskar Proceratium google.
Was den Forschern besonders gefiel, war eine Funktion, die Google ursprünglich gar nicht vorgesehen hatte. Kurz nachdem Google Maps online geschaltet worden war, spielte ein begeisterter Benutzer, der Softwareingenieur Paul Rademacher, so lange mit dem Code, bis er auf der Karte eine beliebige Position markieren konnte. Weil er gerade eine neue Wohnung suchte, stellte er die Wohnungsangebote einer Immobiliensite auf einer Karte dar. Das war im Grunde illegal. «Wir hatten die Option, Paul anzustellen oder ihn zu verklagen», sagte der Google-Ingenieur Mano Marks Jahre später. «Wir entschieden uns, ihm einen Job anzubieten.»
Wenige Monate später hatte Google eine Schnittstelle zu Google Maps geschaffen, die es jedem Anwender erlaubte, die Karte mit eigenen Daten zu überlagern. Damit wurde Google Maps zur Spielwiese von Geologen und Ökologen, von Wohnungsmaklern und Taxiunternehmen. Die Möglichkeit, auf einfache Weise solche Mashups (von «to mash up», englisch für «vermischen») zu erstellen, zementierte die Dominanz von Google. Heute wird ihre Zahl auf über eine Million geschätzt. Drehorte von Kinofilmen, Verbrechen in Brasilien, die Routen von Meeresschildkröten: Für alles gibt es ein Mashup. «Die Karte ist zur Leinwand für andere Informationen geworden», sagt der Kartenexperte Feldman.
Obwohl längst zum Milliardenkonzern geworden, hatte es Google bisher geschafft, die Aura eines sympathischen Kleinunternehmens zu behalten. Ein Betrieb voller verschrobener, aber genialer Computerfreaks, die in Shorts und Hawaiihemden dem Firmenmotto «don’t be evil» nachlebten. Doch dieses Bild bekam Risse, als Google die Idee hatte, die Flughöhe der Satelliten dramatisch zu senken: auf 2 Meter 50.
Es war Luc Vincent in Googles Hauptquartier in Palo Alto, der die Idee für die populärste, aber auch umstrittenste Funktion der Kartenanwendung hatte. Vincent wollte jeden Strassenzug in San Francisco fotografieren und in Google Maps integrieren. Zwei Jahre später, im Mai 2007, stellte Google die Funktion Street View vor: In den Stadtplänen von New York, San Francisco, Las Vegas, Miami und Denver konnte man an einer beliebigen Stelle auf eine Strasse klicken und bekam sofort ein fotografisches 360-Grad-Panorama von dieser Stelle angezeigt. Zuvor hatten Google-Autos mit auf dem Dach montierten Kameras alle Strassen abgefahren und in regelmässigen Abständen Bilder geschossen – 2 Meter 50 vom Boden.
Mittels auf den Panoramabildern eingeblendeter Pfeile konnte man mühelos durch die Strassenschluchten von Manhattan gleiten oder den Strip in Las Vegas besuchen. Niemand wusste, wozu das gut sein sollte, aber es war magisch. Eine Städtereise für arme Leute. Näher war der Teleportation noch niemand gekommen.
Aber war das überhaupt eine Karte? Die herkömmlichen Definitionen einer «massstäblich verkleinerten Darstellung der Erdoberfläche», eines «abstrahierenden und zugleich anschaulichen graphischen Zeichenmodells» trafen weder auf Street View noch auf Google Earth zu. Ausgebildete Kartographen rümpften schon lange die Nase über die «dissidenten Kartenmacher», die vom Fach keine Ahnung hatten. Andy Woodruff, studierter Geograph von der Firma Axismap, erinnert sich an das Jahr 2006, als sich die Kartographen über die ganze Idee der «Demokratisierung der Kartographie» ärgerten, weil sie schlechte Karten hervorbringe, die «alles ignorierten, was Kartographen im Laufe der Jahre gelernt und gelehrt hatten». Ein Berufszweig fürchtete seine schleichende Abschaffung. Tatsächlich waren es keine ausgebildeten Geographen, die bei Google die Entwicklung der digitalen Karten vorantrieben, es waren Computerspezialisten, die unbelastet von geographischen Traditionen ausloteten, was technisch möglich war.
Bald gab es Street View für die ganze USA, Kanada, Europa, weite Teile Südamerikas und Asiens. Die Funktion ermunterte die Internetgemeinde, sich die Welt auf neue Art zu eigen zu machen. Zwei amerikanische Studenten setzten den uramerikanischen Brauch des Trips von Küste zu Küste im Internet fort und klickten sich im Sommer 2009 in neun Tagen auf Street View von Los Angeles am Pazifik nach Richmond am Atlantik. Sechs Stunden pro Tag verbrachten sie vor dem Computer, das wechselnde Panoramabild der Interstate 40 auf dem Bildschirm. Wenn sie Hunger hatten, hielten sie bei einem Restaurant an, die Nächte verbrachten sie in miesen Motels, manchmal nahmen sie auch virtuelle Autostopper mit – Leute, die sich in ihren Chat einschalteten und die sie, falls sie an ihrer Reiseroute wohnten, zu Hause abholten.
Street View entpuppte sich als hochgradig anregende Anwendung. Sites wie «streetviewfun.com» kartierten die Kuriositäten vom Strassenrand der Welt: bizarre Unfälle, Spaziergänger mit Masken, ein Paar beim Sex im Freien. Viele Passanten nutzten die Vorbeifahrt des Google-Autos für eine kleine Performance. Am 13. Oktober 2009 sass der deutsche Künstler Aram Bartholl im Café Mörder in Berlin beim Kaffee. Als er durch das Fenster ein Street-View-Auto vorbeifahren sah, sprang er auf und verfolgte den Wagen durch die Borsigstrasse. Ein Jahr später waren die Bilder auf Street View zu sehen, und Bartholl stellte sie unter dem Titel «15 Seconds of Fame» in einer Galerie aus. Wer es nicht in eine Reality-Show schafft, kann jetzt wenigstens einem Google-Wagen hinterherrennen.
Bartholl ist einer von mittlerweile vielen Künstlern, die sich in ihrer Arbeit kritisch mit dem Zusammenspiel von virtueller und realer Welt auseinandersetzen. Ein Auslöser für sein Interesse an Google Maps war eine UPS-Lieferung, die ihn nicht erreichte. Der Fahrer erklärte ihm am Telefon: «Ihre Adresse gibt es nicht.» Dass Bartholl ihm versicherte, die Adresse gebe es sehr wohl, er befinde sich schliesslich gerade dort, schien den Fahrer nicht zu beeindrucken. Entscheidend war: Sie fehlte auf Google Maps. «Wenn man nicht vorkommt im Google-Index», fragt Bartholl, «existiert man dann vielleicht gar nicht?»
Wie die Tibeter entdeckte auch Bartholl den Google Pin als kraftvolles Symbol einer neuen Ära der Kartographie. Seit 2006 hat er mehrere davon gebaut – einen davon fünf Meter hoch und eine Tonne schwer. Indem er sie an verschiedenen Orten aufstellt, holt er die virtuelle Welt in die Wirklichkeit zurück. 2010 war Bartholl mit der Künstlergruppe F. A. T. Lab an die Transmediale eingeladen, ein Medienkunstfestival in Berlin. Die Gruppe stellte ihren Beitrag unter das Motto «Fuck Google» und fuhr mit einem nachgebauten Street-View-Wagen durch die Strassen. Was sie nicht wussten: Google war Mitsponsor des Festivals, entschied sich aber nach einer Diskussion mit dem Festivaldirektor, nichts zu unternehmen.
Als Google Ende 2010 Street View in Deutschland einführen wollte, formierte sich erheblicher Widerstand. Was Street View so unterhaltsam machte, dass wahllos alle möglichen Leute bei allen möglichen Tätigkeiten aufgenommen wurden, machte den Dienst zum Fall für die Datenschützer. Als Reaktion auf Kritik in den USA hatte Google bereits damit begonnen, Gesichter und Autonummern unkenntlich zu machen. Doch das war vielen Deutschen nicht genug. Sie verlangten das Verwischen ganzer Häuserfassaden. Und so richtete Google eine entsprechende Meldestelle ein.
Doch dann brach der Streit erst recht los. Diesmal zwischen Google-Gegnern und Google-Fans. Es reichte nämlich, wenn eine einzige Person aus einem Haus – ob Mieter oder Besitzer war egal – die Verwischung verlangte, damit Google die Fassade für immer unkenntlich machte. Weit über 200 000 Hausfassaden in Deutschland wurden verwischt. Mancher Strassenzug sieht in Street View heute aus wie eine hohle Gasse aus Milchglas. Das passte wiederum jenen Leuten nicht, die ihr Haus in Street View sehen wollten. Sie gründeten Initiativen wie die «Aktion ‹Verschollene Häuser›» und die Facebook-Seite «Ungewollt verpixelt». Auf der anderen Seite wurden Leute, die ihr Haus erfolgreich hatten verwischen lassen, in der Lokalpresse gefeiert, bisweilen begleitet von einem Bild, auf dem sie stolz vor jener Fassade posierten, deren Anblick sie eigentlich der Öffentlichkeit hatten entziehen wollen.
Bei aller Kritik gestanden selbst Fachleute Google zu, dass der Konzern innert kürzester Zeit Erstaunliches zuwege gebracht hatte. Innerhalb von nur drei Jahren umfasste die Abdeckung mit Satellitenbildern und Luftbildern alle Industrienationen und viele Schwellen- und Entwicklungsländer.
Wenn Google Maps in einem neuen Land lanciert werden sollte, schaute sich Google nach bestehenden Daten um, die man einkaufen und integrieren konnte. «Das Problem war, dass es für die meisten Länder der Welt keine digitalen Kartendaten gab», erklärte der Erfinder von Google Maps, Lars Rasmussen, in einem Vortrag 2009. Auf dieses Problem stiessen Google-Ingenieure in Bangalore, Indien, auch in ihrem eigenen Land. Also programmierten sie die Anwendung Mapmaker, die es Freiwilligen erlaubte, bei der Erstellung von Google Maps mitzuhelfen. Rasmussen zeigte in einem Zeitraffervideo, wie eine rudimentäre Karte von Karachi in Pakistan durch die Arbeit von Amateuren innerhalb von Wochen zu einem erstaunlich exakten Stadtplan wurde. «Diese Arbeit wird nie aufhören», sagte Rasmussen begeistert. Er sollte unrecht bekommen,
Die Idee, Laien in die Herstellung von Karten einzubinden, war nicht neu. 2004 hatte der englische Informatiker Steve Coast das gemeinnützige Projekt Open Street Map gegründet, eine Art Wikipedia für digitale Karten, an deren Erstellung sich jeder beteiligen und die jeder für seine Zwecke verwenden konnte. Dieses Crowdsourcing von Karten erwies sich als sehr erfolgreich. Vor allem in Ländern ohne ausgebaute staatliche Kartographie gehörte das Material von Open Street Map bald zum genauesten, das es gab.
Als Google im Juni 2008 den Mapmaker lancierte, bildete sich auch dort bald eine eigene Community von Freiwilligen, die Google Maps verbesserten. Doch die Kritik liess nicht lange auf sich warten. Der Open-Data-Aktivist Mikel Maron warf Google vor, «sich den Anschein einer Open-Data-Community zu geben, dabei aber die Kontrolle über das zu behalten, was rechtmässig der gemeinsamen Nutzung vorbehalten sein sollte». Tatsächlich konnte man sich über eifrige Amateurkartographen wundern, die unbezahlte Arbeit für einen Milliardenkonzern leisteten.
Dass diese Form der Kartographie ihre eigenen Probleme mit sich brachte, erfuhr Google spätestens im März 2013, als es zu einem sogenannten Mapathon in Indien aufrief: Wer innerhalb von sechs Wochen die meisten neuen Elemente zu Google Maps beitrug, konnte Tablets und Handys gewinnen. Der Sieger war ein gewisser Vishal Saini aus Pathankot nahe der pakistanischen Grenze. Im nachhinein stellte sich heraus, dass es gute Gründe gab, weshalb die Karte von Pathankot lückenhaft gewesen war: Es gab dort viele militärische Anlagen, die Saini nun frischfröhlich in Google Maps integrierte. Die indische Regierung war nicht erfreut.
Den Todesstoss versetzte Mapmaker aber ein Vorfall im April 2015. Damals zeigte Google Maps in der Umgebung von Rawalpindi in Pakistan einen neuen Park an in der Form eines Android-Roboters – das Logo für Googles Betriebssystem –, der auf einen Apfel urinierte. Der derbe Spass, der Apple verhöhnte, war das Werk eines freiwilligen Helfers, dessen Eingabe nicht kontrolliert worden war. Kurz darauf sperrte Google den Zugang zu Mapmaker.
Anders als bei einem gemeinnützigen Projekt wie Open Street Map birgt die gemeinschaftliche Arbeit an Karten für einen Milliardenkonzern ein Reputationsrisiko, weil er für die Scherze seiner Laienkartographen geradestehen muss. Für die Betreiber von Open Street Map mag es ein Trost sein: Offenbar kann ein Unternehmen nicht gleichzeitig Milliarden verdienen und die Gratisarbeit Freiwilliger anzapfen.
Ihr volles Potential begann Google Maps im Jahr 2007 zu entfalten, als Apples iPhone auf den Markt kam, das erste Handy mit Satellitennavigation, auf dem sich die Karten auf einfache Weise intuitiv bedienen liessen. Weil Apple keine eigenen Karten hatte, war das iPhone mit Google Maps ausgerüstet, was Google innert kürzester Zeit Millionen von neuen Anwendern in die Arme trieb. Davon verlor es allerdings fünf Jahre später einen ansehnlichen Teil, als Apple seinen eigenen Kartendienst lancierte. Der war zwar von miserabler Qualität – Berlin lag in der Antarktis und Helsinki erhielt einen zweiten Flughafen –, wurde aber, weil vorinstalliert, oft Google Maps vorgezogen. Trotzdem sind Google Maps auch auf Smartphones immer noch die am häufigsten verwendete Karten-App. In Kombination mit der Satellitennavigation, die heute in jedem Handy steckt, eröffnen sie dem Suchmaschinengiganten ganz neue Möglichkeiten.
Bisher enthielten etwa 20 Prozent aller Google-Suchanfragen einen expliziten geographischen Bezug. Wenn man neu den gegenwärtigen Aufenthaltsort eines Benutzers punktgenau erfahren konnte, wurden daraus viel mehr. Wer auf dem Bundesplatz in Bern steht und nach einem Restaurant googelt, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit eines in der Umgebung suchen, selbst wenn er den Ort Bern nicht explizit in der Suche erwähnt. Google verdient sein Geld letztlich mit Onlinewerbung. Und diese kann ihre Wirkung umso besser entfalten, je genauer Google weiss, wie sich Handybenutzer durch die Welt bewegen. Am Ende dieses gigantischen Vorhabens, die allumfassende Weltkarte zu erschaffen, steht paradoxerweise die komplett individualisierte Karte, zugeschnitten auf die Bedürfnisse jedes Benutzers, die Google aus dessen Verhalten ermittelt. Nicht mehr ich lese die Karte, die Karte liest mich.
«Jede Karte repräsentiert die Weltsicht ihrer Macher», sagt der englische Historiker Jerry Brotton von der Queen Mary University of London. In seinem Buch «Die Geschichte der Welt in zwölf Karten» schreibt er: «Karten und Geld waren immer miteinander verknüpft, und Karten haben immer die Interessen von bestimmten Herrschern, von Staaten, Unternehmen oder multinationalen Konzernen widerspiegelt, was aber nicht notwendigerweise die Innovation entwertet, die die von ihnen finanzierten Kartographen erzielten.» Brotton anerkennt durchaus die Grosszügigkeit Googles, eine Riesenmenge geographischer Daten zur Verfügung zu stellen und alle möglichen Hilfsprojekte mit Informationen zu unterstützen, doch er gibt zu bedenken, dass Google trotzdem ein gewinnorientiertes Unternehmen bleibt. «Das bedeutet, dass – zum ersten Mal in der Geschichte – ein Weltbild auf der Basis von nicht allgemein und frei zugänglichen Informationen entworfen wird.» Die Karten selbst sind zwar zugänglich, nicht aber die komplexen Regeln, die im Programmiercode stecken und die bestimmen, wo wann was dargestellt wird. Die Google Maps zeigen uns immer häufiger nicht einfach die Welt, sondern jene Ansicht davon, von der Google glaubt, wir wollten sie in diesem Moment sehen. Das ist oft nützlich und effizient, aber immer ein Zerrbild.
Nur wenige Wochen nachdem der urinierende Roboter entdeckt worden war, kam es zu einem weit heikleren Vorfall. Wer auf Google Maps nach «nigga house» suchte, bekam das Weisse Haus angezeigt. Viele vermuteten, dass es sich erneut um einen Mapmaker-Vandalen handelte. Doch in diesem Fall lag das Problem tiefer.
Damit Google Maps Orte auch nach ihren umgangssprachlichen Bezeichnungen findet, die im offiziellen Index fehlen, durchforsten Programme das Internet nach Begriffen, die zusammen auftauchen. Offenbar wurde das Weisse Haus in rassistischen Diskussionen so häufig als «nigga house» bezeichnet, dass Google die Begriffe ohne menschliches Zutun einander zuordnete. Ganze zwei Tage dauerte es, bis die Techniker die Peinlichkeit entfernen konnten. Ein Zeichen dafür, welches Vertrauen Google in solche Automatismen hat. Doch wer sich seine Assoziationen direkt von Roboterprogrammen aus dem Internet diktieren lässt, darf sich nicht wundern, wenn er am Ende das krude Weltbild einer dumpfen Masse anonymer Internetbenutzer transportiert.
Die digitalen Karten nehmen noch viel direkter Einfluss. Auf Karten aus dem Mittelalter findet sich Jerusalem oft im Zentrum der Welt. Heute ist jeder sein eigenes Jerusalem. Wer mit dem Handy navigiert, sieht immer sich selbst in der Mitte. Das Erlebnis, an den Rand einer Karte zu geraten, gehört zu den Relikten aus vordigitaler Zeit. Nicht ich bewege mich auf der Karte, die Karte verschiebt sich unter mir. Das Handy wird zum Cursor auf der Weltkugel, mit weitreichenden Auswirkungen darauf, wie wir den Raum wahrnehmen. Die Geschichte der Menschheit, die einst mit dem geozentrischen Weltbild begann, scheint beim egozentrischen angekommen zu sein.
Für ein Experiment schickte man Versuchspersonen in einem Zoo mit einer Karte oder einem Navigationsgerät los. Die Gruppe mit dem Gerät konnte sich zwar an einzelne Wegmarken erinnern, scheiterte aber oft daran, aus diesen Wegmarken die Route zu rekonstruieren. Die digitale Hilfe hatte den intuitiven Prozess unterlaufen, sich eine innere Karte der abgelaufenen Strecke anzulegen.
Weil sich immer mehr Leute vom Handy an unbekannte Ziele lotsen lassen, wird sich diese Entwicklung beschleunigen, mit der paradoxen Folge, dass die Karten von Google Maps für den Benutzer immer unwichtiger werden. Schon heute befiehlt die Frauenstimme aus dem Lautsprecher, wann man links abbiegen soll; ein Blick auf die Karte ist nicht mehr nötig. Und selbst die Rolle des Befehlsempfängers könnten wir bald verlieren.
Branchenkenner vermuten, dass Google die Präzision seiner Karten auch deshalb vorantreibt, weil diese dereinst als Basis für die Navigation seiner selbstfahrenden Autos dienen sollen. Eine visuelle Karte brauchen sie nicht. Die produzierte der Computer bloss als Augenschmaus für uns Menschen, als er den Wagen noch nicht selber steuern konnte. Sogar Fussgänger könnten von dieser Entwicklung betroffen sein. Der Informatiker Max Pfeiffer von der Universität Hannover hat eine Steuerung entwickelt, die während des Gehens den Sartoriusmuskel am Oberschenkel elektrisch stimuliert, was den Fuss leicht nach aussen dreht und so eine Kurve einleitet.
Dass dabei die Kunst des Kartenlesens verloren geht, mag man bedauern, ist aber zu verschmerzen; schliesslich kann man sich diese Kulturtechnik jederzeit wieder aneignen. Die wichtigere Frage betrifft die Veränderungen im Gehirn: Was geschieht, wenn wir es weitgehend davon entlasten, innere Karten zu erstellen? Die Wahrnehmung von Raum und das räumliche Denken sind weit mehr als Werkzeuge, um von A nach B zu gelangen. Laut Toru Ishikawa von der University of Tokyo, der die Wirkung von Kartengebrauch und Satellitennavigation in Experimenten verglichen hat, helfen diese Fähigkeiten auch, Gedanken zu strukturieren und sich an Ideen zu erinnern. Sie sind weniger ein unabhängiges Talent als die Grundlage, auf der andere Leistungen aufbauen.
Vielleicht müssen wir uns an den Gedanken gewöhnen, dass wir ohne Satellitennavigation bald nicht einmal mehr unsere Stammbeiz finden, dafür mit dem Globus im Computer die Welt als Ganzes auf nie da gewesene Art verstehen lernen.
RETO U. SCHNEIDER ist stv. Chefredaktor von NZZ-Folio.
Dieser Artikel stammt aus dem Magazin NZZ Folio vom Juli 2015 zum Thema "Karten". Sie können diese Ausgabe bestellen oder NZZ Folio abonnieren.