Sonnenkreuz (original) (raw)
Alles befindet sich in Entwicklung, und die Welt der Götter ist davon nicht ausgeschlossen. So lautete einer der Grundgedanken der altkeltischen Jenseitsvorstellungen. Dies hat in überzeugender Weise der Franzose Lancelot Lengyel anhand der keltischen Numismatik und Mythologie dargelegt. Jener Gedanke beinhaltete »die Idee, daß Gott Bewegung ist, was impliziert, daß ebenso Schöpfung und letzten Endes auch Existenz Bewegung ist. (...) Bewegung, im Verständnis der Kelten, ist die aktive schöpferische Kraft der Durchdringung, der Umwandlung und der Erneuerung: sie ist Evolution in Reinkultur. (...) Die Essenz des Universums ist kosmogonische Bewegung. Sie umfängt Götter als Ströme, die aus der Quelle hervorgehen, nicht als die Quelle selbst.«
In Rhythmen, Harmonien und Disharmonien schwingende Bewegung durchdringt die Natur und ihre Elemente, die Menschen- und die Götterwelt gleichermaßen. Über die Rhythmen von Musik und Tanz inwendig mit der Elementarwelt und dem Kosmos verbunden, erlebte der Kelte seine Götter in steter Gestaltwandlung, die sich begrifflich nicht fixieren ließ, sondern innerlich immer wieder neu durchlebt und erfahren werden mußte. Somit erklärt sich die Reaktion des Keltenhäuptlings Brennos, als er die Statue des Apollon im Allerheiligsten zu Delphi erblickte: »Brennos brach in Lachen aus angesichts der Tatsache, daß man den Göttern menschliche Gestalten zugemutet und sie aus Holz und Stein hergestellt hatte.« (Diodoros von Sizilien: Bibliothkê istorikê XXII.) Für ihn war die gedanklich-künstlerische Fixierung eines Gottes lächerlich und unbegreiflich. Für das Heiligste der Griechen, die göttliche Vollkommenheit der menschlichen Körpergestalt, fehlte ihm jeder Sinn. Wenn die Kelten als Folge des Austauschs mit den Mittelmeerkulturen dennoch Götterstatuen fertigten, waren die Erzeugnisse willentlich verfremdet oder entstellt: »Den Götterstatuen mangelt es an künstlerischer Qualität, und sie zeigen die Häßlichkeit von verstümmelten Rümpfen«, schrieb Lucanus (Pharsalia III, 412). Dies lag nicht am mangelnden handwerklichen Können der keltischen Künstler, sondern an einer gänzlich anders gearteten Bewußtseinshaltung und Religiosität.
Was die Kelten in ihrer reichen Mythologie, in Musik, Poesie, Kunst und Handwerk zum Ausdruck brachten, waren nicht Abbildungen göttlicher Wesen, sondern rhythmische und formenschaffende Gesetzmäßigkeiten göttlicher Wandlung und Offenbarung. Der Wille zur Umbildung und Metamorphose drang nicht nur in den anschaulichen Formen der keltischen Kunst in den Vordergrund, sondern auch in ihrer Auffassung seelischer und geistiger Wesenheiten. Ein Wesen, ob Gott oder Mensch, war für sie niemals etwas Fertiges, Abgeschlossenes, sondern ewig im Werden, in Entwicklung begriffen.
Die führenden Vertreter des Keltentums wußten, daß auch Götter Taten vollbringen und eine Art von Schicksal besitzen, durch welches sie die Kraft zur Weiter- und Höherentwicklung erringen. Ewig unveränderliche Gottheiten, ein statischer Kosmos, waren dem keltischen Bewußtsein fremd. Während die Griechen zur selben Zeit die Grundlagen der abendländischen Philosophie, des analytischen und logischen Denkens schufen, entwickelten die Kelten eine andere, komplementäre Qualität. Für die Druiden schien es nichts Schlimmeres zu geben als feststehende Definitionen, wie Diodoros von Sizilien berichtet: »Wenn man sich mit ihnen unterhält, reden sie wenig; sie sprechen in Rätseln und zeigen in ihrer Ausdrucksweise eine Vorliebe dafür, das meiste erraten zu lassen. Übertreibungen gebrauchen sie häufig (...).« (Bibliothkê istorikê V, 31.)
Die Möglichkeit der Metamorphose und damit der Entwicklung war nach keltischer Auffassung kraft einer der Schöpfung zugrunde liegenden dualistischen Spannung der Gegensätze von Licht und Finsternis, von Leben und Tod, von Werden und Vergehen gegeben. Die Polaritäten wurden von den keltischen Priestern nicht in abstrakte moralische Kategorien wie »Gut und Böse« gefaßt, sondern als konkrete Seinszustände, Wesenssphären verstanden, die schöpferisch oder zerstörerisch wirken konnten und in ein kosmisches Gleichgewicht gebracht werden mußten.
Diese Lehre fand ihren Niederschlag in den keltischen Jahresfesten: Am 1. Mai wurde Beltaine gefeiert, das Lichtfest der erhabenen Gottheit Lug (kymrisch: Llew, gallisch: Belenus, der keltische Apollon). Es war die Zeit der großen Druidenversammlungen und der Feuerfeste, »Weltenmittag«: »Beltaine, Feuer des Bel, segenreiches Feuer, das heißt ein Feuer, welches die Druiden durch ihre Magie oder durch große Beschwörungen entfachten; und jedes Jahr trieb man die Herden [um sie] gegen die Seuchen [zu schützen] zu diesen Feuern. Sie trieben die Herden zwischen den Feuern hindurch.«
Sechs Monate später, am 1. November, der »Weltenmitternacht« und der Zeit des wichtigsten sakralen Festes Samain ('Vereinigung, Kommunion'), öffneten sich die Pforten der Tír nAill, der »Anderswelt«. Es war die Zeit der Begegnung zwischen den Lebenden und den Toten, zwischen Göttern, Menschen und Dämonen. Die Festeszeit, in der sich alle an heiligen Orten versammeln mußten, begann drei Tage vor und endete drei Tage nach Samain. Diese sieben Tage waren im keltischen Bewußtsein jenseits der Zeit: sie leiteten Neujahr ein, gehörten nicht mehr zum alten Jahr und noch nicht zum neuen. An Samain herrschte die Finsternis: »Groß waren Dunkelheit und Schrecken dieser Nacht, und Dämonen pflegten immer in dieser Nacht zu erscheinen.« Der König erfuhr einen rituellen und symbolischen Tod, auch Götter und Helden starben. Alle Feuer wurden gelöscht. Doch an dem Tag, an dem die Mächte der Finsternis ihre größte Kraft entfalten konnten, wurde durch »den zeugenden Tod« der Keim zu neuem Leben, zur Auferstehung des Entschwundenen, zum Sieg des Lichtes über die Finsternis geschaffen. Samain war deshalb das »Osterfest der Heiden«, wie der christliche Aufzeichner der irischen Ordalien (Gottesurteile) bemerkte.
In den keltischen Sagen wurde zum Ausdruck gebracht, daß der Mensch nur mit Hilfe von Opfertaten und Verwandlungskraft in verschiedenen Daseinswelten zugleich bestehen kann. In der elementarischen Welt, so unterwiesen die Druiden ihre Schüler, herrscht das Gesetz der permanenten Wesensverwandlung sowie der Umkehrung oder Spiegelung physischer Gegebenheiten und Gesetzmäßigkeiten. Wollte der einzuweihende »Held« in dieser verwirrenden Welt sein Selbst bewahren, mußte zuerst er die notwendige Seelenstärke erringen, um allen »Abenteuern« und »Gefahren« siegreich begegnen zu können.
Die in Irland äußerst beliebte Sagengattung der Immrama, der »Seefahrten«, umschrieb die Geschehnisse in der elementarischen und seelischen Welt, dem »wogenden Meer«, in imaginativen Bildern. So schildert die irische Sage Immram curaig Maíle Dúin (»Die Seefahrt des Bootes von Mæl Dúin«) das Gesetz der Wesensverwandlung: »Am frühen Morgen des dritten Tages nahmen sie eine andere Insel wahr, auf der eine metallene Palisade stand, welche die Insel in zwei Hälften teilte. Es gab dort viele Schafherden: eine schwarze Herde auf der einen Seite der Palisade und eine weiße Herde auf der anderen Seite. Und sie sahen einen riesigen Mann, der die Schafe trennte. Immer wenn er ein weißes Schaf über den Zaun zu den schwarzen Schafen warf, wurde jenes sofort schwarz. Ebenso wenn er ein schwarzes Schaf über den Zaun warf, wurde dieses sofort weiß.« Schließlich wirft Mæl Dúin einen schwarzen Zweig auf die Seite der weißen Schafe, wo er weiße Farbe annimmt; als er jedoch einen weißen Zweig zu den schwarzen Schafen wirft, wird dieser schwarz.
Auch dem walisischen Helden Peredur, einem Vorläufer des Parzival, begegnet auf seiner Queste, seiner inneren Suche, diese Imagination: »Und auf der einen Seite des Flusses konnte er eine Herde weißer Schafe sehen, und auf der anderen Seite eine Herde schwarzer Schafe. Und immer wenn ein weißes Schaf blökte, kam ein schwarzes Schaf über den Fluß und wurde weiß; immer wenn ein schwarzes Schaf blökte, kam ein weißes Schaf über den Fluß und wurde schwarz. Und er sah einen großen Baum auf dem Flußufer: Die eine Baumhälfte brannte von der Wurzel bis zur Krone, die andere Baumhälfte trug grünes Laub.«
In der Verwandlungsgabe, der Fähigkeit zur Metamorphose, erblickten die Druiden also eine Grundeigenschaft der göttlichen Schöpfung. Denn »Schöpfung« war ein ununterbrochenes Wirken der Götter, das vom geistig strebenden Menschen stets von neuem forderte, sich den dynamisch-veränderlichen Realitäten der übersinnlichen »Anderswelt« anzugleichen. In diesem Sinne stellte auch die Annahme des Christentums in den Augen der führenden Vertreter des Keltentums keinen Bruch mit der vorchristlichen Religion dar, sondern eine durch die kosmische Fortentwicklung notwendig gewordene geistige Erneuerung, da sich die Erde selbst durch das Opfer Jesu Christi verwandelt hatte. Darum konnte im 6. Jahrhundert n. Chr. der walisische Barde Taliessin die christliche Religion mit den vorchristlichen Lehren verbinden, um anzudeuten, wie die alten Kulte mit dem Erscheinen Jesu Christi ihre Erfüllung gefunden hatten: »Christus, das uranfängliche Wort, war uranfänglich unser Lehrer, und nie sind wir von Seiner Lehre abgewichen. Für Asien war das Christentum etwas Neues; aber zu keiner Zeit ließen die Druiden von Britannien von Seinen Lehren ab.« Dabei hätte sich Taliessin sogar auf den Kirchenvater Augustinus berufen können, der einmal den schönen Satz niederschrieb: »Was man gegenwärtig die christliche Religion nennt, bestand schon bei den Alten und fehlte nicht in den Anfängen des Menschengeschlechts, bis Christus im Fleische erschien, von wo an die wahre Religion, die schon vorher vorhanden war, den Namen der christlichen erhielt« (Retractationes, De vera religione I, 13.3).
In den heiligsten Mysterien des Westens erwartete man den kommenden Weltenerlöser und erzog auserwählte Vertreter des Keltentums in einer gemütdurchdrungenen Adventsstimmung. Die Saga Immram Brain mac Febail (»Die Seefahrt von Bran mac Febal«) schildert, wie dem irischen Helden Bran durch eine geheimnisvolle Frau »aus unbekannten Ländern« auf dem jenseitigen »Meer der Elemente« eine Offenbarung zuteil wird:
»Nach Jahrhunderten wird eine große Geburt erscheinen, aus den Höhen steigt Er hernieder: der Sohn einer Jungfrau ohne Gemahl, König wird Er sein über die vielen Tausend, König ohne Anfang und Ende; die ganze Welt hat Er erschaffen, Sein sind Land und See, wehe dem, der Seinen Zorn auf sich zieht. Er ist es, der die Himmel erschaffen, glückselig die reinen Herzens; reinigen wird Er die Scharen in einem heiligen Quell, Er ist es, der eure Krankheiten läutern wird.
Nicht an euch alle richtet sich meine Rede, obwohl ich große Mysterien enthülle. Unter den Scharen der Welt möge allein Bran lauschen, welche Weisheit ich ihm offenbare. (...) Ein edler Erlöser wird kommen, vom König, der die Himmel erschaffen; ein lichtes Gesetz wird über das Meer kommen, Gott und auch noch Mensch wird Er sein.«
Tatsächlich konnte man in den heiligsten Mysterienstätten des Keltentums das Erscheinen Christi in der Erdsphäre geistig wahrnehmen. Man erahnte die Größe der Opfertat, welche die Gottheit vollbrachte, um aus dem Weltenkosmos in die Aura der Erde einziehen zu können, um als Rí nan Dul (»König der Elemente«) die Elementarreiche zu durchstrahlen.
In dem Manuskript des Lebor Lagin (»Buch von Leinster«, um 1150) ist eine irische Sage erhalten (Version A nach Meyer), die dieses Erleben indirekt widerspiegelt. Die Sage Aided Conchobuir handelt vom Tod des Königs Conchobar von Ulster: Während einer Schlacht dringt Conchobar eine aus Hirn und Kalk gefertigte Kugel in den Kopf, die nicht mehr entfernt werden kann. Aus diesem Grund darf er sich nicht mehr erregen, da er sonst an der Verletzung sterben müßte. »So ging es bis zu dem Tag, an dem er hörte, daß [Jesus] Christus von den Juden gekreuzigt wurde. Dieses Verbrechen brachte die gesamte Natur zum Erbeben. Himmel und Erde bebten (...) »Was bedeutet dies Zeichen?», fragte Conchobar seinen Druiden. »Welch großer Frevel wird heute begangen?» [Und der Druide erzählt Conchobar, daß in diesem Moment in Palästina Jesus Christus gekreuzigt wird.] »Das Wesen, das gerade gekreuzigt wurde, ist in derselben Nacht wie du geboren, aber nicht im selben Jahr.» Da glaubte Conchobar an Jesus Christus. Er ist der eine von zwei Menschen in Irland, die sich vor der Ankunft des Glaubens zum Wahren Gott bekannten.« Conchobar gerät nun derart in Zorn über das Unrecht, das Jesus Christus angetan wird, daß er an seiner Verletzung stirbt.
Eine andere Version dieser Legende aus dem Manuskript Liber Flavus Fergusiorum (Version C nach Meyer) enthält eine bemerkenswerte Variante: Conchobar fragt den Druiden Bochrach aus Leinster um Neuigkeiten, woraufhin dieser antwortet: »Es gibt wahrhaft große Neuigkeiten, die sich im Osten der Welt zugetragen haben, nämlich die Kreuzigung des Königs von Himmel und Erde durch die Juden. Er ist es, den die Seher und Druiden verkündet haben« (is é rotirchansat fáidhi & dráidhthi). Der Druide erzählt Conchobar von Jesus Christus, woraufhin sich der König bekehrt. Danach schildert Version C jedoch fast entschuldigend den gleichen Hergang wie Version A, die offensichtlich die ursprüngliche Überlieferung wiedergibt, und ergänzt: »Von daher sagen die Gaelen, daß Conchobar der erste Heide in Irland war, der in den Himmel aufstieg, denn das aus seinem Kopf schießende Blut taufte ihn. Und dann fuhr Conchobars Seele zur Hölle, bis ihr Christus begegnete, als Er die gefangene Schar [der Menschenseelen] aus der Hölle befreite. So nahm Christus die Seele von Conchobar mit Sich in den Himmel. Man hat gegen diese Überlieferung oft eingewendet, daß es sich hierbei um den späteren Nachtrag eines Mönchs handeln könnte, der die irischen Helden in ein christliches Gewand hüllen wollte. Dies kann natürlich nicht ausgeschlossen werden, aber es ist dennoch äußerst ungewöhnlich und für die Eigenart des irischen Christentums kennzeichnend, daß ein christlicher Mönch den heidnischen Druiden eine geistige Schau der Karfreitagsgeschehnisse zubilligt. Eine vergleichbare Tatsache, daß nämlich die Belehrung über das Zentralereignis der christlichen Religion aus dem Mund eines heidnischen Priesters ertönt, läßt sich in keiner anderen Überlieferung finden.
In einem Vortrag hat Rudolf Steiner auf den Kern dieser Legende gedeutet, hinter der sich die übersinnliche Schau eines Geschehens in der Aura der Erde verbirgt: »Was sich in Palästina wirklich zutrug, das trug sich in hundertfältiger Weise bildhaft zu, ohne daß das Bild das Andenken an Vergangenes war, auf der hibernischen [irischen] Insel. Auf der hibernischen Insel erlebte man in [übersinnlichen] Bildern das Mysterium von Golgatha gleichzeitig, während sich das Mysterium von Golgatha historisch in Palästina zutrug. (...) Das bedeutet die Größe alles dessen, was später gerade ausgegangen ist für die übrige Zivilisation von dieser hibernischen Insel.«
Daß dieser Vorgang ausgerechnet auf Irland eintrat, ist von Bedeutung. Denn die Insel blieb die einzige keltische Region, die von den Römern nicht erobert wurde, obwohl die Römer wiederholt mit dem Gedanken einer Invasion spielten. Tacitus etwa berichtete: »Ich habe oft die Ansicht gehört, daß man Hibernia mit einer einzigen Legion und einigen Hilfstruppen bezwingen und halten könnte. Diese Eroberung würde sich auch für Britannien als vorteilhaft erweisen, da man ihr durch die Allgegenwart der römischen Waffen sozusagen die Sicht der Freiheit entziehen würde« (Agricola XXIV). Die römischen Hegemonialpläne wurden nicht verwirklicht. Dadurch konnte es in Irland zu der einmaligen, weil unverfälschten Begegnung des Christentums mit einem noch intakten keltischen Druidentum kommen. Wandlungsstärke, Opfermut, willenhaftes Streben und tiefe Gemütskraft bildeten den geeigneten Boden für die Annahme eines Glaubens, der auf der »Grünen Insel« nicht in der Tradition, sondern in unmittelbarer geistiger Anschauung wurzelte.