Polesie 1921-1939, Magisterarbeit von Diana Siebert 1990 (original) (raw)

DIE L�NDLICHE WIRTSCHAFT IM POLNISCHEN UND SOWJETISCHEN TEIL DES WEISSRUSSISCHEN POLESIEN (1921-1939)

DIE L�NDLICHE WIRTSCHAFT IM POLNISCHEN UND SOWJETISCHEN TEIL

DES WEISSRUSSISCHEN POLESIEN

(1921-1939):

Ein Vergleich

Hausarbeit zur Magisterpr�fung

an der Philosophischen Fakult�t

der Universit�t zu K�ln

vorgelegt von Diana Siebert Melchiorstra�e 23 5 K�ln 1

Gutachter: Prof. Dr. Andreas Kappeler

K�ln, im September 1990

INHALTSVERZEICHNIS

DIE L�NDLICHE WIRTSCHAFT IM WEISSRUSSISCHEN POLESIEN (1921-1939). Ein Vergleich des polnischen und des sowjetischen Gebiets

1. EINLEITUNG 1 1.1. Fragestellung 2 1.2. Methodische Fragen 7 1.3. Quellenlage und Forschungsstand 12

2. ALLGEMEINE GESCHICHTE POLESIENS VOR 1914 2.1. Der Naturraum Polesien 16 2.2. St�ndische und soziale Verh�ltnisse 17 2.3. Nationale und kirchliche Verh�ltnisse 20 2.4. Politik und Verwaltung 21

3. DIE B�UERLICHE WIRTSCHAFT IN POLESIEN VOR 1914 3.1. Agrarverfassung und Agrarstruktur 22 3.1.1. Die Agrarverfassung 22 3.1.2. Die Agrarstruktur: Bev�lkerung, Grundbesitzstruktur, Dorfverwaltung, Einbindung in die Geldwirtschaft, Siedlungsformen, Flurverfassung, materielle Lage der Bev�lkerung 25

3.2. Die l�ndliche Produktion und Arbeit 31 3.2.1. Melioration als Ma�nahme zur Erh�hung der Anbaufl�che 31 3.2.2. Anteile einzelner Bodennutzungsarten 32 3.2.3. Der Landbau 33 3.2.4. Die Viehhaltung 35 3.2.5. Die b�uerlichen Nebengewerbe 37 3.2.6. Transport als b�uerliche Arbeit 39 3.2.7. Arbeitsorganisation, Arbeitsteilung und Gemeinschafts- arbeit 39

4. DIE EREIGNISSE VON 1917 BIS 1920 4.1. Die Ereignisse in Wei�ru�land unter besonderer Ber�cksichtigung Polesiens 42 4.2. Agrarverfassung und Agrarpolitik 48

5. DER POLITISCHE UND KULTURELLE RAHMEN IN DER BSSR 5.1. Die Politik in der BSSR in der Periode der Neuen �konomi- schen Politik 1921- 1929 53 5.2. Die Politik in der BSSR in der Periode der Zwangskollektivierung 1930-1939 55 5.3. Die �ffentliche Hand auf den D�rfern 56 5.4. Die kulturelle Infrastruktur: Kirche, Sprache, Presse 56 5.5. Die soziale Entwicklung 58

6. DIE B�UERLICHE WIRTSCHAFT IN OSTPOLESIEN 6.1. Agrarverfassung und Agrarpolitik 6.1.1. Die Agrarreform und die Agrarpolitik in der BSSR in den 20er Jahren 60 6.1.2. Die Agrarverfassung und Agrarpolitik im Jahrzehnt der Kollektivierung (1930-1939) 63 6.1.3. Monet�re Politik als Agrarpolitik: Marktquote, Kreditvergabe, Steuerpolitik 67 6.1.4. Agrarpolitik: Landwirtschaftliche Beratung und Agro nomie 70 6.1.5. Agrarpolitik als Melioration 72 6.1.6. Agrarpolitik als Siedlungspolitik 73 6.1.7. Die Rajonierung der BSSR 75

6.2. Die Agrarstruktur in Ostpolesien 6.2.1. Die Bev�lkerung 76 6.2.2. Grundbesitzstruktur und Genossenschaften in den 20er Jahren 78 6.2.3. Die Grundbesitzstruktur in den 30er Jahren 82 6.2.4. Siedlungsform und Flurverfassung 83 6.2.5. Die Einbindung in die Geldwirtschaft 86 6.2.6. Die materielle Lage der Landbev�lkerung 88

6.3. Die l�ndliche Produktion und Arbeit in Ostpolesien 6.3.1. Anteile einzelner Bodennutzungsarten 89 6.3.2. Der Landbau 90 6.3.3. Die Viehhaltung 100 6.3.4. Andere b�uerliche Gewerbe 103 6.3.5. Familienstruktur, Arbeitsorganisation und Arbeitstei lung 108

7. DER POLITISCHE UND KULTURELLE RAHMEN IN WESTWEISSRUSSLAND 7.1. Die Nationalit�tenfrage in Westpolesien 114 7.2. Die politische Landschaft in Westwei�ru�land 116 7.3. Die kulturelle Infrastruktur: Kirche, Schule und Presse 121 7.4. Die soziale Entwicklung in Westpolesien 124 7.5. Die �ffentliche Hand in Westpolesien 125 7.6. Die Grenze 126

8. DIE B�UERLICHE WIRTSCHAFT IN WESTPOLESIEN 8.1. Agrarverfassung und Agrarpolitik 128 8.1.1. Die Agrarreform 128 8.1.2. Agrarpolitik als monet�re Politik: Marktquote, Kreditvergabe, Steuerpolitik 136 8.1.3. Agrarpolitik :Landwirtschaftliche Beratung und Agro nomie 140 8.1.4. Agrarpolitik als Melioration 142 8.1.5. Agrarpolitik als Siedlungspolitik 145

8.2. Die Agrarstruktur in Westpolesien 148 8.2.1. Die Bev�lkerung 148 8.2.2. Die Grundbesitzstruktur 151 8.2.3. Genossenschaften 155 8.2.4. Die Einbindung in die Geldwirtschaft 156 8.2.5. Siedlungsform und Flurverfassung 158 8.2.6. Die materielle Lage der Landbev�lkerung 160

8.3. Die l�ndliche Produktion und Arbeit 161 8.3.1. Anteile einzelner Bodennutzungsarten 161 8.3.2. Der Landbau 162 8.3.3. Die Viehhaltung 166 8.3.4. B�uerlicher Fischfang 172 8.3.5. Andere b�uerliche Gewerbe 174 8.3.6. Transport und Handel als b�uerliche Arbeit 182 8.3.7. Familienstruktur, Arbeitsorganisation und Arbeits teilung 184

9. VERGLEICH UND SCHLUSS 186

ANHANG 10.1. Gebietsreformen in der BSSR 197 10.2. Das Beispiel eines pr�mierten Kolchos 198

11. Tabellen 199

12.1. Wichtige Abk�rzungen und Glossar 227 12.2. Zur Orthographie und Umschrift 230

13. Literaturverzeichnis 231

14. Karten 243

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"Zagljane soncu i u nase akoncu"

Die Sonne wird auch an unserem Fenster vorbeischauen (Bekannter wei�russischer Spruch) 1. EINLEITUNG Hinter dem Wald, im Becken der Prypjac', liegt ein Sumpfgebiet, ein "merkw�rdiges, exotisches Land"1, Polesien2. Diese Region, die heute infolge der atomaren Katastrophe von Cernobyl verseucht ist, schien noch im 20. Jahrhundert von den Errungenschaften der Zivilisation nichts abbekommen zu haben. Die Bewohner Polesiens, die Poleschuken, wie sie sich auch selbst heute nennen3, wurden mit einer kaum zu �berbietenden �berheblichkeit betrachtet: sie wurden als "Eingeborene" im negativen Sinne des Wortes, als "tubylcy" bezeichnet4. Es hie�, in ihren Behausungen stinke es5. Man habe "von Jauche und Dungkonservierung keinen Begriff au�er dem, da� jeder Hof wie eine Jauche aussieht."6 Ihr Bezug zum Boden habe "einen sehr urt�mlichen und zoologischen Charakter"7, dementsprechend soll es sich um einen "Typus eines amphibischen Menschen"8 gehandelt haben; folgerichtigerweise schlug ein ungenannter Wissenschaftler vor, in Polesien ein Reservat zu errichten, das neben Flora und Fauna auch die dort lebenden Menschen umfassen sollte.9

Selbst ein Wei�russe, der in Berlin promovierte, bescheinigte den dortigen Menschen eine "asoziale Veranlagung, entstanden aus seiner jahrhundertealten Lebensart in seiner einsamen H�tte zwischen weiten W�ldern und S�mpfen"10. So verwundert es um so weniger, da� in der Zeit des 2.Weltkrieges, als die deutschen Kriegsstrategen �ber die Rolle Wei�ru�lands nachdachten und verschiedene Wissenschaftler sich mit Wei�ru�land zu besch�ftigen begannen, das "zur�ckgebliebene Menschentum"11 der "Osteuropiden"12 in allen Begriffen der selbsternannten �bermenschen geschildert wurde. Aber nicht nur Deutsche beschrieben die "Rasse" und ihre Sch�delma�e13. Auch Mydlarski beschrieb die angeblichen Rassen mit ihrer angeblichen Durchmischung14. Niezbrzycki verglich die K�rpergr��en15 zwischen Poleschuken und Wei�russen. Auch nach der Entnazifizierung waren die wissenschaftlichen Kenntnisse noch nicht in Vergessenheit geraten: haben wir "es doch gerade im Gebiet der

1Ossendowski 7 2oder auch Polesie

, Poles'e , Palesse <wei�russisch> Polis'se 3Balesy Polis'sja N� 4(8), Juli 1989, S.1f 4z.B. von Niezbrzycki 1930:300; Marczak 1935:38; Grodzicki 1936b:245; ausf�hrlicher �ber das Bild der Polen von Polesien: Tomaszewski 1985a 5B�rgener 1939:53 6Niezbrzycki 1930:309 7Biskupski 21, zitiert in Tomaszewski 1963:83 8Ormicki 1929:236 9Tomaszewski 1963:195 10Kaleko 1929:479 11B�rgener 1939:36 12Rhode 1941:57; B�rgener 1939:44f 13Rhode 1941:57-61 14Mydlarski 1939:24-34, �ber Polesien S.26 15Niezbrzycki 1930:291 </wei�russisch>

Pripets�mpfe, in Polesien, mit einer urt�mlichen, kulturell ganz unentwickelten Bev�lkerung zu tun, die bis in die Zeiten des Zweiten Weltkrieges noch in fast steinzeitlichen Verh�ltnissen lebte".16 Die Konstatierung steinzeitlicher Verh�ltnisse l��t aufhorchen, insbesondere, seit Marshall Sahlins in seinem "Stone Age Economics" von 1972 mit der These aufwartete, da� in der steinzeitlichen Welt die Menschen ihre Arbeit optimaler einsetzen als in der technisierten. Sollte es wirklich im 20.Jahrhundert in Europa noch Enklaven uralter Wirtschaftsweise und Lebenskunst gegeben haben?

Polesien, eine hierzulande fast unbekannte Region, geh�rt im n�rdlichen und mittleren Teil zu Wei�ru�land, im s�dlichen zur Ukraine - die �berg�nge sind flie�end. In der Zwischenkriegszeit war Polesien in eine westliche, zu Polen geh�rende, und eine �stliche, zur Sowjetunion geh�rende H�lfte aufgeteilt. In dieser Arbeit soll die b�uerliche Wirtschaft dieser Region in einem Vergleich untersucht werden.

1.1. Fragestellung Die b�uerliche Wirtschaft vormoderner Gesellschaften kann nicht mit den Methoden der politischen �konomie, das Wirken der einzelnen H�fe nicht mit denen der Betriebswirtschaftslehre ausreichend erkl�rt werden. Dies liegt nicht nur daran, da� die Bauernfamilien die von ihnen produzierten Produkte zum gro�en Teil selbst verbrauchten, also in einer Einnahmen-Ausgaben-Analyse einige Faktoren zus�tzlich ber�cksichtigt werden m�ssen. Vielmehr reicht die Reduktion des Menschen auf den homo oeconomicus in der Untersuchung grunds�tzlich nicht aus. Das Verhalten, auch die Arbeit (das "wirtschaftliche" Verhalten) der Bauern (letztlich �brigens aller Menschen) ist nie nur �konomisch. Was man sich an dem Verhalten der Bauern nicht erkl�ren konnte, wurde leichtfertig als Konservativismus - oder im Falle Polesiens gar als Primitivit�t - der Bauern abgetan; dennoch hatten diese Verhaltensweisen ihre Rationalit�t, ihren Sinn, allerdings nur f�r die Bauern selbst. Weil ein Bauernhof als "ganzes Haus" sich andere Maximen der Produktion als ein Industriebetrieb gab, und weil in der Landwirtschaft unter anderen Bedingungen als in der Industrie produziert wurde, blieb die Institution des b�uerlichen Familienbetriebes auch im 20. Jahrhundert lebendig und wurde daher nicht weg-rationalisiert. Schon Aleksandr I. Cajanov untersuchte einige wesentliche Elemente dessen, was der einzelb�uerlichen Wirtschaft solche Z�higkeit und Stabilit�t verlieh. Es ist wohl nicht nur ein Zufall, da� ausgerechnet ein russisch-sowjetischer

16Scheibert 1962:209f

Agrarwissenschaftler diese Untersuchungen anstellte. Seine Thesen besagen zusammengefa�t: - Auch im Industriezeitalter beherrschen Familienwirtschaften die landwirtschaftliche Produktion. - Diese Wirtschaften k�nnen gerade deshalb besser �berleben, weil sie nicht auf Expansion und �berschu�verwertung zielen, sondern auf die Befriedigung der Bed�rfnisse der Familie: es geht nicht nur um einen maximalen Ertrag, sondern auch um einen minimalen Einsatz, anders gesagt, die Familien wollen die Produktion nicht maximieren, sondern optimieren. - Der Grad der Einbindung der b�uerlichen Familienwirtschaft in die Markt- und in die Geldwirtschaft wird von diesen Produktionszielen negativ beeinflu�t, was wiederum auf die Stabilit�t der Familienproduktion positiv zur�ckwirkt. - Je mehr Konsumenten ("Esser") eine Familie hat, umso mehr Arbeit verschafft sie sich.

Allerdings sind Familienwirtschaft (Produktion einer - nicht unbedingt bluts-verwandten - Familie) und Subsistenzwirtschaft (Produktion, die zur Sicherstellung des Lebensunterhalts der Hofmitglieder n�tig ist) begrifflich zu trennen; nicht immer f�llt das eine Ph�nomen mit dem anderen zusammen.

Die Thesen Cajanovs wurden zwar au�erhalb der Sowjetunion beachtet (in der Sowjetunion selbst wurde Cajanov 1930 verhaftet), aber erst seit den 60er Jahren17 fand �ber sie eine intensivere Diskussion statt. In Zweifel gezogen wurde, ob sich seine an Ru�land gewonnenen Thesen auch auf andere Gebiete �bertragen lassen, in denen z.B. weder die typisch gro�russische Landumverteilungs- und Steuerhaftungsgemeinde, die "obscina",18 noch die Sitte der Realerbteilung existierten, statt dessen aber unterb�uerliche Schichten, Gesindekr�fte oder dergleichen.19 Verschiedene Aspekte wurden in die Diskussion seither eingebracht; sie k�nnen hier nicht dargestellt werden. Ehmer und Mitterauer20 gehen den umgekehrten Weg und untersuchen die Abh�ngigkeit der Familiengr��e von der (gegebenen) Hofgr��e.

Der Hang der Bauernfamilien zur Familien- und zur Subsistenzwirtschaft kann aber nicht allein als ein wirtschaftlicher, sondern mu� auch als ein

17Spittler in Tschajanov 1923=1987, S.X 18In der westeurop�ischen und amerikanischen Forschung �ber die Bauern des russischen Reiches gibt es fast ausschlie�lich Interesse an Gebieten, in denen die obscina existierte, vgl.Eklof 1988 19vgl. Spittler in Tschajanoff 1923=1987,S. XIIf 20Ehmer und Mitterauer 1986:13

gesellschaftlicher begriffen werden; denn er ist Ursache und Ausdruck bestimmter b�uerlicher Strategien. Spittler wies nachdr�cklich darauf hin, da� bisher zwar die spektakul�ren Manifestationen bei der Durchsetzung b�uerlicher Interessen - Bauernbewegungen, Bauernrevolten - in der Historiographie untersucht worden sind21, kaum aber die allt�glichen Strategien22. Diese bestanden nicht in einer Politik (einem vormodernen Lobbyismus), sondern in Passivit�t. Die Bauern informierten ihren Gegenpart, die Verwaltung, nicht oder falsch, zahlten Steuern schleppend, wollten m�glichst wenig mit der Verwaltung zu tun haben. Dies dr�ckte sich wiederum darin aus, da� die Bauernschaft nur m��ig ihre G�ter auf dem Markt verkaufen wollte, denn dies h�tte der Verwaltung Informationen �ber "�bersch�sse" b�uerlicher Produktion gegeben. Auch gegen�ber der Aufnahme von Saatgut- und Geldkrediten waren die Bauernfamilien mi�trauisch, sie verzichteten lieber auf Bareinnahmen. So verst�rkte sich noch der "konservative" Trend zu einem geschlossenen ganzen Haus, in dem Produktion und Konsum nicht genau zu trennen sind. Familienwirtschaft sowie Subsistenzproduktion als Wirtschaftsform einerseits und Passivit�t als b�uerliche Strategie andererseits bedingten und f�rderten sich gegenseitig. Zur Erkl�rung der b�uerlichen Wirtschaft mu� daher deren Totalit�t untersucht werden.

Seit der Ver�ffentlichung von Cajanovs Werk sind �ber 60 Jahre vergangen, und es ist offenkundig, da� seine Thesen in historischer Perspektive beurteilt werden m�ssen. Das "cajanovsche" Verhalten der Bauernfamilien entsprach nicht nur einer bestimmten Agrarverfassung und einer bestimmten wirtschaftlichen Situation sowie entsprechenden sozial�konomischen Strategien, sondern auch einer bestimmten gesellschaftlich-politischen Lage. Allein etwa durch eine andere Subven-tions und Steuerpolitik konnte sich das Verhalten der Bauern �ndern. Dies kam auch in der Debatte dar�ber, ob Cajanovs Modell auf andere Zeiten und Regionen �bertragbar ist, sofort zum Ausdruck. Auch die Bed�rfnisstruktur der Bauern-familien blieb nicht unver�ndert. Vor allem stiegen im 20. Jahrhundert in Europa die Konsumbed�rfnisse der Bauernschaft.23

Erst heute, wo die Ziele der Moderne von breiteren Kreisen hinterfragt werden und nicht mehr als "allgemeingesellschaftlich" gelten k�nnen, wird deutlich, da� in klassischen �konomischen Analysen ein bestimmtes Erkenntnisinteresse herrschte. W�hrend fr�her in der National�konomie wie im Marxismus

21Eine Bibliographie dazu liefert Hildermeier 1979 22Spittler 1983:46 23Spittler in Tschajanoff 1923=1987:XVIIf

allzu unbewu�t das Wohl und Weh der Gesellschaft oder gar des Staates der Bewertungsma�stab der b�uerlichen Wirtschaft war, soll in dieser Arbeit die b�uerliche Wirtschaft auch aus der Perspektive der B�uerinnen und Bauern selbst betrachtet werden, damit die Triebkr�fte der Produktion untersucht werden k�nnen. Dies hat Cajanov schon begonnen, indem er - im Gegensatz zu Smith, Ricardo und Marx - den Bedarf nach Minimierung der Arbeit (oder auch der Arbeitszeit) als eine der Grundmaximen der b�uerlichen Wirtschaft in Rechnung stellte und Kategorien wie "Arbeitsanspannung" und "subjektiv eingesch�tzte Beschwerlichkeit eines Arbeitstages"24 einf�hrte. Aus dieser Perspektive gesehen sind h�here ha-Ertr�ge, eine h�here �berschu�produktion der H�fe an Nahrungsmitteln und die Verwendung moderner Ger�te und st�rkerer Zugkraft keine unmittelbaren Ziele des Wirtschaftens, und - in einem konstrastiven Vergleich - keine positiv zu bewertenden Gr��en. Ma�stab soll vielmehr der Wohlstand und vor allem das Wohlbefinden der Bauern selbst sein.

Noch ein anderer Aspekt soll in dieser Arbeit beleuchtet werden. Erst in den letzten Jahrzehnten wurden nicht nur die Ursachen, sondern auch die wirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Konsequenzen dieser b�uerlichen Grundhaltung analysiert, obwohl doch anzunehmen ist, da� gerade agrarische Gesellschaften und Staaten wesentlich durch das wirtschaftliche Verhalten der Bauernfamilien beeinflu�t wurden. Die Staaten mit modernem Anspruch verfolgten mehr oder weniger einheitlich und konzentriert das Ziel, die Landwirtschaft auf neue Standards zu bringen. Hierbei bissen sich die staatlichen und halb�ffentlichen Organe meist die Z�hne aus, es kam zu konfliktgeladenen Situationen zwischen "Staat" und Bauern. Auch Polen und die Sowjetunion waren in der Zwischenkriegszeit (1921-1939) Staaten, die diesen Anspruch hatten. Zudem waren es neuerstandene Staaten, die sich beide in Polesien an Auswirkungen und Resten der st�ndisch gepr�gten Agrarverfassung abzuarbeiten hatten. Der Bruch, den die Errichtung neuer Staaten mit sich brachte, machte das Modernisierungsvorhaben einerseits leichter, weil eine neue Verwaltung frischen Wind bringen konnte. Andererseits wurde die Verwirklichung solcher Vorhaben in den 20er Jahren dadurch erschwert, da� die Machtzentren dieser Staaten noch wenig regieren konnten, zumal sie - in Wei�ru�land - ohne (vielleicht sogar gegen) den Willen der �rtlichen Bev�lkerung errichtet wurden.

24Tschajanoff 1923=1987:27

Bauern werden - bewu�t oder unbewu�t - oft auch deshalb f�r eine konservative Bev�lkerungsgruppe gehalten, weil die Entwicklungen hin zu den modernen Gesellschaften nicht ihnen zugeschrieben werden; vielmehr ist von den H�ndlern, den Unternehmern, dem Staat selbst, vielleicht allgemein "dem Volk" oder in der leninistischen Variante von den Arbeitern die Rede.25 Wie sah die Entwicklung in Polesien aus, und welche allgemeinen R�ckschl�sse lassen sich aus der Analyse der polesischen b�uerlichen Wirtschaft ziehen?

In Polesien, wo nicht die obscina [siehe hierzu unten], aber die Realerbteilung existierte, f�llt dieser Einbruch der modernen Welt in die b�uerliche Wirtschaft auf allen Ebenen in eine ziemlich sp�te Zeit, vor 1917 wurde dem Sumpfgebiet wenig Beachtung zuteil. Erst in der Zwischenkriegszeit traten die Vorgaben der Modernisierung auf die Tagesordnung. Zun�chst war die zaristische, auch nach der Aufhebung der Leibeigenschaft noch vom St�ndesystem gepr�gte Agrarverfassung aufzul�sen.26 Wie hat sich also die Zugeh�rigkeit zu diesen Staaten auf die Agrarverfassung und Agrarstruktur von Polesien ausgewirkt? Welche Aspekte der Bauernwirtschaft erwiesen sich f�r die traditionelle b�uerliche Wirtschafts- und Arbeitsweise als f�rderlich, und welche als nur oberfl�chlich verwurzelt? Mit welcher Politik und mit welchen geldpolitischen Mitteln versuchten die Staaten, in die b�uerliche Wirtschaft einzugreifen? Wurde die b�uerliche Wirtschaft kapitalisiert, oder �berhaupt st�rker in die Geldwirtschaft eingebunden? Wie wirkten sich Politik und allgemeine demographische und soziale Faktoren auf die Produktion der Bauernfamilien aus? Gab es ein neues Verh�ltnis zwischen Ackerbau, Viehwirtschaft, Waldwirtschaft, Fischerei und anderen Nebengewerben? Wurden neue Ger�tschaften eingesetzt, neue Produktionsmethoden angewandt? Gab es neue Formen der Arbeitsorganisation, der Lebenskunst? Welche Konflikte brachte die Modernisierung oder auch ihr Ausbleiben mit sich? Hatten die Bauern gleiche Interessen, und wenn ja, wie versuchten sie diese durchzusetzen? Welche Ausdrucksformen nahm die b�uerliche Strategie der Passivit�t in Polesien an? Gab es Selbstorganisationsversuche der Bauern?

25Sowohl von den Modernisten als auch von denen, die den Sinn der Stabilit�t der b�uerlichen Produktionsweise betonen, wird gew�hnlich nicht davon ausgegangen, da� sich Agrargesellschaften von innen heraus modernisieren k�nnten. Das mag daran liegen, da� die klassischen Beispiele f�r die Industrialisierung wie England, Frankreich, Deutschland und auch das von Staats wegen industrialisierte Russische Reich, in denen die industrielle Entwicklung von der agrarischen abgekoppelt war, als Paradebeispiele dienten, w�hrend in Europa die skandinavischen L�nder, die L�nder des Habsburgerreiches oder auch die Balkanl�nder vernachl�ssigt wurden.

* In der historischen Analyse ist es schwer, die einzelnen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Faktoren voneinander zu trennen; erst recht gilt dies, wenn wie in dieser Arbeit das Geflecht vieler Einzelaspekte eine Rolle spielt. Da Polesien nun 1921 zwei v�llig unterschiedlichen Staats- und Gesellschaftssystemen zugeschlagen wurde, k�nnen die Fragen aber jeweils an zwei Fallbeispielen gestellt werden. Ein kontrastiver Vergleich von zwei Gebieten mit gleichen geographischen und historischen Bedingungen, aber unterschiedlichen struktur- und landwirtschafts-politischen Umst�nden ist daher besonders zu dieser "Faktorenisolierung" geeignet; denn das Allgemeing�ltige und tief Verwurzelte in der Bauernwirtschaft m��te - eben durch die Vergleichsm�glichkeit - von den "oberfl�chlichen" politischen Faktoren trennbar sein. Geschichtsschreibung oder �berhaupt wissenschaftliche Analysen werden meist nur dann f�r g�ltig gehalten, wenn "das Faktische" zur St�tzung von Hypothesen anerkannt wird. Demgegen�ber erscheinen Hinweise, ein Geschehen, eine Entwicklung h�tte auch anders ablaufen k�nnen, als spekulativ, es gen�gt der Hinweis, so sei es nun einmal eben nicht geschehen. Auch in dieser Hinsicht bietet ein kontrastiver Vergleich etwas, da zwei tats�chliche Entwicklungen gegen�bergestellt werden k�nnen und nicht nur eine tats�chliche einer hypothetischen.

1.2. Methodische Fragen Ein kontrastiver Vergleich erfordert bestimmte Methoden. Zuerst mu� vor diesem Vergleich herausgestellt werden, da� die verglichenen Teile sehr �hnliche Voraussetzungen aufweisen. In dem konkreten Fall der vorliegenden Arbeit mu� also gezeigt werden, da� Ost- und Westpolesien in der Zarenzeit nahezu gleiche politische, soziale und wirtschaftliche Bedingungen aufwiesen. Zweitens m�ssen die zu vergleichenden Teile auf eine m�glichst gleiche Art beschrieben und analysiert werden, damit die Vergleichbarkeit nicht darunter leidet. * Dies ist der erste Grund, warum eine �berschaubare (wenn auch mit 60.000 - 100.000 km� fl�chenm��ig gro�e) Naturregion gew�hlt wurde: der gew�hlte Raum

26Cajanovs Beobachtungen gelten nicht mehr f�r die heutigen durchkapitalisierten Bauernwirtschaften der 1. und 2. Welt, in denen im anteilig immer bedeutungsloseren Agrarsektor haupts�chlich f�r den Markt oder den sogenannten Plan (besser: f�r die staatliche Verwaltung) produziert wird, und in denen die soziale Mobilit�t der B�uerinnen und Bauern weitaus gr��er ist. Dieser Zustand ist aber auf unterschiedlichen Wegen hergestellt worden. Es ist daher interessant, den Einbruch der modernen Welt auch unter diesem Aspekt des �bergangs zur heutigen b�uerlichen Wirtschaft zu betrachten. Dies soll in der vorliegenden Arbeit aber nicht ausdr�cklich geschehen.

sollte ein m�glichst gro�es Ma� an Homogenit�t aufweisen. Hier bot sich Polesien an. Zweitens wurde eine bestimmte Region gew�hlt, weil "Regionalstudien am ehesten geeignet sind, komplexe gesellschaftliche Beziehungen zu erfassen"27; denn der Reichtum des Konkreten braucht durch die Analyse nicht allzu sehr eingeebnet zu werden. Drittens ging ich davon aus, da� ein bestimmter Naturraum auch bestimmte Wirtschaftsweisen beg�nstigt; die nat�rlichen Begebenheiten stellen bis ins 20.Jahrhundert hinein einen kaum Ver�nderungen unterliegenden Faktor dar (hierzu ist auch die Best�ndigkeit von Ver�nderungen zu rechnen; vgl. Karte #6 der Flu�lauf�nderungen der Prypjac' bei Cernobyl im Anhang); daher w�hlte ich das Prypjac'-Becken als Bezugsraum und nicht ein Staatsgebiet, ein Agrarverfassungsgebiet oder ein Ethnikum; allerdings gibt es auch in diesen Bereichen zwischen Ost- und Westpolesien starke �bereinstimmungen. * Unter dem Gebiet Polesien werden gleichwohl sehr unterschiedliche Terrains verstanden, da es keine markanten geographischen und ethnographischen Grenzen gibt.28 Im Polen der Zwischenkriegszeit wurde von Polesien als einem Dreieck auf der Landkarte gesprochen, das im Westen mit Brest eine Spitze bildet und im Nordosten mit Mahile� und S�dosten mit Kyiv begrenzt sei29; diese Festlegung geht aber ziemlich eindeutig von den Begrenzungen durch die Eisenbahnlinien aus. Obrebski gliedert die Gebiete um Drahicyn und Kobryn im S�den Polesiens aus30. Pietkiewicz kennt auch ein Polesien bei Recyca31. In Balesy Polis'sja32 werden verschiedene Angaben �ber die Grenzen des Dialektes der Poleschuken auf einer Karte aufgef�hrt, die aber alle die Gebiete nord�stlich der Linie Mazyr-Tura�-Luninec-Ivacevicy aus dem Gebiet ausgrenzen. W�hrend alle diese Festlegungen die Gebiete �stlich ("links") des Dnepr nicht zu Polesien rechnen, darf es dennoch nicht verwundern, wenn im B�rgerkrieg Homel' das Zentrum des Polesskij Komitet der Kommunistischen Partei darstellte33. B�rgener und Kazakov sehen Polesien eher als Rechteck, das ein sehr gro�es Gebiet von 80.000-100.000 km� umfa�t34, welches ungef�hr je zur H�lfte damals zu Polen und zur Sowjetunion geh�rte und �ber die Grenzen der Wojewodschaft Polesien (Polen) und der Okruge Mazyr und R�cyca (BSSR) hinausging. Diese Fl�che entspr�che in etwa, wenn auch nicht hundertprozentig35, dem Prypjac'-Becken und soll in dieser Arbeit unter Polesien verstanden werden.

27Ehmer und Mitterauer 1986:8 28vgl. Karte #1 im Anhang 29Librowicz 1923:373f; Pruchnik 1932:300; Niezbrzycki 1930 30Obrebski 1936b:Karte 31Pietkiewicz 1938 32Nr. 2(6),Mai 1989,S.4f 33etwas Orientierung bietet Karte #1 im Anhang 34B�rgener 1939:Abb. S.14; Kazakov 1953:4 35Kazakov 1953:3

Wenn die Wahl eines Naturraums aus prinzipiellen Erw�gungen erfolgte, so beschr�nke ich mich auf das wei�russische Polesien aus rein pragmatischen Gr�nden: es w�re noch mehr Aufwand gewesen, neben den wei�russischen und den allgemein polnischen bzw. allgemein russischen Texten und Statistiken verschiedener Disziplinen noch die ukrainischen systematisch heranzuziehen.

Unter b�uerlicher Wirtschaft wird - gem�� dem "ganzheitlichen" Ansatz - all das verstanden, was die m�nnliche und weibliche Landbev�lkerung in allen Jahreszeiten unternahm, um ihr Auskommen zu sichern, ihren Haushalt zu stabilisieren. Es handelt sich also nicht nur um Landwirtschaft im engeren Sinne (Ackerbau plus Viehzucht), sondern auch um Wald- und Wasserwirtschaft, Hausarbeit und Hausindustrie, b�uerlichen Transport und Handel. Der russische Begriff sel'skoe chozjajstvo (w�rtlich etwa: Dorfwirtschaft) trifft das, was gemeint ist, recht gut. Ausgeklammert ist in dieser Arbeit die Er�rterung der Wirtschaft der Gutsh�fe, die nur den polnischen Teil betreffen w�rde.

Mit der Analyse der b�uerlichen Wirtschaft in Polesien, unter welcher Fragestellung auch immer, wird der Gro�teil der Wirtschafts- und Sozialgeschichte dieser Region ber�hrt. Eine vollst�ndige Untersuchung der wirtschaftlichen und sozialen - und damit eigentlich auch nationalen - Beziehungen in Polesien m��te aber auf jeden Fall auch die Juden, die als St�dter in Handwerk und Handel und als Arbeiter t�tig waren, miteinbeziehen.36 In der vorliegenden Arbeit ist diese Problematik ausdr�cklich ausgeklammert worden.37

Wie bei jeder kontrastiv vorgehenden Arbeit gab es Gliederungsprobleme. Eine direkte Gegen�berstellung einzelner Aspekte der b�uerlichen Wirtschaft h�tte zwar den Vorteil unmittelbarer Vergleichbarkeit gehabt, aber die Entwicklung in den beiden Gebieten w�re beim Lesen nur schlecht nachvollziehbar gewesen. So wurde die Arbeit in folgende Abschnitte eingeteilt: in den Kapiteln 2 und 3 wird

36Halpern bedauert, da� Obrebski sich an diese Aufgabe nicht herangemacht hat (Obrebski 1976:5) 37Es werden auch verschiedene umstrittene Fragen, die im Zusammenhang mit Polesien gew�hnlich gestellt werden, nur soviel als n�tig Beachtung finden, wie etwa die, ob die Poleschuken ein eigenes Ethnikum bilden und eine eigene Spra-che sprechen, also auch, warum sie in Volksz�hlungen bald als Wei�russen, bald als Ukrainer, bald als Polen und dann wieder als "Hiesige" bezeichnet werden. Selbst die Frage, ob, und wenn ja, wie der Landwirtschaft betreibende verarmte Adel sich ethnisch zuordnete und warum, ob er ein eigenes Selbstbewu�tsein pflegte und ob er sich im Wirtschaftsstil von den gar nicht mal �rmeren Kollegen aus dem Bauernstand unterschied, bleibt unbeachtet.

die Ausgangsbasis der b�uerlichen Wirtschaft im Zarenreich geschildert und dort, wo es das Material gestattete, verglichen, ob West- und Ostpolesien wirklich �hnliche Voraussetzungen aufwiesen. Nach einer knappen Schilderung der Ereignisse im B�rgerkrieg (Kapitel 4) werden in den Kapiteln 5 und 6 bzw. 7 und 8 die Entwicklungen der b�uerlichen Wirtschaft in Ost- bzw. Westpolesien einzeln nachvollzogen; in Kapitel 9 werden in einem Zuge der Vergleich durchgef�hrt und die Schlu�folgerungen gezogen.

W�hrend in dem Kapitel �ber die b�uerliche Wirtschaft in der Zarenzeit zuerst Agrarverfassung und -struktur beschrieben werden, danach die sich darauf beziehende Politik und zuletzt die b�uerliche Produktion, stellt f�r die Zwischenkriegszeit die jeweilige Landwirtschaftspolitik und die durch sie geschaffene Verfassung (Kapitel 6.1. bzw. 8.1.) den Ausgangspunkt zur Herausbildung einer neuen Agrarstruktur dar (Kapitel 6.2. bzw. 8.2.); dadurch werden dann wiederum Form und Inhalt der Produktion ver�ndert (Kapitel 6.3. bzw. 8.3.). Form und Inhalt der Produktion sollen als ein Ergebnis der materiellen und sozialen Lage geschildert werden.

Es war mir unm�glich, auf allgemeine Bemerkungen zur wei�russischen Geschichte der Zaren- und Zwischenkriegszeit zu verzichten und vorzugeben, als seien die Inhalte in Handb�chern gut zug�nglich38. In den einzelnen Hauptabschnitten werden daher unter besonderer Ber�cksichtigung der landwirtschaftlichen Fragestellung allgemeine Entwicklungen nachvollzogen. * In dieser Arbeit werden viele Zahlen, Tabellen und Statistiken aufgef�hrt werden, daher sollen schon an dieser Stelle kritische Bemerkungen zu diesem bekannten Thema vorangestellt werden. Heute ist es zwar mit Hilfe der EDV leicht, Rechenfehler in den Statistiken aus der Vorkriegszeit nachzuweisen (etwa, wenn die Summe einer Zahlenreihe nicht dem als "Summe" ausgewiesenen Wert entspricht) und widerspr�chliche Angaben nachzuweisen. Im Bereich Landwirtschaft spiegeln Statistiken aber oft ein v�llig falsches Bild wieder; f�r Polesien gilt dies in besonderem Ma�e, da nicht einmal gesagt werden kann, ob eine Fl�che als Wasser oder als Sumpf, als Weide oder als Sumpf, als �dland oder als Nutzland, als Weide oder als langj�hrigige Ackerbrache zu bezeichnen ist.

38In englischer Sprache gibt es die Standardwerke von Vakar 1956 und Lubachko 1972

Einige Aspekte der Schwierigkeiten, Statistiken zu bewerten, sollen hier aufgef�hrt werden:

A. Die Ersteller von Statistiken �ber Regionen Wei�ru�lands ber�cksichtigen wissentlich oder unwissentlich oft nicht, da� Gebiete, auf die sie sich beziehen, durch Gebietsreformen ver�ndert wurden. Oft ist zum Beispiel von 22 Kreisen [uezden], die in die BSSR eingegangen sind, die Rede, obwohl die BSSR-Grenzen und die Grenzen fr�herer uezde nicht identisch waren. Es werden sogar zuweilen die kleine Zwischenkriegs-BSSR und die gesamte BSSR in den Grenzen des wiedervereinigten Wei�ru�lands ab 1939 kommentarlos nebeneinandergestellt39. B. Oft finden sich widerspr�chliche Angaben in den Werken. Ein Beispiel: Der Perspektivplan zur Entwicklung der Land- und Waldwirtschaft der BSSR bringt auf Seite 360, da� 1925 41.825 Desjatinen mit Lupinen bebaut wurden, auf S.336 dieses Rahmenplans ist dagegen von 49.900 ha die Rede, was nicht dasselbe ist.40 C. Vor allem ergeben sich Widerspr�che und andere Merkw�rdigkeiten in Statistiken oft daraus, da� die befragten Menschen falsche Angaben machten. Auch dies ist nur in Grenzen rechnerisch aufsp�rbar. Wichtig ist daher zu erkunden, welche Daten von den Betreffenden aus welchem Interesse verheimlicht oder �bertrieben wurden. In der Landwirtschaftsstatistik lassen sich grob drei Interessengruppen trennen: 1. Die Auftraggeber der Statistik mit ihrem Interesse, besser zu planen. 2. Die mit der Erhebung und Verarbeitung der Statistiken Beauftragten. 3. Die Bauernfamilien oder �berhaupt die Erhobenen als Betroffene mit dem Interesse, Steuern zu sparen und Subventionen zu erhalten. Innerhalb der einzelnen Gruppen kann es noch gegens�tzliche Interessen je nach Stufe in der Hierarchie geben. Dabei werden die quantitativen Verzerrungen in den Angaben nicht immer in der gleichen Richtung erfolgt sein. Ein Beispiel: Wird die gesamte Bodenfl�che besteuert, so wird von den Bauern eine kleinere Bodenmenge angegeben; der ha-Ertrag in der Statistik w�rde wachsen. Werden aber die Produkte besteuert, so wird ein nicht �ber die B�cher laufender Schwarzhandel beg�nstigt. In den Statistiken w�rden niedrigere Produktionsmengen und damit - bei gleicher Saatfl�che - auch niedrigere Hektarertr�ge auftreten. Die M�ngel in den Statistiken spiegeln also direkt die Informationsm�ngel der Verwaltung wieder, an denen die Bauern ein gro�es Interesse haben.41 Zudem ist ein Vergleich auch unverf�lschter Ziffern �ber Bruttoertr�ge und �ber Preise nicht unmittelbar aussagekr�ftig.42

39z.B. in Razvitie II 1975:156 40Perspektivnyj plan 1927:360,336 41vgl. Spittler 1983:49f 42vgl. Nove 1985:333f

Trotz ihrer offenkundigen M�ngel stellen Landwirtschaftsstatistiken dasjenige Moment dar, mit dem die beiden Gebiete unmittelbar verglichen werden k�nnen. Denn es reicht ja nicht, das Empfinden der Bauernschaft oder ihrer Beschreiber heranzuziehen und mit unpr�zisen Begriffen wie "�berproduktion", "Bauernhof mittlerer Gr��e", "eine armselig dahinvegetierende Familie", "ein betr�chtlicher Ernteertrag" "eine m�hsame Arbeit" usw. zu arbeiten. Da bei der vorliegenden Arbeit nicht bei jeder Statistik einzeln eine Quellenkritik vorgenommen werden wird, sollen die eben angef�hrten Bemerkungen solche vorbeugend ersetzen.

1.3. Quellenlage und Forschungsstand Westliche Historiographie In der westlichen Historiographie wurden Wei�ru�land und die Wei�russen aus verschiedenen Gr�nden wenig beachtet. A. Erstens bildete sich keine nennenswerte wei�russische Exilhistoriographie heraus. Es gibt weniger Wei�russen als etwa Ukrainer oder Gro�russen, und die Wei�russen waren im Exil auf einzelne Orte in Europa, Amerika und Australien verstreut; so gab oder gibt es wei�russische Exilzeitschriften in Sydney, South River, London, Toronto, New York, Paris, M�nchen, Backnang, Windsberg, Stuttgart, Berlin; den meisten Zeitschriften war keine lange Lebensdauer beschieden. Da zudem die wei�russische Bewegung immer sehr schwach war und es traditionell keine "Hohe Gesellschaft" der Wei�russen gab - die Wei�russen waren ein Bauernvolk -, gedieh die Historiographie nicht so gut. Mit wissenschaftlichem Anspruch tritt das Journal of Byelorussian Studies (bisher 5 B�nde) hervor; in den 50er Jahren erschien beim Institut zur Erforschung der UdSSR in M�nchen der Belaruski Zbornik und die englischsprachige Zeitschrift Belorussian Review. B. Zweitens gilt die Geschichte Wei�ru�lands als langweilig. Wiederholte sich in der BSSR nicht - etwas abgewandelt - das, was in der ganzen Sowjetunion geschah? Wenn schon eine Regionalstudie durchgef�hrt wurde, wollte man sich mit den "eigentlichen Russen" besch�ftigen. So befassen sich die f�hrenden westlichen Osteuropa-Zeitschriften nur selten mit Wei�ru�land, die Zahl der Artikel l��t sich �ber Jahrzehnte hinweg an einer Hand abz�hlen; auch Monographien fehlen, es gibt im wesentlichen die �bersichten von Vakar [Vakar 1956] und Lubachko [Lubachko 1972] sowie den Band "Byelorussian Statehood" �ber die Ereignisse um die wei�russische Republik 1918 und danach [Kipel 1988]. Diese Materialien sind zur Erforschung Polesiens als einem Teilgebiet Wei�ru�lands wenig ausreichend.

Materialien aus der BSSR in der Zeit bis 1939 Es ist nicht mit Bestimmtheit zu sagen, wie viele und wie wertvolle Dokumente in den Archiven der BSSR erhalten sind. Das Staatliche Archiv f�hrt Zweigstellen auch in kleineren St�dten Polesiens, die nicht einmal oblast'-Hauptst�dte sind, wie z.B. Pinsk, Kobryn und Mazyr44. Aus den Zitaten der BSSR-Historiker ist zu schlie�en, da� eine angesichts der Verh�ltnisse (Provinz, Stalinismus, zwei Weltkriege) beachtliche Materialgrundlage erhalten blieb. W�hrend in der Bewertung durch die polnischen Zeitgenossen die Suche nach dem Anderen, dem Eigent�mlichen der polesischen Verh�ltnisse �berwiegt, war f�r die Sowjetautoren das Gemeinsame und das Verbindende zwischen Polesien einerseits und Wei�ru�land und �berhaupt der Sowjetunion andererseits herauszustellen. Es finden sich keine drastischen Beschreibungen �ber eine ganz besondere R�ckst�ndigkeit der Poleschuken oder der polesischen Wirtschafts- und Gesellschaftsformen. Als Quelle verwendbar ist das Material, das in den 20er Jahren aus praktischen und politischen Zwecken �ber die wei�russische Wirtschaft von den staatlichen Stellen gesammelt wurde; es handelt sich nicht nur um unkommentierte Statistiken. Herausragend ist ein "Perspektivnyj plan razvitija sel'skogo i lesnogo chozjajstva BSSR na 1925/26-1929/30 g." �ber 960 Seiten, eigentlich ein vorweggenommener F�nfjahresplan, der optimistische, aber noch nicht voluntaristische T�ne anschl�gt45. Der "echte" F�nfjahresplan, Teil des unionsweiten Plans, bringt bedeutend weniger konkrete Vorgaben und Orientierungen zu land- und forstwirtschaftlichen Fragen46. Ab 1930 allerdings sind die Materialien aus der BSSR voller F�lschungen oder uninteressant, da sie die Probleme und Tatsachen verschweigen. �berhaupt werden sie rarer und sind schwer zug�nglich.

Sowjetgeschichtsschreibung Die traditionelle kontrollierte und zensierte Geschichtsschreibung der Sowjetunion erfuhr bei ihrem Anliegen, die Sowjetunion positiv herauszustellen, die �blichen Schwierigkeiten: je nach Generallinie der Partei hatte die Geschichte neu bewertet zu werden. Die Geschichte der BSSR in den 20er Jahren wurde bis zur Unkenntlichkeit vereinfacht, die damals gef�hrten Auseinandersetzungen um die Agrarfrage ausgeblendet und Ministernamen aus den Lexika gestrichen. Bis 1956 durfte die T�tigkeit der 1938 von der KomIntern aufgel�sten KPZB (wie auch der KPP und der KPZU) noch nicht einmal erw�hnt werden.47 Aber auch nach 1956 blieben

44Gosudarstvennye archivy 1989:24-28,32-34 45Perspektivnyj plan 1927 46Pjatiletnyj plan 1929:1-72 47Leanavec 1986:65

die Arbeiten schematisch und angesichts der Gr��e der "wei�en Flecken" oft geradezu punktuell. Dennoch ist man f�r eine Magisterarbeit auf die Sekund�rliteratur aus der BSSR angewiesen, in der Archivmaterialien verwertet werden, und ohne die zu vielen Themen �berhaupt nichts zu erfahren w�re. Wenigstens �ber Ma�nahmen im polnischen Teil Wei�ru�lands berichtete die BSSR-Historiographie etwas umfassender.48 Die sich f�r Wei�ru�land interessierenden alternativen Geschichtsschreiber wie Ales' Adamovic und Z.Paznjak befassen sich mit den Massenmorden der Stalinzeit, besonders mit dem Massenlager in Kuropaty bei Minsk.49 Ihre Arbeiten wie auch die ersten perestrojka-gepr�gten aus dem Wissenschaftsbetrieb zeichnen die politische Geschichte nach und k�nnen f�r diese Arbeit nur am Rande dienlich sein.

Zeitgen�ssische Texte aus Polen Aus der Zwischenkriegszeit sind aus Polen haupts�chlich polnische Materialien erhalten, die Wei�russen durften nur wenige Zeitschriften herausbringen. Unter den polnischen Quellen sind folgende erw�hnenswert: A. Landeskundliche Schriften hatten wenige methodische Zw�nge, aber ihre M�ngel ergeben sich nicht so sehr aus ihrer wenig wissenschaftlichen Herangehensweise, als vielmehr daraus, da� sie, wie auch oft in der Ethnologie �blich, ihre Betrachtungen nicht in einen historischen Kontext stellen. Konkret besteht die Gefahr darin, da� irgendwelche Sitten oder auch geographischen Eigent�mlichkeiten der Menschen auch dann noch als gegenw�rtig beschrieben werden, wenn sie es in Wirklichkeit schon nicht mehr sind; zudem besteht noch mehr als bei anderen Wissenschaften die Gefahr, da� Eigent�mlichkeiten der betreffenden Region generalisiert oder �bertrieben werden, um das Leserinteresse zu wecken. Die Autoren stellten heraus, da� vieles r�ckst�ndig und beim Alten geblieben war, versuchten jedoch nicht herauszufinden, was sich ge�ndert hatte. B. Ein Gl�cksfall ist, da� sich der polnische Ethnologe Obrebski n�her mit (West-)Polesien befa�t hat. C. Eine weitere Quelle stellen die halbamtlichen Provinzzeitschriften dar, die besonders in den 30er Jahren zur Unterst�tzung der Warschauer Politik herausgegeben wurden. Diese zeitgen�ssischen polnischen Quellen unterscheiden sich durch gr��ere Heterogenit�t und die teilweise Kritik an staatlichen Ma�nahmen stark von den

48Einen �berblick �ber die Sowjethistoriographie �ber Westwei�ru�land in der Zwischenkriegszeit gibt Leanavec 1986 49Adamovic 1989

sowjetischen Quellen. Aus den polnischen Texten ist eher die Beschreibung der Produktion der b�uerlichen Wirtschaft verwendbar, w�hrend in den Sowjetquellen mehr Hinweise zu Agrarverfassung, -politik und -struktur enthalten sind.

Polnische Historiographie Die Darstellung von Fragen, die die ehemaligen Ostgebiete des polnischen Staates, die sogenannten "kresy", u.a. also auch Westwei�ru�land betreffen, ist an sich nur bis 1956 in der polnischen Historiographie ein Tabu gewesen. Dagegen unterlag die Bewertung und die entsprechende Themenauswahl noch l�ngere Zeit hindurch Beschr�nkungen50, aber selbst davon ist z.B. in den Arbeiten Tomaszewskis, des Spezialisten f�r Fragen der Wirtschaft und der Minderheiten in der 2. polnischen Republik, wenig zu sp�ren.

Beschreibungen Wei�ru�lands von Deutschen im 1. und 2. Weltkrieg Schon im ersten Weltkrieg wurden deutsche Wissenschaftler, vorwiegend Geographen (Bernhardt Brandt, Rebhann, J�ger, Curschmann, Zechlin) auf Wei�ru�land aus dem schlichten Grund aufmerksam, da� deutsche Truppen den westlichen Teil Wei�ru�lands erobert hatten; dadurch wurden die Wei�russen als Volk wahrgenommen, allerdings wurde viel Falsches berichtet. In Friedenszeiten lie� das Interesse nach, als aber im 2. Weltkrieg die nationalsozialistischen Truppen Minsk erobert hatten, erschienen verschiedene Aufs�tze unterschiedlicher Qualit�t (Vaatz, Hasselblattt, Rhode, Wehde-Textor, Scheibert, B�rgener, Regel). Aus den Schriften ragt die Monographie von Engelhardt heraus; unterhalb der nationalsozialistischen Terminologie ist in diesem Werk ein echtes Interesse am Schicksal der "Wei�ruthenen", wie sie damals auf deutsch genannt wurden, erkennbar. * F�r den polnischen und den sowjetischen Teil ist die Quellenlage also unterschiedlich: W�hrend f�r den polnischen landeskundliche Materialien �berwiegen, gibt es f�r den sowjetischen nahezu ausschlie�lich landwirtschaftliches Material aus der staatlichen Perspektive.

50z.B. besch�ftigte sich A.Bergman nur mit Biographien linker wei�russischer Politiker

2. ALLGEMEINE GESCHICHTE POLESIENS VOR 1914

2.1. Der Naturraum Polesien Das ganze Prypjac'-Becken erhielt sein oberfl�chengeologisches Gepr�ge dadurch, da� das Wasser eines "riesigen Gletschers"51 zum Ende der Eiszeit nach Osten hin abflo�. Das geringe Gef�lle der Fl�sse (die Prypjac' f�llt �ber 500 km hinweg von 132,8 m �.d.M. bei der Pina-M�ndung auf 88 m bei der Dnepr-M�ndung52) ruft alle typischen Erscheinungen hervor wie starkes M�andrieren, unberechenbare Ver�nderungen der Flu�l�ufe und "faule" Seitenarme, die nur sporadisch Zu- und Abflu� haben.53 Bezeichnend ist daher der Name eines Nebenflusses der Prypjac', Stochod ("Hundertlauf"). Sogar die Wasserscheide mancher Fl�sse �ndert sich, anders gesagt, es ist schwer, die Flie�richtung �berhaupt zu ermitteln54. Daher sind manche Fl�sse nicht einmal eindeutig zu identifizieren ; dies schlug sich in unterschiedlichen Namen f�r verschiedene Abschnitte ein- und desselben Flusses nieder: so hei�t die Prypjac' vor Pinsk Strumen, weiter oberhalb aber wieder Prypjac'. Und an der Stelle, an der der Stochod in die Prypjac' flie�t, ist er breiter und wasserreicher als der Hauptflu�. Angesichts des langsamen Abflusses gehen die Fl�sse entsprechend breit �ber die Ufer, wenn die Tauwetterperiode beginnt. Die Prypjac' f�hrt Ende M�rz/ Anfang April gew�hnlich Hochwasser und ist von Anfang Dezember an 4 bis 4 1/2 Monate lang vereist. In der Hochwasserzeit ist sie stellenweise 8-15 km breit und wirkt angesichts der langsamen Flie�geschwindigkeit wie ein riesiger See55. Dieses hydrologische System beg�nstigt die Moorbildung. Moorlandschaften machten einen erheblichen Teil Polesiens aus. Durch die Gew�sser und S�mpfe waren manche Orte bei Hochwasser von der Au�enwelt abgeschnitten56. Man unterscheidet zwischen Niedrig-, �bergangs- und Hochmooren. Hochmoore entstehen dadurch, da� die Torfschichten sich im Lauf der Zeit �bereinanderschichten; sie sind in Polesien aber sehr selten57. Die trockenen B�den sind sehr sandig; ein betr�chtlicher Teil der Fl�che Polesiens ist, wie der Name schon andeutet, von Wald bedeckt gewesen. In dieser Landschaft, die gewisse �hnlichkeiten mit dem Spreewald aufweist58, erhielten sich aufgrund der geringen Bev�lkerungsdichte und den geringen Eingriffen in die Landschaft alle m�glichen Arten von wilden S�ugetieren und V�geln, aber auch von Insekten59, die den Menschen eine Qual waren.

51J�ger 1919:14 52Kazakov 1953:8 53vgl. Karte #6 im Anhang 54B�rgener 1939:27 55Kazakov 1953:9; B�rgener 1939:29 56B�rgener 1939:29 u.v.a.m. 57Atlas BSSR 1958:77f; Dabowska 1939:89; B�rgener 1939:Karte 1 58B�rgener 1939:36 59B�rgener 1939:37

Tabelle 1 In Polesien existieren in etwa folgende Bodenarten: �������������������������������������������������������������ͻ [Kazakov 1953:13] Trockene und mittelfeuchte mineralische Sandb�den 21% �berfeuchte mineralische Sandb�den 23% Mineralische Karbonb�den 16% Organisch-mineralische Alluviumb�den 2% Schlammige Sumpfb�den aller Art 8% Torfb�den 29% �������������������������������������������������������������ͼ Da viele �berg�nge von einer Bodenart zur anderen existieren, bereitet die statistische Erfassung der Bodenarten jedoch Schwierigkeiten. In sowjetischen Statistiken ist z.B. von 37% echten Sumpfb�den und sogar von 62% versumpften B�den und Sumpfb�den zusammen die Rede; dies r�hrt daher, "da� die sowjetische Statistik nur auf der administrativ-wirtschaftlichen Berechnung der Bodenparzellen beruht, wobei dann der versumpfte Boden oft in die Rubriken Weide und Wald eingeordnet wird".60 Es leuchtet ein, da� ein Naturraum mit solch markanten Eigenheiten auch einen speziell angepa�ten Wirtschafts- und Siedlungsraum hervorrief. Der Anteil der Wald- und Fischwirtschaft d�rfte verh�ltnism��ig hoch gewesen sein, f�r den Ackerbau hingegen waren diese Voraussetzungen hinderlich. Das unwegsame Gel�nde verursachte hohe Frachtraten, minderte Ex- und Import von G�tern. Fremde Heere wagten sich nicht gerne in dieses abgelegene Gebiet.61

2.2. St�ndische und soziale Verh�ltnisse Polesien hatte bis 1772 zur polnisch-litauischen Adelsrepublik geh�rt und war nach den drei polnischen Teilungen direkt ins Russische Reich eingegliedert worden, d.h. es geh�rte nicht zum Kgr. Polen, das innerhalb des Russischen Reiches einen besonderen Status hatte. Wei�ru�land und erst recht Polesien waren bis vor dem 1.Weltkrieg kaum industrialisiert worden; in den St�dten lebten die Menschen von Handel und Handwerk. Entsprechend gering war der Verst�dterungsgrad. In Polesien waren die typischen, vorwiegend von Juden besiedelten Marktorte, die sogenannten Stetl [mjast�cki], bis 1858 nicht sonderlich gewachsen. Uralte Orte wie z.B. Tura�, Brest, Kobryn, Pinsk, Mazyr, Brahin, die gr��tenteils im 10.-13. Jahrhundert gegr�ndet worden waren62, z�hlten immer noch wenige Hundert oder Tausend Einwohner; erst nach 1880 (nach dem Eisenbahnbau) stieg die Einwohnerzahl dieser Orte63. Die jeweils gr��ten St�dte Westpolesiens (Brest) und Ostpolesiens (Homel') liegen schon am Rande des Gebietes.

60Kazakov 1953:16 61Biegun 1982:12 62Zagorul'skij 1979:25 63vgl. St�dteliste, Tabelle #66 im Anhang

Da die Elemente der Kategorien Religion, Sprache, Stand und Beruf noch 1897 eine enge Korrelation aufwiesen, sei schon hier eine Tabelle zur Verbreitung der Religionen und Sprachen im Jahr 1897 gebracht.

Tabelle 2 Sprachen und Religionen in Ost- und Westpolesien 1897 ����������������������������������������������������������������ͻ [Pervaja vseobscaja perepis', B�nde XI.: Grodenskaja gubernija; XXII: Minskaja Gubernija, 1904; vgl. die ausf�hrliche Aufstellung der Nationalit�ten und St�nde in Tabelle 48 und 50 im Anhang]

Ostpolesien Westpolesien %-Anteil %-Anteil Mazyr+Recyca Pinsk+Kobryn+ Pruzany+Brest Ostpolesien Westpolesien Einwohner 1897 402932 772695 100,0 100,0 Religionen Orthodoxe 326024 592983 80,9 76,7 Katholiken 17237 40394 4,3 5,2 Mosaisch 58040 134025 14,4 17,3 Andere 1631 5293 0,4 0,7 ------------------------------------------------------------- Sprachen Polen 6115 20637 1,5 2,7 Wei�russen 327001 282064 81,2 36,5 Ukrainer 3985 298051 1,0 38,6 Juden 57919 133514 14,4 17,3 Russen 5927 33706 1,5 4,4 Andere 1985 4723 0,5 0,6 �������������������������������������������������������������ͼ Bei der Volksz�hlung im Jahre 1897 wurden sowohl in den uezden Brest, Pruzany, Kobryn und Pinsk, die 1921 an Polen gingen, als auch in den Uezden Mazyr und Recyca (ab 1921 BSSR) dieselben Strukturen sichtbar: - Die �berw�ltigende Mehrheit der Wei�russen (und der Ukrainer) geh�rten dem Bauernstand an und machten �berhaupt mindestens 80% der Landbev�lkerung aus. - Die Mehrheit der Juden bewohnte Stadt und Stetl; 50% bis 80% der Stadt- und Stetlbewohner waren Juden: Tabelle 3 Der Anteil der j�dischen Bev�lkerung an polesischen uezd-Hauptst�dten 1897 ���������������������������������������������������ͻ [Pervaja vseobscaja perepis' 1904] Stadt Gesamt- J�dische % der bev�lkerung Bev�lkerung Juden Mazyr 8076 5631 70 R�cyca 9280 5334 57

Pinsk 28368 21065 74 Kobryn 10408 6738 65 Pruzany 7633 5080 67 Brest 46568 30260 65 Summe 110333 74108 67 ���������������������������������������������������ͼ

- Die Juden durften sich im Russischen Reich nicht frei bewegen, sondern waren auf ein Ansiedlungsgebiet verwiesen, das auch Wei�ru�land umfa�te. Dadurch wurden wiederum die Bauern in ihrer Mobilit�t behindert, weil sie nicht in die Stetl nachr�cken konnten. - Der Adel bestand vornehmlich aus Polen ("Nur die Gro�grundbesitzer sind ver-polt"65) und auch aus Gro�russen; es gab aber auch wei�russische und ukrainische Kleinadelige.66 Mit der Zugeh�rigkeit zum Stand ist aber noch nichts �ber die tats�chliche T�tigkeit gesagt. Dennoch wird das durch die Standesbezeichnungen ("Bauern", "St�dter" [mescane]) suggerierte Bild best�tigt: - In allen uezden, die Hauptstadt jeweils ausgenommen, lebten 90-95% der Wei�russen und Ukrainer von Landbau [zemledelie]67, hinzu kam noch ein betr�chtlicher Teil von Viehhaltern, Fischern usw. - Die Juden lebten meist von Handwerk und Handel. Mit anderen Worten: Die aus der St�ndegesellschaft hervorgegangenen Schranken der sozialen Mobilit�t existierten nach 1861 praktisch weiter, obwohl sie rechtlich teilweise niedergerissen worden waren.

Wenn auch die �berw�ltigende Mehrheit der Einwohner mit b�uerlichem Wirtschaften besch�ftigt war, so wurde das Volkseinkommen doch auf andere Weise erzielt. H.Harecki rechnete in m�hevoller Arbeit die Anteile der einzelnen Wirtschaftszweige am Volkseinkommen aus. Vergleichen wir das Gouvernement Minsk, das Ostpolesien umfa�t und das gr��tenteils sp�ter in die BSSR einging mit dem Gouvernement Hrodna, welches Westpolesien umfa�te und sp�ter Polen zugeschlagen wurde:

Tabelle 4 Anteile einzelner Wirtschaftszweige am Volkseinkommen �����������������������������������������������������������ͻ [Har�cki 1926:88f] Gouvernement: Minsk Hrodna Jahr: 1900 1913 1900 1913 Landwirtschaft 47,8 48,3 49,6 48,9 Waldwirtschaft 20,0 16,8 10,0 7,4 Fischwirtschaft 0,1 0,1 0,1 0,1 Industrie 14,4 19,3 22,1 22,2 Transport 7,0 6,9 8,0 8,1 Bauwesen 3,5 4,4 5,1 5,7 Handel 7,2 4,2 5,1 7,6 Summe 100 100 100 100 �����������������������������������������������������������ͼ

65J�ger 1919:8; vgl. Niezbrzycki 290 66zum Kleinadel: Tomaszewski 1985b:80-83 67Beruf #17 von 65 Berufen; Tabelle #51 im Anhang

Auch die Struktur des Volkseinkommens war also im Westen und Osten Wei�ru�lands nahezu gleich. Speziell in Polesien d�rfte der Anteil der Industrie noch geringer gewesen sein. Die Tabelle zeigt gleichzeitig, da� in der Landwirtschaft in betr�chtlichem Ma� f�r den Eigenbedarf produziert, die Holzwirtschaft aber schon f�r den Markt betrieben wurde.

2.3. Nationale und kirchliche Verh�ltnisse In Polesien standen sich der russisch-orthodoxe Staat und der polnisch-katholische Adel gegen�ber. Die zaristische Politik versuchte, die vor 1795 polonisierten und katholisierten Adeligen aus Wei�ru�land wieder der Orthodoxie zuzuf�hren. Im Gebiet Pruzany stieg z.B. das Verh�ltnis der Orthodoxen gegen�ber den Katholiken von 1,16:1 (bei 1187 Katholiken) im Jahre 1860 auf 2,5:1 im Jahre 1870) und 4,1:1 im Jahre 189768. Die polnische Oberschicht konnte es z.T. nicht verwinden, da� "ihre" von Wei�russen besiedelten Gebiete unter die Zarenherrschaft fielen und nannte diese Gebiete weiterhin "kresy wschodnie" (Ostgebiete) oder "ziemie zebrane"69. Die Katholiken lie�en sich nicht so ohne weiteres orthodoxisieren.70 Das Verbot der unierten griechisch-katholischen Kirche war dagegen in Polesien offensichtlich sehr einfach durchzusetzen; jedenfalls bekannten sich 1921 in der ganzen Wojewodschaft Polesien, also in Westpolesien, nur 93 Menschen als "griechisch-katholisch".71

Ein ausdr�cklich wei�russisches Nationalbewu�tsein trat in seinen ersten Anf�ngen im 19.Jahrhundert auf, wurde aber von der zaristischen Verwaltung bek�mpft. Von 1859 bis 1906 wurde der Druck in der wei�russischen Sprache72 und die Bezeichnung Wei�ru�land f�r Wei�ru�land verboten. Erst Anfang des 20. Jahrhunderts wurde die wei�russische Nationalbewegung zu einem bescheidenen politischen Faktor. Im Dezember 1903 wurde die Belaruskaja Sacyjalistycnaja Hramada (BSH) gegr�ndet.73 Nach der Revolution von 1905 scharte sich die wei�russische Nationalbewegung um die Zeitschrift Nasa Niva ("Unser Feld"), die in Vilnius erschien.74 In die Dumas gelangten aus Wei�ru�land fast ausschlie�lich rechtsstehende Abgeordnete. Aus Wei�ru�land war nie ein Sozialdemokrat oder Sozialrevolution�r in der Duma. Der Nationalit�t nach waren die Abgeordneten der wei�russischen Gebiete in der 3. Duma 23 Russen, 11 Wei�russen, 6 Polen, 1 Litauer, kein Jude.75

68Rozan�w 1935:27 69Kieniewicz 1989 70vgl. Tuskiewicz 1936:11-16 f�r das polesische Stetl Davidharadok 71Skorowidz 1924, S.X 72Szporluk 1979:79; Engelhardt 2943:82 meint, das Verbot sei 1865 erfolgt 73Byelorussian Statehood 1988:16,363; Ochota 1928:1 74Kipel 1985:61; Lubachko 1972:6-10; Engelhardt 1943:89-91; Curschmann 1918:286-288 75Zaprudnik 1975:229f; Zaprudnik 1984:35

2.4. Politik und Verwaltung Die Opposition von polnischer Oberschicht und russischer Staatsverwaltung kann zum Teil auch erkl�ren, warum in Wei�ru�land die Industrialisierung und Urbanisierung zur�ckblieb: diese Region war kein Lieblingskind der zaristischen Verwaltung. Die zemstva, regionale Einrichtungen der zaristischen Verwaltung mit nicht geringem Ma� an Selbstverwaltung, zudem Hoffnungstr�ger liberaler und moderner Kr�fte im Zarenreich, waren in Wei�ru�land mit der offiziellen Begr�ndung, da� man dort am polnischen Aufstand von 1863/64 teilgenommen hatte, nicht eingerichtet worden76; sie wurden in Polesien erst "nach der ersten russischen Revolution" eingef�hrt77, n�mlich am 14.3.1911 auf der Grundlage eines schon am 12.6.1890 herausgegebenen Statuts.

In Polesien gab es keine besonders interessanten Rohstoffe. Dennoch wurden die "Westgebiete", wie Wei�ru�land genannt wurde, nicht vollends vernachl�ssigt. Einen Einschnitt in die Wirtschaft Polesiens bedeutete der Eisenbahnbau in den 1880er Jahren. Entlang der Eisenbahn entstanden Orte neu oder entwickelten sich rasch. Die N�he zur Eisenbahnstation wirkte sich auf die Chancen der Vermarktbarkeit landwirtschaftlicher Produkte aus. Es wurden auch gro�angelegte Sumpftrockenlegungsarbeiten durchgef�hrt. [siehe unten] Schon im 18. Jahrhundert wurden noch unter polnischer Herrschaft der Oginski-Kanal und der K�nigskanal (heute: Dnepr-Bug-Kanal) gebaut.79 Bis 1917 sind diese Kan�le nicht mehr erweitert oder sonstwie verbessert worden.

76Zabo�ski 1987:62; vgl. Lipinskij 1978:54 77Bienkiewicz 1927:39 79Tillinger 1935:210; Pohl 1936:384

3. DIE B�UERLICHE WIRTSCHAFT IN POLESIEN VOR 1914

3.1. Agrarverfassung und Agrarstruktur 3.1.1. Die Agrarverfassung Im 16. Jahrhundert wurde zusammen mit der Durchsetzung der Leibeigenschaft eine gewisse Ordnung in die wei�russischen Gebiete gebracht, die damals zum Gro�f�rstentum Litauen geh�rten1. Damit der polnisch-litauische Staat eine bessere �bersicht bekomme, wurden je 21 1/2 Desjatinen in drei Felder aufgeteilt2 und Einzelh�fen zugeordnet. Damit war der Weg zu einem Einzelhofsystem vorgezeichnet, das auch einer bestimmten Siedlungs- und Flurstruktur (Hufenverfassung) und einer bestimmten b�uerlichen Wirtschaftsweise entsprach. An dieser Agrarverfassung und -struktur �nderte sich auch wenig, als Wei�ru�land und Polesien nach den drei Teilungen Polens zum Russischen Reich geh�rten. Nur ganz allm�hlich setzte sich im Osten Wei�ru�lands die obscina-Verfassung durch.

Am 19.2.1861 wurde die Leibeigenschaft im Russischen Reich aufgehoben, in Wei�ru�land waren 58% der Bauern von dem Dekret betroffen3. F�r die Nicht-obscina-Gebiete in West- und Mittelwei�ru�land war zusammen mit den litauischen Gebieten ein besonderes Dekret zust�ndig.4 Die Bauern wurden pers�nlich frei; je nach ihrem vorhergehenden Status konnten sie auch ein St�ck Boden, das sogenannte Anteilland [nadel] erwerben. Es gab somit nach 1861 drei wesentliche Kategorien des Bodenbesitzes: das Privatland, das Nadelland und das Eigentum in Kirchen-, Kl�ster-, Staats- oder sonstiger institutioneller Hand.

Die Gro�grundbesitzer wurden durch die zaristische Landwirtschaftspolitik nicht allzu sehr gesch�digt. Die adligen polnischen Gutsbesitzer sahen aber die zaristischen Dekrete [ukazy] als gegen sich in ihrer Eigenschaft als Polen gerichtet an. Auf dem Gebiet des sp�teren Kreises Pruzany konfiszierte man 4643 Desjatinen (Ds.)5, die Gutsbesitzer mu�ten hier von 1864 bis 1873 23.828 Ds. "freiwillig verkaufen"6, der Staat kaufte 3545 Ds. zwischen 1867 und 1872 an7; es handelte sich also um nicht allzu gro�e Bodenfl�chen.

Die Feldumverteilungs- und Steuerhaftungsgemeinde, die obscina, jene f�r das russische Bauerntum spezifische Agrarverfasungsinstitution, gab es in Polesien nicht. Auf ethnisch wei�russischem Gebiet gab es die obscina nur in den

1French 1983:72 2Perspektivnyj plan 1927:126; Conze 1940:71 3Lubachko 1972:4u 4abgedruckt in: Belorussia v �pochu kapitalizma #12,S.36 5Rozan�w 1935:59 6Rozan�w 1935:72 7Rozan�w 1935:64

ostwei�russischen Gebieten, also in den Breitengraden Polesiens �stlich des Dnepr, im damaligen Gouvernement Mahile� und den �stlichen Teilen des Gouvernements Vicebsk. 1887 wurde das Nadelland in folgenden Anteilen nach dem obscina-Prinzip genutzt:

im Gouvernement Minsk 4,0 % im Gouvernement Vicebsk 34,3 % im Gouvernement Mahile� 83,3 %8 Aber auch in Gebieten mit hohem obscina-Anteil bedeutete "in der Mehrheit der F�lle [...] das obscina-Recht nur eine Formalit�t, und Landumverteilungen wurden nicht praktiziert".9 Das b�uerliche Anteilland wurde also in Polesien nicht periodisch umverteilt. Dieses " "Podvornyj"-Prinzip (Einzelhof-Prinzip) wurde durch die Bauernbefreiung noch gefestigt"10. Haupts�chlich die Gemengelage der Felder und der damit zusammenh�ngende Flurzwang legten die Form der Bodennutzung fest. Ansonsten waren die Institutionen, die im Dorf oder zwischen den Familien regelten, was zu geschehen habe, schwach kodifiziert, es herrschten Gewohnheitsrechte.

Dennoch gab es auch in Mittel- und Westwei�ru�land, und somit in Polesien, kollektive Rechte an der Bodennutzung. Eine Besonderheit, die es in Gro�ru�land nicht gegeben hatte, waren die Servitute. Dabei handelte es sich um jahrhundertealte Rechte der Bauern, grundherrliche W�lder als Weidepl�tze f�r Schweine und anderes Vieh zu nutzen, dort Beeren zu sammeln u.�.11 Die Grundherren verschenkten mit den Servitutenrechten nichts, denn sie konnten ohnehin nicht neben jeden Bauern einen Aufpasser stellen. Diese Rechte wurden einem ganzen Dorf en bloc verliehen; hierdurch trat also das Dorf als Rechtsk�rper auf. Dies erforderte und f�rderte eine gemeinschaftliche Zusammenarbeit innerhalb des Dorfes. Die Servitute waren den modernen Grundbesitzern, die den Boden mehr und mehr als eine Kapitalanlage betrachteten, hinderlich12, f�r die Bauern aber sehr wichtig. "Die Bauern, die alle Bequemlichkeiten sch�tzen, die ihnen die Weideservitute darstellen, verweigern entweder ganz ihre Zustimmung [zur Aufl�sung der Servitute] oder wenden sich an den Eigent�mer mit solchen Forderungen, die jener nicht zu er-

8Statistika zemlevladenija 1907:89-91 9Perspektivnyj plan 1927:36; vgl. auch Kaleko 1929:474f 10Perspektivnyj plan 1927:127 11Bergman 1962:376=612 geht f�lschlicherweise davon aus, die Servitute seien erst seit 1861 genutzt worden 12Sabunja 1961:446

f�llen in der Lage ist", hei�t es daher in einem Bericht �ber das Gouvernement Minsk13. Von 1167 Gutsl�ndereien konnten in 25 Jahren bis 1899 nur 120 die Servitute aufl�sen14. Diese Felder und die - oft konkrete - Zusammenarbeit auf diesen Feldern nannte man talaka. Im weiteren Sinne bedeutete talaka aber jedwede Art von organisierter Nachbarschaftshilfe.15 Bauern bildeten aber auch Gesellschaften und Genossenschaften; die b�uerlichen machten den L�wenanteil an den landwirtschaftlichen Genossenschaften aus.16 Diese Genossenschaften waren zwar rechtlicher Tr�ger des Bodens; aber es handelte sich selten um Ackerboden, sondern meist um Wiesen und Weiden. Ansonsten betrieben die Genossenschaften die Weiterverarbeitung (Molkereien, Flachs- und Hanfverarbeitung) und den Absatz der Produkte 17. Im Gouvernement Minsk wurden aber nur wenige Fl�chen von Genossenschaften bedient.

In Wei�ru�land war die Stolypin-Reform, durch die ein prosperierendes Gro�bauerntum geschaffen werden sollte, recht erfolgreich. Dies lag aber daran, da� die Gemeinden im Osten Wei�ru�lands, in denen die obscina-Verfassung nur formal bestanden hatte, diese nun aufl�sten. In Polesien hingegen, wo die obscina �berhaupt nicht existierte, bedeutete die Stolypin-Reform nur eine rechtliche Legalisierung und politische Festigung des bestehenden Zustands der Agrarverfassung. Bedeutung hatte diese Reform aber wegen der damit verbundenen Absicht, Einzelh�fe ohne Gemengelage innerhalb des Dorfes (otrub-H�fe) oder au�erhalb des Dorfes (chutor-H�fe) zu schaffen. Im Gouvernement Minsk, zu dem Ostpolesien geh�rte, war aber bis 1916 nur bei 8,4% aller Bauernh�fe das Anteilland (nadel-Land) ausgel�st worden.18 Auf dem Anteilland wurde nur bei 14460 von 312.726 H�fen die Gemengelage beseitigt (auf 188.500 Ds.), was 4,6% der H�fe entspricht. Man kann also sagen, da� es den H�fen zwar darauf ankam, das alleinige Nutzungsrecht �ber ihr Land zu erhalten, nicht aber, eine "komplizierte" Flurverfassung (Gemengelage) zu beseitigen. Warum hatten die landbesitzenden Bauern so wenige Otrub- und Chutorh�fe gebildet, wo ihnen doch von allen Seiten ein Streben nach Absonderung attestiert wird? Kaleko erkl�rt es mit "den ung�nstigen agrogeologischen Bedingungen: der Streubesitz war im Gebiete der gro�en S�mpfe und weiten W�lder unvermeidlich"19. Doch Streubesitz hei�t nicht unbedingt Gemengelage. Gelegentlich wird auch auf die soziale und emotionale Bindung der

13Lickov 1899:60m 14ebd. 15vgl. Obscestvennyj 1987:26-28; Kaleko 1929:480f; Lamaha 1926:34f; Seit 1987 nennt sich eine "informelle" wei�russische Jugend-gruppe "talaka" (K�ppers 1989:Sp.5) 16Statistika zemlevladenija 1907:32-35; vgl. auch Kaleko 1929:477 17Kaleko 1929:478 18Perspektivnyj plan 1927:36; vgl. auch S.127; vgl. Kaleko 1929:492 19Kaleko 1929:491

Bauern an das Dorf hingewiesen. Auch die Servitutenrechte standen der Individualisierung der Feldbesitze entgegen, da sie h�tten miteinbezogen werden m�ssen. Da dieselbe Frage wieder im polnischen Teil Polesiens in der Zwischenkriegszeit auftauchte, sei auf die Er�rterung unten in Kapitel 8.1. verwiesen.

3.1.2. Die Agrarstruktur Um beurteilen zu k�nnen, welche Wirtschafts- und Sozialstruktur im Agrarbereich sich aufgrund dieser Agrarverfassung im Sp�tzarismus herausbildete, sollen zun�chst die demographischen Entwicklungen untersucht werden. Die Bev�lkerungsdichte in Polesien war sehr gering. Im Januar 1897 betrug sie in den 6 polesischen uezden: 38,0 Einwohner pro Verst� (Pruzany), 39,9 (Kobryn), 50,9 (Brest), 22,3 (Pinsk), 12,8 (Mazyr) und 20,0 (Recyca).20 Im 19. Jahrhundert gab es - wie vielerorts in Europa - auch in Polesien eine in vormoderner Zeit nicht gekannte Bev�lkerungsexplosion. So erh�hte sich in den beiden ostpolesischen uezden (Mazyr und R�cyca) die Einwohnerzahl zwischen 1870 und 1897 von 199.628 auf 402.932 um 102% und in den 4 westpolesischen uezden von 462.171 auf 772.695 um 67%,21 j�hrlich also um 2-3%. Wenn hier nicht eine Einwanderung - als "innere Kolonisierung" - vorlag, �ber die aus der Fachliteratur keine Berichte zu entnehmen sind, kann es sich nur um ein nat�rliches Bev�lkerungswachstum (d.h. mehr Geburten als Tode) gehandelt haben. Man erkannte schon fr�h, da� dieser Bev�lkerungsanstieg problematisch werden w�rde.

Sowohl f�r die Politiker und die "�ffentlichkeit" des Russischen Reiches, als auch sp�ter Polens und der BSSR stellte insbesondere die "landwirtschaftliche �berbev�lkerung" ein gro�es Problem dar. Bei der Verwendung dieses Begriffes wird davon ausgegangen, da� zur Bestellung der bes�ten Fl�chen eine bestimmte Anzahl von Arbeitskr�ften und ihrer nichtarbeitsf�higen Angeh�rigen n�tig ist. In einem Statistikband von 1892 wird z.B. von 0,4286 n�tigen Arbeitenden pro Desjatine bes�ter Fl�che ausgegangen22, sonstige wirklich lebende Menschen sind danach in der Landwirtschaft �berfl�ssig. Aber dieser "system�bergreifende" modernistische Gedanke wurde von der betroffenen l�ndlichen Bev�lkerung nicht geteilt. Diese dachte weniger dar�ber nach, wieviele Menschen n�tig sind, um den Boden zu bestellen, sondern wieviele zu ern�hren m�glich ist. Und dieser Wert liegt weit �ber 0,4 Menschen/Ds. Selbst, wenn man von einem Saat-Bruttoernte-Verh�ltnis von 1:3, von der Bes�ung von zwei Dritteln der Felder und einem ha bzw. Ds.-Ertrag von 6 dt ausgeht, ist es m�glich, einen Menschen aus 1 ha absoluter landwirtschaftlicher Nutzfl�che (6 dt * 2/3 Saatfl�che * 2/3 Nettoernte = 266 kg Getreide/ha) oder entsprechend weniger Saatfl�che zu ern�hren.

20Pervaja perepis' 1904:jeweils S.1 21vgl. Tabelle #47 im Anhang 22Belorussija v �pochu kapitalizma 1983:122, #67

F�r die Landbev�lkerung ist also der kritische Punkt, von dem an die Bev�lkerungszahl pro landwirtschaftlicher Nutzfl�che Sorgen bereitet, erst ab einer h�heren Bev�lkerungszahl erreicht.

Demnach war in Ostpolesien, vor allem aber in Westpolesien ein ganz betr�chtlicher Teil der Bauern �berz�hlig.23 In Polesien, wo ein betr�chtlicher Teil der b�uerlichen Wirtschaft die Ern�hrung durch Viehhaltung und Fischfang sicherstellte, sind solche Berechnungen besonders absurd. Sie zeigen aber gut die staatliche und gutsherrliche Perspektive, aus der heraus bestimmte Ma�nahmen zur Aussiedlung wie auch zu Intensivierung (Fruchtwechselwirtschaft) und zur Vergr��erung der Anbaufl�che (Melioration) propagiert und durchgef�hrt wurden. Da� Polesien trotz der geringen Bev�lkerungsdichte (1870: Ostpolesien 7 Einwohner/Verst�, Westpolesien 20,1 Einw./V�) unter "�berbev�lkerung" litt, lag daran, da� nur ein geringer Teil der Fl�che landwirtschaftlich genutzt werden konnte. Man versuchte daher, Teile der Bev�lkerung seit den 1880er Jahren nach Sibirien auszusiedeln. In den Gouvernements Minsk und Horadnja wurden Bauern in nennenswertem Ma� jedoch erst ab 1896 ausgesiedelt (822 bzw. 1938 Menschen), 1901 waren es 2255 bzw. 943 Menschen24. Im Verh�ltnis zur Gesamtbev�lkerung blieb dies aber unbedeutend, es waren in 16 Jahren nur unter 1% der Gesamtbev�lkerung ausgesiedelt worden. Nach 1905 stieg die Zahl der Aussiedler rapide an. 1896-1915 sollen in den Gouvernements Minsk, Vicebsk, Mahile� und Smolensk 642.000 Menschen ausgewandert sein, rund 10% der Bev�lkerung.25 Aus dem polesischen Uezd Mazyr wanderten z.B. allein 1905 13.000 Menschen aus26, vor allem die landlosen und landarmen Bauern.27 Das Problem, das durch die Bev�lkerungsexplosion entstand, verst�rkte sich noch durch die soziale Immobilit�t der Bauern und durch die Realerbteilung, die hier traditionell herrschte.

Einen Hinderungsgrund f�r die ausreichende Versorgung der polesischen Bev�lkerung mit Land stellte aber auch die Grundbesitzstruktur dar.

23Tabelle #52 zum Vergleich im Anhang 24Belorussija v �pochu kapitalizma, S.103 25Kaleko 1929:496; vgl. Sjamejnych 1982:56 26French 1959:177l; vgl. Tab # 53 im Anhang; siehe auch Rakov 1969:84 27Sjamejnych 1982:58

Tabelle 5 Grundbesitzstruktur Polesiens im Jahr 1877 ���������������������������������������������������ͻ Belorussija v �pochu kapitalizma #52, S.93f [Ausf�hrliche Tabelle 56A im Anhang] Gouvernement Ostpolesien Westpolesien u�zde Recyca+Mazyr Pinsk+Kobryn+ Pruzany+Brest nadel-Land in % 23,1 29,1 Privatland in % 60,3 54,7 Staatsland usw. in % 16,6 16,1 Summe 100 100 ���������������������������������������������������ͼ Bis 1917 hatte sich einiges ge�ndert, wie Tabelle #6 zeigt.28 Es fand eine signifikante, aber nicht allzu enorme Umverteilung des Bodens statt, die durch Verkauf von Boden seitens des Gro�grundbesitzes, durch die Reform Stolypins und durch die Realerbteilung (bei gleichzeitiger Bev�lkerungszunahme) erfolgte. Welcher der genannten Faktoren sich in den 40 Jahren am meisten auswirkte, ist schwer zu sagen.

Jedoch waren 56,3% und sp�ter noch 40,7% der Ackerfl�che in der Hand von Gro�grundbesitzern oder zumindest von wohlhabenden Bauern. Prozentuale, aber genauere Angaben fanden sich auch f�r die ostpolesischen Gebiete. Danach verteilte sich im Jahr 1917 die Bodenfl�che Ostpolesiens, wozu die Quelle auch die uezde Babrujsk und Rohace� z�hlt, wie folgt:

Tabelle 6: Grundbesitzstruktur Ostpolesiens im Jahr 1917 ��������������������������������������������������������������ͻ [Perspektivnyj plan 1927:26] uezd Recyca Mazyr Babrujsk Rohace� 22 BSSR uezde nadelLand 45,2 23,0 27,1 34,6 34,4 Privatland <50Desja. 19,5 6,6 25,6 20,1 18,3** **Privatland >50Desja 30,3 62,0 34,8 40,0 40,7 Staatsland usw 5,0 8,4 12,5 5,3 6,6 �������������������������������������������������������������ͼ

Auch in Polesien war also Boden von den Grundbesitzern in Bauernhand �bergegangen - bei ungef�hr gleichbleibendem nadel-Land.

Die Grundbesitzstruktur war, auch dies ergibt sich aus Tabelle #6, innerhalb Polesiens nicht �berall einheitlich. In beiden Gebieten besa�en die Gro�grundbesitzer auch 1917 noch zwischen 30 und 62 % des Gesamtbodens. In beiden Tei-len Polesiens besa�en wenige Grundherren riesige Gebiete. Nach wie vor hatten

28Diese Tabelle bezieht sich allerdings auf die 22 uezde, die sp�ter zur BSSR geh�rten

jedoch im Gouvernement Minsk 803 H�fe 3.993.554 Ds. Boden inne, was 49% des gesamten Grund und Bodens des Gouvernements ausmachte.29 Als Beispiel soll der sp�tere Kreis Pruzany (Westpolesien) dienen. Hier standen im Jahre 1897 82.584 Ds. des Gro�besitzes 125.941 Ds. b�uerlichem Besitz gegen-�ber30. Derselben Quelle zufolge besa�en die 115 Familien mit dem gr��ten Grundbesitz in den Jahren 1864/69 68.163 Desjatinen, (darunter J�zef Zamojski31 20.410 Ds); Im Jahre 1878/86 teilten sich die 131 H�fe mit �ber 50 Ds. Besitz zusammen 92.121 Ds.32 auf.

Tabelle 7 Allerdings bestand das nadel-Land eher aus �ckern, das Staats- und Grundherrenland zum gr��ten Teil aus W�ldern: ���������������������������������������������������������������ͻ B. v �pochu kapitalizma #72, S.127f Jahr 1892 Ostpolesien Westpolesien Gouvernement Minsk Minsk Minsk Hrodna Hrodna Hrodna U�zd Recyca Mazyr Pinsk Brest Pruzany Kobryn 1. Nadelland Haus und Garten 3,4 2,4 2,7 4,2 3,6 3,7 �cker 53,0 53,9 42,5 69,6 57,3 53,5 darunter bes�t 61,1 48,9 76,2 67,9 64,1 67,1 Wiesen 16,9 18,9 32,5 14,2 25,0 23,9 Weiden 8,8 5,9 13,0 8,3 13,6 16,8 W�lder 17,9 18,9 9,3 3,7 0,5 2,1 Summe 100 100 100 100 100 100 ---------------------------------------------------------------- 2. Privatbesitz Haus und Garten 0,8 0,6 0,7 1,1 1,3 1,5 �cker 15,9 17,8 17,1 37,3 34,9 29,8 darunter bes�t 48,4 44,0 48,1 54,0 58,4 57,1 Wiesen 14,0 6,4 13,7 12,5 19,0 21,3 Weiden 4,7 2,4 5,2 6,6 7,3 11,0 W�lder 64,6 72,8 63,3 42,5 37,5 36,4 ���������������������������������������������������������������ͼ

Welchen Bev�lkerungsgruppen aber geh�rte das Privatland und das Nadelland? Eigent�mer des Privatlandes blieb der Adelsstand (im Gouvernement Minsk 1905: 4.041.851 von 5.256.977 Ds. oder 83,6%), den Rest teilten sich die mescane (1,3%), Kaufleute (6,4%), Bauern (2,9%), und sonstige (5,8%) auf.33 Es hatte also keine bedeutende Umverteilung des Privatlandes zwischen den St�nden gegeben (Zum Vergleich: im europ�ischen Ru�land geh�rten nur 61,9% des Privatlandes im Jahr 1905 dem Adel). Von 1877 bis 1905 schrumpfte aber die Durchschnittsgr��e des adeligen Besitzes von 1003 Ds. auf 580 Ds. (Gouvernement Minsk).34

29Statistika zemlevladenija 1907:34f 30Rozan�w 1935:30; unter b�uerlichem Besitz wird wohl Anteilland plus Privatland von H�fen unter 50 Ds. Besitz verstanden 31In der Quelle mit j geschrieben; Rozan�w 1935:65 32Rozan�w 1935:84 33Statistika zemlevladenija 1907:34f; vgl. Kaleko 1929:468 34Kaleko 1929:468

Das Nadelland umfa�te 1877 im Gouvernement Minsk bei den ehemaligen Gutsbau-ern (Staatsbauern) 16,8 (19,5) Ds. pro Hof oder 5,1 (6,6) Ds. pro Kopf; rein rech-nerisch eine betr�chtliche Menge35, allerdings handelte es sich ja in Polesien bei einem bedeutenden Teil um Weide- und Waldgebiete, wie z.B. im uezd Kobryn, wo die ehemaligen Gutsbauern (Staatsbauern) 13 (20) Ds. erhielten.36 Allerdings verkleinerten sich die Anteile mit dem Bev�lkerungswachstum, so da� 1905 im Gouvernement Minsk die ehemaligen Gutsbauern (Staatsbauern) nurmehr 8,9 (10,5) Ds. nutzen konnten37. Zudem gab es 1905 eine signifikante Differenzierung bei den Besitzgr��en.38 Der restliche Boden, also der Staats-, Kirchen- und Kronbesitz, war gr��tenteils in staatlicher Hand, etwa im Gouvernement Minsk im Jahre 1877 zu 91,6%39; im Jahre 1905 betrug der Anteil nur noch rund 66%.40 Es war n�tig, etwas ausf�hrlicher auf die Besitzverh�ltnisse einzugehen, da so besser die verschiedenen Komplikationen in ihrer Spezifik verst�ndlich werden k�nnen, die bei der Aufl�sung der standesgepr�gten Agrarverfassung nach 1917/1920 auftreten konnten.

Siedlungsformen und Flurstruktur Es bildeten sich keine bestimmten Dorfformen heraus, verh�ltnism��ig h�ufig waren aber die Stra�end�rfer41. Durch die Hufenverfassung hatten sich langgezogene D�rfer mit einzeln stehenden H�fen herausgebildet. Die �cker wurden voneinander abgegrenzt. Durch den Erbteilungsproze� entstanden schmale und l�ngliche b�uerliche Zwergparzellen. Viehweiden und Fischteiche hingegen waren teilweise Gemeindebesitz (Allmende), teilweise grundherrlicher Besitz, der legal oder illegal genutzt wurde. Dieser gemeindliche Besitz hatte Auswirkungen auf die konkrete Arbeitsorganisation.

Und auch "die Sitte der Realerbteilung wurde mit den gemeindlichen Interessen der ganzen Bev�lkerung in Einklang gebracht. Die Gemeinde [obscestvo] kontrollierte die Allmende [mirskie zemli], also den b�uerlichen Anteil an Weiden, W�ldern, Wiesen, Fischteichen usw."42

Dorfversammlung, Dorfverwaltung Auch ohne obscina gab es in Polesien die Einrichtung der Dorfversammlung [obscij schod]. Durch das Dekret vom 19.2.1861 wurden die sonn- und feiert�g

35Kaleko 1929:470 36Belorussija v �pochu kapitalizma 1983:#112, S.188 37Statistika zemlevladenija 1907:91 38Zu den Besitzverh�ltnissen am Anteilland siehe Tabelle #55A im Anhang 39Kaleko 1929:471 40Statistika zemlevladenija; vgl. Tabelle #55 im Anhang 41Curschmann 1918:279 42Obscestvennyj 1987:16

lichen d�rflichen Versammlungen zu einer Verwaltungsangelegenheit; die Dorfversammlung erhielt dadurch den Doppelcharakter einerseits einer Einrichtung als unterste Stufe der �ffentlichen Hand, andererseits eines unmittelbaren Interessenvertretungsorgans der Dorfbewohner. Der "vern�nftigen" Idee, sowieso schon bestehende Zusammenk�nfte zu legalisieren und zu institutionalisieren, stand konstrastiv die Praxis gegen�ber: gegen den Willen der Grundherren und der Polizei lief nichts. Und der Schriftf�hrer haute die oft analphabetischen Versammelten ab und an �bers Ohr.43 Stimmberechtigt waren im obscij schod nur M�nner , und zwar zwei Jahre nach Zuzug oder Eheschlie�ung, oder auch, sobald aus der Ehe Kinder hervorgegangen waren.44

Die Einbindung in die Geldwirtschaft Die bisher beschriebene Agrarverfassung und Agrarstruktur haben in Polesien eine Familienwirtschaft in Form der Subsistenzwirtschaft beg�nstigt: Die Bauernfamilien hatten genug oder zuwenig, aber nicht zuviel Boden, die st�ndisch gepr�gte Agrarverfassung und die soziale Immobilit�t wirkten stabilisierend. Die Familien legten das "cajanovsche" Verhalten an den Tag. Dazu geh�rte, da� die Familien nur dann f�r den Markt produzierten, wenn Geldeink�nfte zum Kauf von Konsumgut oder zur Begleichung von Steuern n�tig waren.45 Dadurch war die Einbindung der Bauern in die Geldwirtschaft gering. Nur zu einem kleinen Teil wurde f�r den Markt produziert. Das Ausleihen von Ger�ten, der Austausch von Produkten und Dienstleistungen vollzog sich ohne Geldgebrauch.

Die materielle Lage der Bev�lkerung Bei der Betrachtung der Grundbesitzstruktur blieb die nicht zu untersch�tzende Gruppe der landlosen Bauern (Batraken) und Landarbeiter46 unber�cksichtigt. Viele Familien besa�en nach der Aufhebung der Leibeigenschaft keinen Boden, sondern allenfalls eine Kuh. 15-20% der Familien galten als landlos oder landarm47. Da in den polesischen S�mpfen auch ein fl�chenm��ig mittlerer Besitz nicht ausreicht und die Bev�lkerung st�ndig wuchs, bildete sich eine Masse landhungriger und arbeitssuchender Familien heraus, die keinen Boden hinzupachten konnten und sich bei den Gutsherren verdingen mu�ten. Auch ohne Leibeigenschaft waren die Bauern aufgrund ihrer materiellen Lage vom Gutsherren abh�ngig. Da das saisonale Arbeiten au�erhalb der Heimat [otchodni-cestvo] in Wei�ru�land wenig entwickelt war48, die Industrialisierung wenig

43Obscestvennyj 1987:31 44Obscestvennyj 1987:30 45Kolberg 1968:73 46�ber den Unterschied siehe Glossar im Anhang 47Kaleko 1929:487 48Sabunja 1961:439

voran gekommen war49 und die Stetl schon �berbev�lkert waren, konnten die Gutsherren das Angebot an Arbeitskr�ften weidlich ausnutzen und niedrige L�hne zahlen50. Die Magnaten errichteten eigene Brennereien, Molkereien und K�sereien51. In diesem Milieu entwickelte sich ein Teil der Gutsh�fe kapitalistisch, es wurde die verbesserte Dreifelderwirtschaft eingef�hrt, also Klee, Lupinen, Kartoffeln und Flachs angebaut52 und moderne Ger�te angeschafft; der Warenanteil der Produktion erh�hte sich. Diese organisierten und spezialisierten Wirtschaften waren es, die Lenin und sp�ter den Strategen der LitBelSSR allzu sehr gefielen. Daneben gab es aber Gro�grundbesitzer, die �berhaupt keine Gutswirtschaft betrieben und nur von Verpachtung lebten.53 Aus b�uerlicher Sicht stellten die Gutsh�fe keine Errungenschaft dar. Die geringe Bezahlung auf den Gutsh�fen erfolgte f�r manche Landarbeiter, Batraken und Bednjaken g�nzlich in Naturalien54; die Bauern wurden besonders in der Zeit, in der die Steuern f�llig waren, zur Arbeit herangezogen, da sie dann bereit waren, sich billiger zu verkaufen.55 Eine andere M�glichkeit, die materielle Lage zu verbessern, war das Hinzupachten von Boden, was mehr Risikobereitschaft erforderte. Als Pacht mu�te meist ein hoher prozentualer Teil des Bruttoertrages in Naturalien bezahlt werden, in der Regel ein Drittel. 1892 wurden von den Bauern je 100 Ds. Nadelland noch hinzugepachtet:

uezd Mazyr 7,2 Brest 6,8 Pinsk 5,1 Pruzany 6,6 R�cyca 7,8 Kobryn 12,956

3.2. Die b�uerliche Produktion in Polesien 3.2.1. Melioration als Ma�nahme zur Erh�hung der Anbaufl�che Im Jahre 1875 organisierte man unter der Leitung von General Zylinski eine Meliorationsexpedition. Diese baute "in den Jahren 1875 bis 1900 ungef�hr 4500 km Entw�sserungskan�le"57 und schuf so die gewaltige Menge von ca. 1.000.000 ha58 nutzbaren Landes, haupts�chtlich handelte es sich um Wiesen und nutzbaren Wald59.

49Sabunja 1961:438 50Sabunja 1961:437 51Sabunja 1961:443f 52Sabunja 1961:442 53Sabunja 1961:436m 54Sabunja 1961: 439 55Belorussija v �pochu kapitalizma #112, S.188 56Belorussija v �pochu kapitalizma #71, S.125f 57Pruchnik 1932:300 58Die Menge trockengelegten Landes, die durch den Bau der Entw�sserungskan�le geschaffen worden sei, wurde stark �bersch�tzt: z.B. ist von 2.576.000 ha die Rede [Rebhann in Geographische Zeitschrift 6(1900) S.222f, hier S.223] 59French 1959:175r

Die von der russischen Verwaltung organisierte Expedition mit dem Polen Zylinski an der Spitze verbesserte haupts�chlich die Lage Ostpolesiens, da sie am Unterlauf der Prypjac' begann.60 Die Instandhaltung der Kan�le wurde aber vernachl�ssigt oder �berhaupt nicht betrieben. Ostpolesien wies daher auch in der Zwischenkriegszeit keine besseren Entwicklungsm�glichkeiten als Westpolesien auf; denn mangels Wartung und durch die kriegerischen Auseinandersetzungen "sind die Kan�le jetzt so verschlammt und versch�ttet, da� sie fast gar keine Rolle spielen".61 J�ger meinte 1919 �ber die S�mpfe Polesiens: "Ihrer Austrocknung steht jedoch nichts im Wege, da das Land 100 bis 150 m �ber dem Meeresspiegel liegt."62 Gleichwohl ist die Lage �ber dem Meeresspiegel noch das Wenigste, was bei einer Trockenlegung zu ber�cksichtigen ist. Wir werden unten vergleichen, welcher Staat beim Versuch, die S�mpfe trockenzulegen, mehr erreichte.

3.2.2. Anteile einzelner Bodennutzungsarten Polesien unterschied sich durch die oben beschriebenen nat�rlichen Bedingungen auch in der Wirtschaftsweise von anderen Gebieten Wei�ru�lands, von Polen und Ru�land. Da die nat�rlichen Wald- und Weidegebiete, - die z.T. durch die j�hrlichen �berschwemmungen im Fr�hjahr nicht ohne besondere, sehr schwierig durchzuf�hrende Ma�nahmen zu Ackerland h�tten umgebaut werden k�nnen , eine brauchbare nat�rliche Futterbasis darstellten, wurde die Viehhaltung gegen�ber dem Ackerbau beg�nstigt. Angesichts der zudem vorhandenen M�glichkeiten der Fisch- und Waldwirtschaft ergab sich eine andere �kologische Balance der polesischen Landwirtschaft als in Ackerbaugebieten. Anderswo war der �bergang zur intensiveren Bodennutzungsform des Ackerbaus nicht ohne gesellschaftlichen Druck erfolgt - sie wurde aufgrund einer steigenden Bev�lkerungszahl und auch im Interesse des Staates und der Oberschicht in vormoderner Zeit eingef�hrt und mit der klassischen Dreifelderwirtschaft mit Flurzwang vollendet. In Polesien jedoch hatten sich uralte extensive Wirtschaftsformen bis zur letzten Jahrhundertwende erhalten, weil eine Intensivierung nicht einfach zu bewerkstelligen gewesen w�re. W�hrend also anderswo die wirtschaftlichen und sozialen Verh�ltnisse zur Intensivierung der Wirtschaft zwangen, gab es in Polesien einen Zwang zur extensiven Wirtschaftsweise, die im Einzelnen folgende Aspekte aufwies: - Da wenig Ackerbau betrieben wurde, wurden immer noch Ochsen als ausreichende Zugkraft angesehen.

60Bienkiewicz 1927:39; Pruchnik 1932:300; B�rgener 1939:70 61Pruchnik 1932:300 62J�ger 1919:15

- Da viele Heuschl�ge vorhanden waren, war Heu das Hauptfutter. Stroh wurde weniger verf�ttert. Der Anbau von Futterplanzen, z.B. als Gr�nbrache oder im Rahmen der Fruchtwechselwirtschaft, war nicht n�tig. - Da die meisten Weidefl�chen sowieso nicht in Ackerfl�chen h�tten umgewandelt werden k�nnen, gab es nicht den Drang, Weidefl�chen zugunsten von Ackerfl�chen "einzusparen" und daher das Vieh einzustallen. - Da genug Wald vorhanden war, konnte die Urwechselwirtschaft (auch mit Brandrodung) und die Feldgraswirtschaft aufrechterhalten werden.63 - Der Anteil des Wintergetreides (fast ausschlie�lich Roggen) war anteilm��ig �berdurchschnittlich hoch. - Wegen der Fr�hjahrs�berschwemmungen wurden schnellreifende Sommergetreide (Buchweizen, Gerste, Hirse) angebaut, deren Nettoertrag gering war.

Aufgrund dieser Gegebenheiten war Polesien ein Getreidezufuhrgebiet. Auch durch die Meliorationsarbeiten wurden ja Wiesen und Weiden geschaffen. "In [...] Polesien haben die Leute sehr wenige �cker, sondern meist Moore und Weiden"64.

3.2.3. Der Landbau Die in Polesien im Sp�tzarismus verwendeten Ackerger�te sind au�erordentlich gut untersucht. Es wurden schon seit Jahrhunderten bekannte Ger�te verwendet. Um den Boden f�r die Saat vorzubereiten, wurde weiterhin die zweizinkige socha (ein Hakenpflug) verwandt, die auf leichten B�den besser als der Pflug zur Bodenbearbeitung geeignet ist. Sie war insofern gegen�ber den mittelalterlichen Modellen verfeinert worden, als sie die Erde nur zu einer Seite hin auswarf (unsymmetrische socha)66.

Der Pflug verbreitete sich nur allm�hlich; er war zwar 1896 in den Gouvernements Minsk in 21% und Horadnja in 25% der Orte "weit verbreitet"67, wahrscheinlich aber nicht in den polesischen uezden dieser Gouvernements. Vor allem die Gutsh�fe besa�en Pfl�ge, die Bauern erst ab 1905.68

Bei den Eggen ging man von geflochtenen Reisigeggen zu Balkeneggen �ber; es fanden sich an ihnen gelegentlich schon Eisenzinken.69 Wie �berall im Russischen Reich wurde die Sense nur zur Heumahd, zur

63Zu den Begriffen siehe Glossar im Anhang 64Kolberg 1968:70; �ber die einzelnen Anteile siehe obige Tabelle �ber 1892; vgl. auch die Tabellen f�r 1860 in French 174 66Molcanova 1968:10 67Belorussija v �pochu kapitalizma #76, S.134 68Molcanova 1968:23 69Serzputovskij 1910:52; Molcanova 1968:31,33

Getreideernte aber, auf da� kein Korn verloren gehe, die Sichel verwandt.70 Das Sprichwort "F�r einen Poleschuken ist sogar eine Sichel ein Wunder"71 ist also eine ung�ltige �bertreibung.

Als Zugkraft war, wie schon kurz erw�hnt, ein Gespann mit zwei Ochsen vorherrschend. Die �rmsten Bauern nutzten sogar Kuh und Ochse, und zwar zusammen in einem Geschirr.72 Besa� ein Hof "nur ein Tier, dann war es fast immer ein Ochse".73

Im damals zu Litauen geh�renden Wei�ru�land existierte seit 1557 offiziell bei neugeschaffenen Siedlungen eine Fruchtfolge, in der drei Felder markiert waren74, aber in Polesien hatte sich bis zu Beginn des 20.Jahrhunderts eine klassische Dreifelderwirtschaft mit der Fruchtfolge Wintergetreide, Sommergetreide, Brache nicht durchgesetzt;75 hier wurde weiterhin "prostopolje" (Urwechselwirtschaft) betrieben.76 Ob hier eine bestimmte Fruchtfolge vorherrschte, und wenn ja, welche, ist schwer zu bestimmen. French spricht davon, da� "manchmal nur Zweifelderwirtschaft" geherrscht habe.77 Wir sahen aber oben, da� die in Polesien herrschende extensive Wirtschaftsweise nicht den �bergang zu modernen Fruchtfolgeformen erzwang. Tats�chlich wurden viele Ackerfelder in langj�hriger Ackerbrache [pereloz'] gehalten.78

Die Saatfl�che war (1890) im Verh�ltnis zur Gesamtfl�che mit nur 8,7% in Ostpolesien auch nach der Durchf�hrung der Meliorationsarbeiten geringer als in Westpolesien mit 15,9%; dies braucht angesichts der geringeren Bev�lkerungsdichte nicht zu verwundern. Pro Kopf (unter Zugrundelegung der Einwohnerzahlen von 1897) war die Saatfl�che in Ostpolesien mit 0,56 Ds. pro Seele (= 1,78 Seelen pro Ds.) etwas h�her als in Westpolesien (0,45 Ds./Seele).79

Das Getreide wurde nicht in Scheunen, sondern in kleinen Schobern,80 teilweise auf Pf�hlen gelagert. Dort standen sie, bis sie genutzt wurden; verkaufen wurde "als S�nde bezeichnet".81 Gedroschen wurde wie eh und je auf der Tenne, geworfelt wurde mit Handworfeln82. Die Bauern mahlten ihr Mehl in Handm�hlen

70Serzputovskij 1910:57f 71Prykazki i pryma�ki 1976:508; zitiert aus: Federowski, M.: Lud bialoruski na Rusi Litowskiej Warszawa 1935 72French 1959:173 73Ulascik 1965:197 74French 1983:72 75Molcanova 1968:11 76Moszynski 1928:55 77French 1959:176; vgl. Molcanova 1968:11 78Molcanova 1968:11 79Berechnet nach Belorussija v �pochu kapitalizma; Pervaja perepis' 1904 80Kolberg 1968:71 81Kolberg 1968:71 82Moltschanowa 1972:237 83Molcanova 1968:45f

selbst, um die Mahlabgabe zu sparen83; nur sehr reiche Bauern besa�en Wasser- oder Windm�hlen.84

Die Kartoffel wurde in der 2. H�lfte des 19. Jahrhunderts in Polesien mehr und mehr angebaut.

Tabelle 8 Kartoffelanbau in 1000 cetvert' in den Gouvernements Minsk und Hrodna ������������������������������������������������������ͻ [Belorussija v �pochu kapitalizma 1983:75,132] Jahr Minsk Minsk Hrodna Hrodna Saat Ernte Saat Ernte 1851 358 1080 255 449 1856 320 1626 195 974 1861 330 1266 213 873 1866 269 937 263 1005 1871 394 1293 361 1307 1876 503 1782 358 1745 1881 505 2641 460 2930 1886 723 3089 547 2440 1891 835 3639 715 1983 1895 1140 5354 749 4142 ������������������������������������������������������ͼ Die Zahl der Brennereien nahm in den beiden Gouvernements nicht in gleichem Ma�e zu wie die Bruttoernte.85 Die Weiterverarbeitung der Kartoffeln wurde - zumindest �ffentlich - nicht von b�uerlicher Hand durchgef�hrt.

Erst ab der 2. H�lfte des 19. Jahrhunderts wurde in Wei�ru�land Flachs auf dem Acker statt im Garten angebaut. Zu Anfang des 20.Jahrhunderts wurden aus Wei�ru�land schon "4 Millionen Pud, d.h. drei Viertel der von ganz Ru�land ausgef�hrten Menge an Flachs und Hanf" ins Ausland �berf�hrt.86 Au�er f�r den Export wurde der Flachs f�r die Armee gebraucht; vor dem 1. Weltkrieg waren in Wei�ru�land 5,7% der landwirtschaftlichen Nutzfl�che mit Flachs bebaut, 1916 gar 7,4%. Die Bauern bauten Flachs aber fast nur f�r den eigenen, ansonsten allenfalls f�r den regionalen Bedarf an.87

3.2.4. Die Viehhaltung Oberfl�chliche Beobachter meinten, in Polesien habe "jeder Landwirt [gospodarz] dutzende St�ck Vieh und einige Pferde" gehabt88, aber etwas bescheidener war die Ausstattung denn doch. L��t man die schichtenspezifische Differenzierung zun�chst einmal unber�cksichtigt, so ergeben sich �hnliche St�ckzahlen pro Kopf f�r Ost- und Westpolesien.

84Molcanova 1968:47 85Belorussija v �pochu kapitalizma 1983:#74,S.131 86J�ger 1919:63; vgl. Archimovic 1955:165 87Archimovic 1955:165 88Kolberg 1968:71

Tabelle 9 Zahl der Nutztiere in Polesien in den Jahren 1870 und 1897/1900 auf 100 Einwohner �������������������������������������������������������ͻ Quellendaten zu 1870 siehe Tabelle #56 im Anhang; zu 1900 siehe Belor. v �pochu kapitalizma #90, S.150f 1870 Ostpolesien Westpolesien Pferde 17 15 Rinder 37 47 Schafe 46 48 Ziegen 6 2 Schweine 33 26 Tiersumme 138 138 -------------------------------------------------- 1897 (Einwohner) 1900 (Nutztiere) Pferde 16 11 Rinder 62 48 Schafe,Hammel & Ziegen 38 37 Schweine 33 20 Tiersumme 149 116 �������������������������������������������������������ͼ Die Versorgung pro Kopf der Bev�lkerung war also zwischen 1870 und 1900 ungef�hr gleich geblieben, obwohl die Einwohnerzahl so rapide gestiegen war.89 Das meiste Vieh geh�rte nicht den Gro�grundbesitzern, sondern der Bauern-schaft.90 Dies galt f�r alle Tierarten. Zahlen �ber die Gesamtentwicklung des Viehstands sind daher f�r die b�uerliche Wirtschaft einigerma�en aussagekr�ftig.

Das Heu als Futterbasis des Viehs war zwar reichlich vorhanden, und obwohl die Heuschlagfl�chen sogar zunahmen,91 wurde es durch die noch schneller steigende Bev�lkerungszahl knapp. Die Bauern ernteten das Heu zuweilen im Sumpfwasser stehend. F�r sie war das Futterproblem besonders bedr�ckend. Es gab immer wieder Streit um Weidepl�tze. Ein Beispiel: 1874 lie�en die Bauern des uezd Kobryn ihnen nicht geh�rende Fl�chen abweiden. Daraufhin wurden 166 Landwirte gemeinsam zu einer Geldstrafe von 1643 Rubel 20 Kopeken verurteilt. Nach einer demonstrativen Zahlungsverweigerung wurden erst Polizisten, dann Soldaten geschickt.92

Der Zweck der Vieh-, besonders der Rinderhaltung war in Polesien ein spezifischer: als sehr wichtig wurde die Dungproduktion der Tiere angesehen.93 Bauern gaben in Polesien sogar ihre Weiden den Nachbarn in der Gemeinde zum Abgrasenlassen frei, und zwar nicht aufgrund moralischer oder halbinstitutioneller Verpflichtungen, sondern nur, um Mist zu erhalten94, w�hrend die Fleischleistung im Hintergrund stand.95 Die Kuh sorgte f�r Milch,

89Ausf�hrliche Tabelle #56in Anhang;Vgl. French 1959:176l 90Belorussija v �pochu kapitalizma #82, S.150; siehe Tabelle 56A im Anhang 91French 1959:176l 92Belorussija v �pochu kapitalizma 1983:#127, S.207-210 93Molcanova 1968:53 94Obscestvennyj 1987:17 95Molcanova 1968:53

Schafe f�r Schafspelze. Vieh wurde auch verkauft.96 So wurde das Vieh Dutzende von Kilometern weit auf Weiden und in W�lder getrieben.97

3.2.5. Die b�uerlichen Nebengewerbe Ackerbau und Viehzucht z�hlen zu den anerkannten landwirtschaftlichen T�tigkeiten, Wald- und Fischwirtschaft sowie die Hausindustrie jedoch zu den Nebengewerben.98 Dies hatte f�r Polesien keine Berechtigung: "In many villages, fishing rather than agriculture was the main form of livelihood, especially in the neighborhood of Lake Chervonoe"99. Der hohe Eiwei�gehalt der Fischnahrung sorgte f�r eine ausgewogenere Di�t.

Die Waldbest�nde in Wei�ru�land waren betr�chtlich, obwohl hier "gewissenloseste Gesch�ftemacherei und systematische Raubwirtschaft"100 betrieben wurden, wobei "nur ein ganz geringer Bruchteil des Holzes der einheimischen Industrie zugute kam",101 unbearbeitet wurden die Fl��e ins Ausland �berf�hrt. Nach Kolberg begann der Aufschwung beim Verkauf von Holz, nachdem in Polesien die Eisenbahn fertiggestellt worden war.102 Aber auch die Fl��erei hatte Hochkonjunktur; sie war f�r die Poleschuken ein ideales Gewerbe, da es ohne gro�en organisatorischen Aufwand durchgef�hrt werden konnte. Sogar St�dter kauften Grundst�cke aus dem einzigen Grunde, weil sie ein Holzschlagreservoir besitzen wollten. Beim Abholzen blieben forstwirtschaftliche Gesichtspunkte unber�cksichtigt, was schon den Zeitgenossen auffiel: man verfahre nach dem Grundsatz: "Nie bylo nas, bylo las; nie bedzie nas, bedzie las."102a Auch Wildfr�chte bereicherten den b�uerlichen Speiseplan; 1913 wurden auf den gr��eren Eisenbahnstationen der sp�teren BSSR rund 330.000 kg getrocknete Pilze abgefertigt.103

Die Dorfindustrie Die Zahl der im Handwerk Besch�ftigten schnellte in Wei�ru�land in der Zeit von 1900 bis 1917 in die H�he104; eine Industrie entwickelte sich in Wei�ru�land und erst Recht in Polesien aber kaum, wenn auch relativ schneller als das Handwerk105.

96Molcanova 1968:53 97ebd. 98Zudem l��t sich Hausarbeit von Hausindustrie schwer trennen; nur die St�dter halten Waschen und Speisezubereiten f�r allt�glich, Schuhfertigen dagegen f�r etwas Besonderes 99French 1959:174r 100J�ger 1919:61 101J�ger 1919:62 102Kolberg 1968:72 102aEtwa: "Vor uns gab es Wald, nach uns wird es auch Wald geben"; Kolberg 1968:73 103Perspektivnyj Plan 1927:809 104Titov 1976:14 105Titov 1976:15

Die �rmeren Bauernschichten, die ins Handwerk wechselten, wurden zumeist keine selbst�ndigen Handwerker, sondern Arbeiter bei schon eingesessenen anderen Handwerkern. Mit der Entwicklung des Handwerks soll eine Verschlechterung der Qualit�t der Produkte einhergegangen sein.106 Auf dem Lande blieb das Kleingewerbe von dieser Entwicklung unber�hrt. Das Dorfgewerbe [promysel]107 war fast synonym f�r Nebenbesch�ftigung der wei�russischen Landbev�lkerung. Zwar wurden gegen Ende des 19. Jahrhunderts zum Hausbau schon Meister bestellt, ansonsten blieb alles wie zuvor. �brigens war die T�tigkeit im Dorfgewerbe, abgesehen von der Weberei, M�nnerarbeit.108 In der Gegend um Mazyr hatte sich als besonderer Zweig des Dorfgewerbes das Korbgewerbe herausgebildet109; im uezd Pruzany war das B�ttchergewerbe besonders verbreitet, w�hrend man in der Gegend um Sluck auf die Herstellung von Schlitten spezialisiert war.110 Zum Verkauf der selbstgefertigten G�ter gingen die Bauern nicht nur zum n�chsten Marktort, sondern zuweilen Hunderte von Kilometern, bis in die waldarme Ukraine. Auch zur Materialbeschaffung ging man weit weg, sei es nun gemeinsam mit dem Meister oder in dessen Auftrag111. So besa� das Dorfgewerbe also noch einen festen Platz in der b�uerlichen Wirtschaft. Bei der Frage nach der Entwicklung des Dorfgewerbes in der BSSR und in Polen mu� die Frage so gestellt werden, wie sie f�r die Entwicklung des Verlagswesens in Mitteleuropa in der fr�hen Neuzeit gestellt wird: Welche Zweige der b�uerlichen Gesamtwirtschaft wurden den Produzenten in welcher Form und in welchem Ma�e aus der Hand genommen? Oder vermarkteten sie selber, wurden selber zu Handwerkern oder Handwerksgenossen?

Rohstoffe gibt es in Polesien sehr wenige, die rohstoffverarbeitenden Gewerbe waren nicht als gesonderte Berufszweige entwickelt. Die Sumpferze waren sehr phosphorhaltig und "enthalten kein besonders wertvolles Erz". Zudem gab es "Braunkohle schlechter Qualit�t".112 Auch der Torfabbau war unbedeutend geblieben. "Ihrer Eigenschaft nach stellen die Niedermoore Polesiens einen Wert f�r die Landwirtschaft dar, weil sie mit Erfolg auf die kultivierten Wiesen, Weiden und Ackerparzellen gef�hrt werden k�nnen, und der Torf kann so als D�nger f�r die Mineralb�den dienen".113 Diese Nutzbarkeit des Torfes wurde noch gar nicht erkannt.

106Titov 1976:15 107promysel ist ein Begriff, der mit den entsprechenden Adjektiven "Jagd", "Fischfang" wie auch "Bergbau" hei�en kann 108Titov 1976:18 109Titov 1976:19 110Titov 1976:20 111Titov 1976:20 112Kazakov 1953:18 113Kazakov 1953:19u

3.2.6. Transport als b�uerliche Arbeit Der Transport war mit altert�mlichen Verkehrsmitteln zu bewerkstelligen, die den �rtlichen Gegebenheiten angepa�t waren. Die Beschreiber haben stets bewundert, wie Polesier es fertig brachten, Wagen ohne jegliches Eisen selbst zu bauen. Das Quietschen der R�der war schon von weitem zu h�ren.114 Der b�uerliche Transport diente teils zum Transport eigener G�ter im "innerbetrieblichen Verkehr" oder zum Transport von Waren zum Markt, teils wurden aber auch gewerbliche Transportauftr�ge ausgef�hrt. Auch die Fl��erei kann man als ausw�rtige Saisonarbeit im Transportgewerbe bezeichnen.115

3.2.7. Arbeitsorganisation, Arbeitsteilung und Gemeinschaftsarbeit Die obscina-Verfassung ist in der wissenschaftlichen Literatur zu sehr als eine Institution beschrieben worden; weniger wurde beachtet, inwieweit die Familien auch konkret zusammenarbeiteten. Das podvornyj-Prinzip unterscheidet sich von der obscina-Verfassung durch die Agrarverfassung und das Steuersystem. In der Bedeutung f�r die konkrete Arbeitsorganisation und -teilung im Dorf hatte diese Unterscheidung jedoch weniger Bedeutung. In beiden Verfassungen wurde der Garten- und Ackerbau, die Hausarbeit und die Hausindustrie familienweise betrieben, w�hrend Wiese, Weide, Wald und Wasser zum gr��ten Teil gemeinsam genutzt wurden. Flurzwang gab es hier wie dort. Die Gefahr, das Konkrete nicht zu beachten, ist bei der Untersuchung der talaka [siehe oben] weniger gegeben. Denn die talaka stellte eine nicht genau institutionalisierte Gemeinschaftsarbeit dar, dieser Brauch wurde nur ad hoc in Bewegung gesetzt. Es handelte sich um "einen alten Volksbrauch kollektiver Hilfe bei wirtschaftlichen Arbeiten [...] Man lud f�r einen Tag die Verwandten, die Nachbarn zu einer Terminarbeit oder einer m�hseligen T�tigkeit ein, welche viele Arbeiter erforderte". Konkret ging es um T�tigkeiten wie "Holz

herausf�hren, Jagd auf dem Felde, eine H�tte aus Balken bauen [zrubic' chatu], Heu sensen, Getreide oder Kartoffeln ernten" und dergleichen. "Man half zuerst den Brandgesch�digten, Witwen, Soldatenfrauen und solchen Bauern, die kein Pferd besa�en. Die talaka begann gew�hnlich bei Tische, es wurden talaka-Lieder gesungen. Bei der talaka zeigen sich Umrisse eines althergebrachten Kollektivismus und Reste eines gemeinschaftlichen Alltags [abscynnaha pobytu]"116. Die Hilfsbed�rftigen besa�en zwar ein moralisches Recht auf Unterst�tzung durch

114Alles nach Kolberg 1968:71 115vgl. Belorussija v �pochu kapitalizma 1983:#112 116Etnahrafija Belarusa� 1980:139f

Bildung einer talaka, aber man kann allenfalls sagen, es best�nde ein Gewohnheitsrecht - solch ein Recht w�re vor der zaristischen Landjustiz nicht einklagbar gewesen. Zwar trat die Solidarit�t bei der Arbeit in einer polesischen Gemeinde in Extremf�llen am deutlichsten zutage, darin ist jedoch nichts ungew�hnliches oder spezifisch polesisches zu sehen. Es gab aber auch regelrechte Gemeinschaftsarbeit. Besonders h�ufig fand kollektive Arbeit bei der Heumahd und der Ernteeinbringung statt. Wenn nicht die zu m�hende Fl�che nach Einzelparzellen [po snuram] aufgeteilt wurde, fuhr das ganze Dorf hinaus, m�hte das Gras, errichtete Heuhaufen, und erst zeitlich danach wurde alles auf die Familien aufgeteilt - nach Anzahl der Familienangeh�rigen und nach Arbeitsanteil.117 Die Heumahd war derjenige Arbeitsproze�, bei dem am meisten Leute gleichzeitig auf den Beinen waren. Es handelte sich dabei jedoch wohlgemerkt nicht um eine Arbeit, die aufgrund der Produktionsweise ein gemeinschaftliches Vorgehen zwingend erforderlich machte. Ansonsten gab es noch gemeinsame Arbeit als Nachbarschaftshilfe. Es kam auch vor, da� sich zwei Familien oder zwei H�fe ein Pferd und damit eine Anspannung teilten118. Selbstverst�ndlich wurde Alten und Kranken geholfen, indem ihr Getreide oder ihre Kartoffeln geerntet oder der Gem�segarten in Schu� gehalten wurden. Dies war nichts Besonderes f�r eine d�rfliche Gemeinde. Gar nicht selten teilten sich auch zwei Familien eine Behausung.119 Auch in diesem Fall lag Gemeinschaftsarbeit nahe. * Wir haben gesehen, da� allein schon die Bev�lkerungsexplosion auf die Bauern pauperisierend wirkte. Unter anderem durch das Beibehalten des Ansiedlungsrajons f�r die Juden wurde die soziale Mobilit�t der Bauern verhindert; eine Verschiebung der Priorit�ten zwischen den einzelnen Zweigen innerhalb der Produktion war aufgrund der nat�rlichen Bedingungen nicht m�glich. Allein eine Erh�hung der Warenproduktion h�tte - unter bestimmten Bedingungen - den Teufelskreis durchbrechen k�nnen, in dem sich die Wirtschaft der �rmeren Bauern befand. Die Strategien der Bauern waren aber aus guten Gr�nden auf ein weiterhin hohes Ma� an Autarkie ausgerichtet; die Lohnarbeit in Wald- und Landwirtschaft bei den Gutsherren war schlecht bezahlt. So waren die B�uerinnen und Bauern weiterhin universell t�tig, sorgten f�r all ihre Grundbed�rfnisse - Nahrung, Kleidung, W�rme - selbst. Auch die "Aufl�sung"

117Obscestvennyj 1987:28 118Obscestvennyj 1987:26 119Lipinskij 1978:25; Obscestvennyj 1987:127

dieses Teufelskreises schien auf durchaus klassische Weise, n�mlich durch eine Bev�lkerungsdezimierung mittels eines Krieges, zu erfolgen: Doch brachte der Krieg kein erneuertes Kaiserreich, sondern zwei Republiken.

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4. DIE EREIGNISSE VON 1917 BIS 1920 Die Abhandlung der Zeit von Besetzung und B�rgerkrieg erfolgt in zwei Teilen. Im ersten werden die politischen und milit�rischen Ereignisse dargestellt, im zweiten deren Auswirkungen auf die wirtschaftliche und soziale Situation auf dem Lande vorwiegend am Beispiel Polesien beleuchtet.

4.1. Die Ereignisse in Wei�ru�land unter besonderer Ber�cksichtigung Polesiens Nur der �stliche Teil Wei�ru�lands und Polesiens mit Minsk konnte die Februarrevolution mitgestalten1, da der westliche Teil einschlie�lich der Linie Pinsk-Baranovicy-Navahrudak von den Deutschen besetzt war.2 Viele ortsans�ssige Familien waren im Krieg aus Sicherheitsgr�nden aus Wei�ru�land nach Zentralru�land evakuiert worden.3 Dagegen waren 1.500.000 Soldaten nach Wei�ru�land an die Front geschickt worden, die dann die Hauptaktiven bei der Bildung von Soldaten- und Arbeiterr�ten in den St�dten im M�rz 1917 wurden.4

Wie in anderen minderheitlich von Russen bewohnten Regionen des Russischen Reiches etablierte sich nach der Februarrevolution auch in Wei�ru�land die Nationalbewegung, organisatorisch getragen von den regionalen Abteilungen der reichsweit organisierten Parteien (Men'seviki, Sozialrevolution�re, Bol'seviki), vor allem aber von der BSH und dem j�dischen Bund. Am 25.-27.3.1917 tagte erstmals ein Wei�russisches Nationalkomitee [Belaruski Nacyjanal'ny Kamit�t]; im Juli wurde �hnlich wie in der Ukraine eine Zentralrada [Belaruskaja C�ntral'naja Rada] gegr�ndet.5 Die BSH wurde die einflu�reichste Kraft in der wei�russischen nationalen Bewegung.6 In Homel' wurde schon am 3. und 4.3.1917 von 25.000 Menschen ein 200-k�pfiger Arbeiter- und Soldatenrat gew�hlt, in dem haupts�chlich Men'seviki, Sozialrevolution�re und Bundisten sa�en7. Bis Ende M�rz gab es R�te auch in Recyca, Zlobin, Rohace�, Mazyr und Dobrus8. �rtliche Bauern- und Landarbeiterkomitees sowie ein uezd-Bauern-Komitee bildeten sich erst im April bis Mai.9 Auf der 1. Sitzung des Bauernsowjets im uezd Mazyr beschlo� man die

1zum Verhalten der Wei�russen in der Zeit des 1.Weltkrieges vgl. Engelhardt 1943:92-100 2Atlas historyczny swiata 1986:132; Kriegsstandkarte n�1; Atlas BSSR 1958:138; Historyja BSSR III 1973:Karte zwischen S.80/81 3Sukiennicki 1965:85 4Sukiennicki 1965:86 5Kipel 1988:363 6Ausz�ge aus ihrem Programm sind abgedruckt in Engelhardt 1943: Anl. IV, S.229-231 7Direnok 1976:9 8Direnok 1976:10 9ebd.

Unterst�tzung der Provisorischen Regierung und forderte eine Landaufteilung ohne Entsch�digung10. Im uezd Recyca fand die 1. Sitzung des Bauernrates Ende Mai statt11. Wie sonstwo auf dem Terrain des Russischen Reiches nutzten auch die ostpolesischen Bauern die Schw�che der staatlichen Macht und belie�en es nicht nur bei Resolutionen: In Morocy teilten sie am 18.5.17 Kirchenland auf12, in der Volost' Mikulic (uezd R�cyca) verjagten sie Anfang Juni alle alten Amtstr�ger, so da� der Landgutbesitzer Rudakov das Milit�r um Hilfe bat: es m�ge die "Republik Mikulic" liquidieren13. Es ist schwer, die Bauernbewegung des Jahres 1917 in Polesien zu beurteilen; es scheint aber, als w�re sie etwas schw�cher als in anderen Gebieten entwickelt gewesen.

Auch die Oktoberrevolution wirkte sich schnell auf die Situation im �stlichen Polesien aus. Bei den Neuwahlen des Arbeiter- und Soldatenrates von Homel' in der ersten Novemberh�lfte wurde dieser mehrheitlich bol'sevistisch: er setzte sich aus 109 Bol'seviki, 65 Vereinigten [Obedinennye], 26 linken Sozialrevolution�ren und 98 Parteilosen zusammen, wobei leztere meist f�r die Bol'seviki stimmten; im IspolKom hatten die Bol'seviki nunmehr 4 von 7 Sitzen14. In Recyca hatten die Bol'seviki sogar schon im August nach Neuwahlen den Vorsitzenden, den Sekret�r und den Zeitungsherausgeber stellen k�nnen15 und hatten schon vor der Oktoberrevolution die Ratsmehrheit inne; eine Neuwahl am 29.10.1917 verlief daher f�r die Leninisten problemlos16. Der Arbeiter- und Soldatenrat von Mazyr blieb dagegen noch in der Mehrheit der sogenannten vers�hnlerischen Kr�fte17. Die noch getrennt arbeitenden Bauernsowjets stimmten zwar f�r die Sowjetherrschaft, aber gegen die f�hrende Rolle der Bol'seviki.18 Bei den Wahlen zur Konstituante im Oktober und November 1917 errangen die Bol'seviki, obwohl sie in Ostpolesien immerhin �ber einige Zellen in Stadt und Land verf�gten, nur bei den Soldaten der Garnisonen in Homel' (64,2%) und Mazyr (70%) die Mehrheit; in der Stadt Homel' errangen sie einen Achtungserfolg von 29,6%19. In der ersten H�lfte des Jahres 1918 hatten auch nach dem Ausschlu� der Men'seviki und rechten Sozialrevolution�re die linken Sozialrevolution�re 44% der Sowjetsitze auf uezd-Ebene inne, die Bol'seviki nur 37,8%; auf Gouvernementsebene waren die Sowjets aber schon zu 70% bol'sevistisch.20

10Izvestija Mozyrskogo Soveta 4.5.1917 laut Direnok 1976:26 11Direnok 1976:279 12ebd. 1976:26 13ebd. 1976:28 14ebd. 1976:60 15ebd. 1976:36 16ebd. 1976:60 17ebd. 1976:67 18ebd. 1976:63 19ebd. 1976:47 20Asmalo�ski 1975:43

Die Bol'seviki in Wei�ru�land bildeten keine monolithische Partei, es gab Rivalit�ten zwischen einer Gruppe um A.Carvjaka�21 und einer um A.F.Mjasnikov, die grob als nationalkommunistische und zentralkommunistische Str�mung qualifizierbar sind.22 Ungeachet des Sieges der Oktoberrevolution in Petrograd konstituierte sich am 17.12.1917 in Minsk der 1. Allwei�russische Kongre� [Persy Usebelaruski Kanhres] mit 1167 stimmberechtigten Delegierten, der das Recht der Wei�russen auf Selbstbestimmung verk�ndete, eine 71-k�pfige Rada und ein Exekutivkomitee w�hlte23; bol'sevistische Verb�nde l�sten den Kongre� jedoch nach einigen Tagen auf. Erst als nach dem Scheitern der Friedensverhandlungen zwischen der kommunistischen Regierung und Deutschland die deutschen Truppen am 18.2.1918 zum Angriff �bergingen und bald das ganze Gebiet der heutigen BSSR besetzt hatten24, konnten die wei�russischen Nationalisten erneut zusammentreten. Die Reichswehr f�rderte die von sozialistischen Parteien getragene wei�russisch-nationale Bewegung halbherzig, als aber von den national-wei�russischen Kr�ften am 25.3.1918 die Belaruskaja Narodnaja R�spublika (BNR) ausgerufen wurde, bremste die deutsche Milit�rverwaltung.

In Polesien gab es zwischen 1918 und 1921 kleinere Trupps, die offiziell, auf eigene Faust oder mit Unterst�tzung einflu�reicherer Kreise in den Kampf zogen. Seit Dezember 1917 machte z.B. ein wei�gardistisches polnisches Korps unter Dowb�r-Musnicki von sich reden. Im Januar 1918 erkl�rte er der Sowjetmacht offiziell den Krieg25, 25.000 Mann nahmen Rohace�, Zlobin, Babrujsk und Parycy ein und zerst�rten kleinere Orte. In Azaricy (uezd Recyca) flohen die Einwohner in den Wald26. Am 31.1. (13.2.)1918 wurden diese Truppen von den Sowjettruppen besiegt. Die Reichswehr hatte Anfang M�rz Rohace�, Zlobin, R�cyca und Homel' eingenommen.27 Die bisherigen Grundbesitzer bekamen das Land wieder zur�ck, sofern es aufgeteilt worden war. Ein Herr von Poton z.B. nahm den Bauern das von ihnen bes�te Land sowie das Vieh wieder weg28. Vieh29 und Nahrungsmittel30 wurden requiriert.

21Kurzbiographie in Kipel 1988:313f 22vgl. hierzu den Aufsatz von Sukiennicki 1965; Bergmanowa 1968:257 23Byelorussian Statehood 1988:364 24Direnok 1976: 70,77,79 25Direnok 1976: 71 26Direnok 1976:71 27Direnok 1976:84; vgl. Fich 1966:93 28Direnok 1976:84f 29Bor'ba za sovetskuju 1968:#127 30Bor'ba za sovetskuju 1968: #148, N�5, S.171

Die Kommunisten und andere Widerstand Leistende gingen hinter der Frontlinie in den Untergrund.31 Schon Mitte Mai explodierte im Hotel Savoj in Homel' eine Bombe, durch die "einige Dutzende Soldaten und Offiziere" get�tet wurden32. Auch die Bauern im uezd Recyca bek�mpften die Deutschen.33 Im Mai und Juni fanden in Recyca, Mazyr, Homel' und Dobrus Streiks statt,34 im Juli brach ein Eisenbahnerstreik aus,35 im August 1918 gab es erneute Erhebungen.36 Bei den deutschen Truppen sollen sich gem��igte Soldatenr�te gebildet haben.37 Nachdem im November 1918 in Deutschland die Republik ausgerufen wurde, annulierte am 13.11.1918 die Sowjetmacht den Brester Frieden vom 3.3.1918 auch offiziell, und die Bol'seviki versuchten nicht l�nger mit politischen, sondern mit milit�rischen Mitteln ihre Herrschaft auszudehnen; doch die Rote Armee konnte nicht ungehindert nach Polesien vordringen. Ende November �berschritt sie den Dnepr, Ende Dezember erst konnte sie sich in Homel' festsetzen; aus Nara�lja und Ovruca mu�ten erst unter dem Kommando von Symon Petljura stehende Truppen verdr�ngt werden38, und schon vor der Ankunft der Roten Armee hatten nicht n�her charakterisierte Partisanen ostpolesische Gebiete befreit39.

Auf gesamtwei�russischer Ebene schlugen die Leninisten eine neue Strategie ein. Obwohl sie sich fr�her nicht f�r eine wei�russische Republik stark gemacht hatten, gr�ndeten sie am 30.-31.12.1918 die KP(b)B und riefen am 1.1.191940 die SSRB aus. Nichtbol'sevistische Sowjets wurden nun nicht mehr geduldet. Nachdem auf der ersten Sitzung der wei�russischen Sowjets am 2.2.1919 und in Litauen am 18.-21.2.1919 eine Vereinigung avisiert worden war, wurde schon am 27.2.191941 die junge wei�russische Republik mit der litauischen zur LitBelSSR zwangsvereinigt. Auch dieser zweite Versuch, in Wei�ru�land eine Herrschaft der Kommunistischen Partei zu errichten, hatte keinen besonderen R�ckhalt in der Bev�lkerung. Im �stlichen Polesien z.B. bildete sich unter dem rechten Sozialrevolution�r Strekopytov ein Polesisches Aufstandskomitee [Polesskij povstanceskij komitet] heraus, das aus zwei dort stationierten Abteilungen der 8. Division von Tula

31vgl. einen Befehl Mjasnikovs vom 4.3.1918, abgedruckt in Iz istorii ustanovlenija 1954:#521, S.383 32Direnok 1976:8; vgl. auch Bor'ba zu sovetskuju vlast' 1968:#38, S.48 33Iz istorii ustanovlenija 1954:#524 34Direnok 1976: 91 35ebd. 1976:91-94 36ebd. 1976:99 37ebd. 1976:103 38ebd. 1976:105 39ebd. 1976:106 40Vakar 1956:108

41Fich 1966:250; Kaval' 1953:44; Sukiennicki 1965:106f; Vakar 1956:108f bringt den alten und neuen Kalender durcheinander; die SI� nennt den 28.2.1919

gebildet wurde. Von Kalinkavicy aus zog man in der Nacht vom 23. zum 24.3.1919 nach Homel',42 �berw�ltigte dort die aus leninistischen Eisenbahnern gebildete Miliz und hielt die Stadt f�nf Tage lang besetzt. W�hrend ein Teil der Soldaten eigentlich weiter nach Hause wollte, pl�nderten andere43. Erst als am 28. M�rz eine Verst�rkung der Roten Armee eintraf, konnten die Bol'seviki bis zum 29.3. die Stadt zur�ckerobern.44

Die bisherigen Schilderungen bezogen sich allesamt auf Ostwei�ru�land bzw. Ostpolesien. Was war aus den schon im 1. Weltkrieg von den Deutschen besetzten Regionen - in Polesien die westlich von Pinsk gelegenen - geschehen? Diese Gebiete hatten die Deutschen zum Teil unmittelbar an Verb�nde des im November 1918 wiedererstandenen Polen �bergeben, in Bialystok wurde am 10.2.1919 ein nicht von den Parlamenten ratifizierter und auch nicht sofort in allen seinen Teilen �ffentlicher Vertrag zwischen Polen und Deutschland unterschrieben45. Das ganze Gouvernement Hrodna (Grodno) wurde aber auch von der BNR und der LitBelSSR beansprucht, da die Mehrheit der Bev�lkerung Wei�russen waren. Die schwache BNR wurde auf dem internationalen diplomatischen Parkett nicht anerkannt.46 Um so einfacher war es f�r polnische Trupps, - sei es unter der Losung einer F�deration oder eines Nationalstaates, sei es in offiziellem Auftrag oder auf eigene Verantwortung -, im Gouvernement Hrodna bei den Bauern Nahrung und andere G�ter zu requirieren. Die Wei�russen hatten zwar eigene Truppen bescheidener St�rke aufgebaut47 und im November 1918 die "erste wei�russische Division" zusammen mit Litauern unter La�rencie� gebildet,48 die polnischen Verb�nde nahmen jedoch diese nur "400 Soldaten"49 umfassende Truppe am 1.6.1919 auseinander50. Die polnische Verwaltung ordnete ungeachtet der Proteste seitens der BNR Wahlen zur polnischen Konstituante in Westwei�ru�land an.51 Die BNR konnte sich nicht zwischen der Sowjetmacht auf der einen und Polen auf der anderen Seite behaupten. Es gab aber auch wei�russische Gruppen, die die Versprechungen einer F�rderation aus dem Pilsudski-Lager ernst nahmen und zugunsten Polens Partei ergriffen52; Wei�russen gab es also in allen drei Lagern: BNR, Polen und Sowjetstaat.

42Direnok 1976: 126/127 43ebd. 1976: 129 44ebd. 1976:130 45Deruga 1969:insbesondere S.171-177 46vgl. unbeantwortete Schreiben, abgedruckt in Za Dzjarza�nuju 1960:37-39 47Engelhardt 1943:106m 48Kaval' 1953:44 49Deruga 1969:179; vgl. auch Lewandowski 1962:207f 50Kaval' 1953:44 51Za dzjarza�nuju 1960:34-39; �bersetzte Dokumente in Engelhardt 1943:332-338 = Anlagen V-VII 52Shotwell 1976:45f; Lewandowski 1962:208-210

Die polnische Armee war schon im Februar 1919 auch in ein Gebiet eingedrungen, das auch von der LitBelSSR beansprucht wurde53. Der polnisch-sowjetische Konflikt eskalierte zum B�rgerkrieg. Die Truppen Pilsudskis stie�en zun�chst in Polesien vor und nahmen Anfang M�rz 1919 Mazyr, Kalinkavicy und Vasilevicy ein: W�hrend die Sowjetverb�nde Kalinkavicy panikartig verlie�en, verteidigten sie Vasilevicy.54 Am 22.4. eroberten die Heere Pilsudskis Vilnius. Im Mai wurden in einem neuen Vorsto� Minsk (22.5.)55 und in Ostpolesien Recyca und Loe� erobert, die Polen standen am Dnepr. Ein Jahr lang sollten sie die milit�rische Herrschaft in Polesien in einer zumindest oberfl�chlichen Weise innehaben.

Die Wende im polnisch-sowjetischen Krieg trat am 12.6.1920 mit der R�ckeroberung von Kyiv (Kiev) durch die Rote Armee ein. Zwischen dem 18. und dem 28.6. mu�ten die Polen aus Mazyr, Recyca, Vasilevicy, Chojniki und Kalinkavicy abziehen, am 11.7. aus Minsk. Ab diesem Zeitpunkt war Ostpolesien in der Hand der Roten Armee, w�hrend sich in Westpolesien keine feste Herrschaft etablieren konnte. Nachdem die Rote Armee am 16.8.1920 vor Warschau gescheitert war, stie�en die Polen im Gegenzug wieder �ber ethnisch mehrheitlich von Polen besiedeltes Gebiet (= �ber die Curzon-Linie) hinaus vor. Am 12.10.192056 wurde der Waffenstillstand zwischen Polen und den Sowjetrepubliken RSFSR und USSR unterzeichnet; die BSSR war nicht am Verhandlungstisch vertreten.57 Danach herrschte keinesfalls Ruhe im Prypjac'-Becken. Mitte November 1920 hinterlie� eine polnische Truppe unter Bulak-Balachovic ihre Spuren im ganzen uezd Mazyr und im Gro�teil des uezd Recyca, noch im Februar und M�rz 1921 besetzten Balachovics Mannen unter seinem Nachfolger, einem gewissen Halaka, Orte im S�den der uezde Recyca und Mazyr58; sie waren auch im uezd Pinsk, der nun zu Polen geh�rte, ungern gesehene G�ste59. Ende 1920 brach in Sluck (zu BSSR) ein bewaffneter Aufstand aus; es ist unklar, ob dieser Aufstand von Luckevic von der BNR in Vilnius oder auch von den Schergen Bulak-Balachovics unterst�tzt wurde oder nicht.60 Polesien war also vom B�rgerkrieg nicht verschont geblieben. Die Bauern in den D�rfern und die j�dischen Handwerker und H�ndler in den Stetl61 versuchten, sich bewaffnet zu verteidigen.

53Direnok 1976:120-164; Fich 1966:221 54Direnok 1976:170 55Vakar 1956:109; Fich 1966 und Kaval' 1953 sagen: 8.8.1919 56Borba trudjasciesja I 1962: #1, S.25; vgl. Direnok 1976:177 57Ausz�ge des Vertrages in Bor'ba trudjasciesja I 1962:#1, S.25f 58Direnok 1976:186 59Biegun 1982:93-96 60Vakar 1956:115; Kipel in Byelorussian Statehood 1988:209-17 61Biegun 1982:70

Am 18.3.1921 wurde der endg�ltige Frieden zwischen Polen und den Sowjetrepubliken unterzeichnet. Nicht nur die Resteverwalter der BNR im Exil (seit 13.11.1919 mit Sitz in Riga62), sondern auch die Repr�sentanten der BSSR nahmen an den Friedensverhandlungen nicht teil: auf sowjetischer Seite f�hrten die RSFSR und die USSR die Verhandlungen63. Die Grenze trennte Wei�ru�land und auch Polesien mittenzwei; hier verliefen weder "historische" noch ethnische Grenzen - das Nationalstaatsprinzip, das auf der Versailler Konferenz von Finn-land bis Rum�nien durchgesetzt werden sollte, blieb hier vollkommen unber�cksichtigt.

Bei n�herer Betrachtung stellt sich dieser Grenzverlauf jedoch nicht ganz so willk�rlich dar. Pragmatische Gr�nde schienen bei dieser Grenzziehung den Ausschlag gegeben zu haben. Polen wollte unbedingt Lemberg und Vilnius bekommen; die Sowjetseite aber hatte genauso wie die polnische im Auge, ein solches Gebiet zu bekommen, in dem die Aussicht bestand, die jeweilige Herrschaft ohne gr��ere Schwierigkeiten installieren zu k�nnen. In diesem Punkt unterschieden sich West- und Ostwei�ru�land sehr. Je weiter �stlich ein Ort lag, um so l�ngere Zeit hatte sich zwischen Oktober 1917 und M�rz 1921 die Herrschaft der Bol'seviki etabliert, um so gr��er war die Zahl zuverl�ssiger Parteikader usw. W�hrend in Ostpolesien die Februarrevolution und die Oktoberrevolution miterlebt und mitgestaltet wurden, hatte man in Westpolesien, wo die Deutschen die Region besetzt gehalten hatten, nur davon geh�rt. Brest wurde z.B. von den Deutschen direkt an Polen �bergeben, und die Landbev�lkerung hatte die Revolution nur im Juli und August 1920 in Gestalt der Truppen der Roten Armee kennengelernt, die wie jede andere Partisanengruppe von der Requirierung von Nahrungsmitteln und anderen G�tern lebte. Auch 200 km weiter �stlich, in Davidharadok, mi�traute die j�dische Stadtbev�lkerung auch dann der Roten Armee, als sie behauptete, Vieh nur von den G�tern der Radziwills requirieren zu wollen.64

4.2. Agrarverfassung und Agrarpolitik Von 1917 bis 1920 gab es in Wei�ru�land mangels stabiler politischer Verh�ltnisse auch keine einheitliche Agrarverfassung. Die Periode soll in vier Phasen unterteilt werden, die in Polesien je nach geographischer Lage in den Orten Polesiens unterschiedlich lange w�hrten: 1. Die Phase von der Oktoberrevolution bis zur deutschen Besatzung, 2. Die Phase der deutschen Besatzung, die im Westen schon w�hrend des 1. Weltkriegs, im Osten seit M�rz 1918 begann; 3. die Phase

62Kaval' 1953:46 63Die BSSR hatte die RSFSR mit der Verhandlungsf�hrung beauftragt; Ausz�ge des Vertrages in Bor'ba I #6, S.32-35 64Biegun 1982:64,71f

der SSRB bzw der LitBelSSR Ende 1918 bis April 1919, 4. Die Phase der polnischen Besatzung von April 1919 bis Mitte 1920.

In den mittleren und westlichen Gebieten Wei�ru�lands, also dort, wo es keine obscina gab, bereitete eine Aufteilung des Bodens mit dem Ziel, den Vorgaben der sowjetischen Bodendekrete (zun�chst "Dekret �ber den Boden" vom 26.10. 1917) gerecht zu werden, von Anfang an Schwierigkeiten.65 Eben weil es keine obscina gab, gab es nicht die Tradition, das Land nach Essern oder nach Arbeitsnorm aufzuteilen.67 Das Dekret �ber den Boden68 wurde in Wei�ru�land gar nicht sofort bekannt69. Das f�r Wei�ru�land zust�ndige Sowjetorgan OblIsKomZap gr�ndete am 26.11.1917 eine Bodenabteilung70, die aber insbesondere im Gouvernement Minsk nicht durchsetzen konnte, da� das Dekret durchgef�hrt wurde. Dies lag nicht nur an den kriegerischen Aktivit�ten Dowb�r-Musnickis, sondern auch an der gem��igten Linie der Bodenkomitees im Gouvernement. In "Vorl�ufigen Regeln �ber die �bergabe der Gutsh�fe in die Verwaltung von Bodenkomitees" vom 23.11.1917 wurde festgelegt71, da� nur in bestimmten F�llen enteignet werden sollte und den Gutsherren der Hof, Nahrungsmittel f�r die Familie, Futter f�r Vieh, 2-3 K�he, Geld und sogar zwei Pferde belassen werden sollten. Die Enteignungen wurden zum Teil diszipliniert, zum Teil unter Zerst�rungen durchgef�hrt.72 Manche Gutsherren wurden ausgesiedelt und durften in anderen Gouvernements mit ihrer pers�nlichen Habe und einem kleinen Bodenst�ck ein neues Leben beginnen73; widersetzten sie sich, wurden sie jedoch verhaftet: am 23.1.1918 wurden z.B. W.Wasilewski, F�rst Radziwill und andere nach Mahile� ins Gef�ngnis gebracht74. Bis Mitte Februar 1918 waren 13.000 Grundbesitzer enteignet worden75. In dieser Zeit waren in Ostwei�ru�land nominell 1 bis 1,8 Millionen Desjatinen an die Bauern gegangen. Die Bauern teilten das Land aber nur zum Teil wirklich auf. Es gab gro�e regionale Unterschiede: W�hrend in den Gouvernements Vicebsk und Mahile� die Aufteilung durchgef�hrt wurde, blieben im Gouvernement Minsk, zu dem Ostpolesien geh�rte, die von den Linken Sozialrevolution�ren und Bol'seviki gef�hrten Bodenkomitees oft unt�tig. Es mag an der unterschiedlichen Agrarverfassungstradition gelegen haben, vielleicht war aber einfach die Frontn�he der Grund. Die

65Vor Oktober 1917 traten die Bauernsowjets gem��igt auf; in R�cyca forderten sie eine Umverteilung des Viehs [Umeckij 1963:18] 67Leninskij dekret 1970:112] 68auf deutsch in:Hellmann 1969:#87e,S.315 69vgl. Fich 1966:31 70Fich 1966:42 71Fich 1966:48f 72Fich 1966:53f 73Fich 1966:57 74Pobeda 1957 II:829 75Marcenko 83 laut Fich 1966:59

Fr�hjahrsaussaat konnte in Ostpolesien nicht mehr durchgef�hrt werden, ehe die Deutschen es besetzten. Die Deutsche Besatzung requirierte in den eroberten Gebieten Getreide und Vieh, um sich selbst und die hungernde Heimat zu versorgen. Eine Landwirtschaftspolitik wurde nicht betrieben, nur an einer Auspl�nderung der Gebiete bestand Interesse. Dies war verheerend f�r die landwirtschaftliche Produktion und die materielle Lage der Landbev�lkerung.

Die Aktivisten der in der Zeit zwischen der deutschen und der polnischen Okkupation ausgerufenen Republiken BSSR (1.1.1919) und LitBelSSR (ab 27.2.1919) machten sich bei der Bauernschaft sehr unbeliebt, weil sie noch weiter gingen als diejenigen der RSFSR und unmittelbar die gesamten Gutswirtschaften f�r verstaatlicht erkl�rten; sie teilten sie nicht auf, lie�en sie den Bauernfamilien nicht zukommen.76 So wurde z.B. im Gebiet Homel' der Meierhof "Prudok", der vorher dem F�rsten Paskevic' geh�rt hatte, zum "Volkseigentum" erkl�rt77. Die II. Konferenz der KPLiB [2.-4.2.1919] wandte sich entschieden "gegen die Aufteilung der Gutsl�ndereien, die dem Land unbeschreibliche Armut bringen kann"78; Im M�rz 1919 gab es im uezd R�cyca 41, in uezd Mazyr 14 Sovchose (staatliche Landg�ter)79 Als Leiter der Sovchose wurden oft die ehemaligen Gutshofverwalter, manchmal sogar deren ehemalige Besitzer eingesetzt81. Damit die Sovchose funktionierten, half der Staat mit Geld; aber es fehlte ihnen an allem: an Zugkraft und Inventar82, an Leitern und Landarbeitern83. Infolgedessen wurde wie schon 1918 (deutsche Okkupation) auch 1919 eine betr�chtliche Fl�che nicht bes�t. Als dies im April bekannt wurde, wurde verf�gt, da� die Ackerb�den der Sovchose gegen eine Abgabe von 1/6 bis 1/3 der Ernte und die Wiesen gegen Abgabe von 1/4 bis 1/2 des Heus verpachtet werden sollten84: Dennoch wurden nur 32% des Bodens der Sovchose bes�t.85 Die Bauern meinten, fr�her h�tten sie es besser gehabt als unter dieser neuen Form der Ausbeutung. "In allen volosti des uezd Recyca hungerten die Bauern im Fr�hjahr 1919 buchst�blich"86. Ausgerechnet dort, wo es keine obscina gegeben hatte und die Bauern in Kategorien des privaten Bodenbesitzes dachten, sollten die Landarbeiter Landarbeiter bleiben. Die marxistischen Gedanken der Strategen der LitBelSSR,

76Leninskij dekret 1970:113; Fich 1966:229 77Vecernjaja gazeta (Homel') vom 29.12.1918 laut Direnok 1976: 121 78Fich 1966:231 79Fich 1966:234; im Herbst 1919 gab es im uezd Recyca 40, im uezd Mazyr 18 Sovchose [Direnok 1976:122] auf ehemaligen Gutsl�ndereien 81Fich 1966:235 82ebd. 1966:236 83ebd. 1966:237 84ebd. 1966:238,241 85ebd. 1966:239 86ebd. 1966:327

da� ein Gutshof eine entwickelte Form l�ndlicher Wirtschaft darstelle und nur noch mit einem staatswirtschaftlichen Vorzeichen versehen werden m�sse, wurden von Lenin eigentlich zwar - zumindest aus taktischen Gr�nden - abgelehnt, jedoch gab er diesem wei�russischen Sonderweg seinen Segen.87 Als Argument gegen eine Landaufteilung wurde auch angef�hrt, da� sie angesichts der landwirtschaftlichen �berbev�lkerung ohnehin sinnlos sei88 und man Landarbeiter besser als Bauern organisieren k�nne. Auf der anderen Seite scheint man aber die Organisationsf�higkeit der Bauern nicht untersch�tzt zu haben: zur Ernte im August wurden Milizen gebildet, zum Produktionseinsatz wurden - wohl nicht nur zum Schutz vor polnischen Verb�nden - "erfahrene Parteigenossen" geschickt.89 Au�erdem beanspruchte der Staat das Handelsmonopol, verbot den Getreideverkauf ("Kriegskommunismus")90. Diese Wirtschaftspolitik diskreditierte die Bol'seviki bei den Bauern, in deren Augen sie nun endg�ltig als eine feindliche Organisation erschienen, die deswegen zu ihnen kam, um ihnen etwas abzunehmen. Ab Februar 1919 gab es Aufst�nde von sogenannten Kulaken (Gro�bauern). In Kapatkevicy nahmen Bauern im Februar oder M�rz die Mitglieder des IspolKom der Volost' fest und zerst�ckelten zwei von ihnen.91 Auch der zeitweise Erfolg des oben erw�hnten Strekopytov-Aufstands wird auf die "kriegskommunistischen" Getreiderequisitionen zur�ckgef�hrt. Selbst der KP-gef�hrte Sowjet von Homel' fa�te im M�rz 1919 eigenm�chtig einen Beschlu� �ber freien Getreidehandel,92 auf dessen Illegalit�t seine Mitglieder auf dem 8.Parteitag der RKP(b) hingewiesen wurden.

Im Jahr 1920 sah die sowjetwei�russische F�hrung ihre "Fehler" ein, und �bte am 2.3.1920 Selbstkritik93. Auf der 3. Sitzung der Sowjets des uezd R�cyca forderte man, die Entnationalisierung der bestehenden Sovchose durchzuf�hren und die B�den der �rtlichen Bev�lkerung zu �bergeben94. Am 24.5.1920, also zur Zeit des weitesten polnischen Vorsto�es, �nderte die LitBel-Regierung ihre Agrarpolitik: nun pl�dierte sie f�r eine Landaufteilung bei gleichzeitigem Erhalt von Sovchosen "zur Versorgung der Stadtbev�lkerung".95 Aber erst im November 1920 - nach dem Waffenstillstand mit Polen - wurden die organisatorischen Voraussetzungen zur Landaufteilung geschaffen96.

87Fich 1966:241 88ebd. 1966:242 89ebd. 1966: 239 90ebd. 1966:231 91Direnok 1976:125 92Direnok 1976:132 93Fich 1966:254 94Fich 1966:266 95Leninskij dekret 1970:114 96Fich 1966:259

Nun orientierte man sich an der RSFSR: Der Boden wurde aufgeteilt, es wurde eine Arbeitsnorm aufgestellt, gem�� der eine Familie nur einen Hof mit einer solchen Gr��e f�hren d�rfe, den sie selbst auch bearbeiten kann. Verpachtung von Boden wurde verboten. All dies wurde dann auf dem 2. Allbelorussischen Kongre� der Sowjets (17.12.20) best�tigt. Der NarKomZem der Republik gab am 30.12.20 spezielle Anweisungen heraus.97

Zuvor waren aber die Polen auch nach Ostpolesien einmarschiert: Die polnischen Verb�nde, die z.T. nur locker von oben befehligt wurden und deren Ausschreitungen daher von Warschau geduldet wurden, machten sich bei der einheimischen Bauernschaft mit ihren Requirierungen und Pogromen sehr unbeliebt, in den meisten F�llen wohl noch unbeliebter als die Rote Armee. Im Homel'schen Gebiet sollen daher die Bauern z.B. 2700 Pferde gegen Polen gestellt haben98. Auf dem R�ckzug der polnischen Truppen im Juni und Juli 1920 schlug ihnen der Ha� der Bev�lkerung entgegen99. Der Bauer V.I.Talasa, der in der Erz�hlung "Ded Talasa" von Jakub Kolas in die Literatur einging, sammelte 300 Leute, die in Dryhva die Polen verjagten100. Das Verhalten der polnischen Truppen beeinflu�te auch das sp�tere Verh�ltnis der Menschen in Westpolesien zur polnischen Obrigkeit in der Friedenszeit101.

Im Ergebnis waren betr�chtliche Teile Wei�ru�lands zerst�rt worden, in Westpolesien waren 1924 erst 24% wiederaufgebaut, die Bev�lkerung sehnte sich nach Frieden102, aber der Ha� gegen die nicht�rtliche Bev�lkerung war ebenso gro�. So wurde durch das Verhalten der Kommunisten, der Deutschen, der Polen wie auch der verschiedenen Partisanenverb�nde die Bauernschaft in ihrer �berkommenen Erfahrung best�tigt, da� all das, was von au�en kommt, nichts Gutes zu bedeuten hat.

97Leninskij dekret 1970:114 98Direnok 1976:173 99Direnok 1976:175 100Direnok 1976:175 101Obrebski 1936a:427 102vgl. Korus-Kabacinska 1961:164

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5. DER POLITISCHE UND KULTURELLE RAHMEN IN DER BSSR Bei der Untersuchung Ostpolesiens ist es unbedingt n�tig, zwei Perioden der Entwicklung zu unterscheiden: die Periode der Neuen �konomischen Politik [Novaja �konomiceskaja politika - N�P] bis 1929 und die der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft ab 1929/30.

5.1. Die Politik in der BSSR in der Periode der Neuen �konomischen Politik 1921-1929 Genauso wie andere Parteien auf dem Gebiet des ehemaligen russischen Reiches war auch den Bol'seviki ein wenig hinterfragter gro�russischer Nationalismus eigen. Dieser wurde aber durch nichtrussisch-kommunistische Kr�fte auch in Wei�ru�land angeprangert. Die auf diesem Hintergrund von Lenin entwickelte Nationalit�tenpolitik - sei sie nun rein taktisch oder l�ngerfristig und strategisch konzipiert gewesen - hob sich vom gro�russischen Chauvinismus ab: Jedes Volk sollte selbst �ber den Beitritt zur - Ende 1922 gebildeten - Sowjetunion, aber auch �ber den Austritt entscheiden k�nnen. Durch die korenizacija-Politik ("Verwurzelung"), die in der BSSR unter dem Schlagwort "belorussizacija" gef�hrt wurde, sollte sich die Partei mit aus den jeweiligen Regionen stammenden Kadern in eben diesen Regionen etablieren. Doch wie weit die Eigenst�ndigkeit der Nationen und Regionen des ehemaligen Russischen Reiches gehen sollte, wurde zu einer Frage, die in der politischen Praxis ausgefochten wurde. An diesem Punkt spannte sich das politische Feld auf, auf dem nicht nur die Nationalit�tenfrage entschieden werden sollte. Auf der einen Seite versuchte Moskau, die BSSR eng an die Sowjetunion anzubinden und durch eine einheitliche Politik den Spielraum f�r Sonderstellungen der BSSR auf das Ma� zu reduzieren, das Moskau selbst anstrebte. Auf der anderen Seite versuchten verschiedene wei�russische Kr�fte, die Politik der Zentrale �ber die nationale Schiene zu unterlaufen. Dies gelang insbesondere im Kultur- und Bildungssektor. Es konnten ein immer mehr expandierendes Institut f�r die wei�russische Kultur (InBelKult) und eine wei�russische Akademie der Wissenschaften in Minsk errichtet werden, der Schulunterricht, die Beh�rden- und Parteisprache wurden auf die wei�russische Sprache umgestellt.1 Weniger Erfolg hatte diese Politik jedoch auf den machtpolitisch wichtigen Gebieten. Eine eigene Au�en- und Sicherheitspolitik gab es kaum: 1921 wurde zeitlich nach der Unterzeichnung des Rigaer Friedens, also eigentlich ziemlich sp�t2, ein B�ndnisvertrag zwischen RSFSR und BSSR geschlossen.

1Engelhardt 1943:175 2Dies stellt Engelhardt 1943:164-166 heraus

Die KP(b)B war der RKP(b) und sp�ter der VKP(b) direkt unterstellt: "Die KP(b)B ist eine regionale Organisation der RKP, die die Prinzipien und Taktiken der RKP ins Leben f�hrt, sie auf die �rtlichen Gegebenheiten anwendet", hie� es in einer Erkl�rung des 3. Parteitages der KP(b)B im November 19203. Wenn auch die KP(b)B in den folgenden Jahren sich etwas mehr Eigenst�ndigkeit erk�mpfte, so blieben doch die entscheidenden Posten von Moskau aus ein- und absetzbar.

Die j�dische Bev�lkerung war unter den Hauptleidtragenden des 1. Weltkriegs gewesen. Ihre Zahl war auf dem Gebiet der BSSR infolge der Pogrome in Krieg und B�rgerkrieg 1923 sogar auf einen niedrigeren Stand als 1897 zur�ckge-gangen.4 Zudem wanderten Juden in andere Gebiete der UdSSR, da die Ansiedlungsbeschr�nkungen nun fortgefallen waren. Von Antisemitismus, der sich auch fr�her schon in Wei�ru�land nicht so oft in Pogromen niedergeschlagen hatte wie in der Ukraine, war in den 20er Jahren nichts zu sp�ren, die Juden nahmen am politischen und kulturellen Leben der BSSR einen starken Anteil. Der j�dischen und polnischen Minderheit wurden, besonders auf kulturellem Gebiet, eigene Institutionen gew�hrt.5

Aber auch, nachdem der B�rgerkrieg offiziell f�r beendet erkl�rt worden war und sich die gro�en Nationen mit der UdSSR arrangiert hatten, gab es Widerstand gegen die bol'sevistische Herrschaft in der BSSR. Ende 1924 standen in Sluck nahe der polnischen Grenze Bauern, (die sowjetische Geschichtsschreibung spricht von Kulaken) f�r ein "Unabh�ngiges Wei�ru�land" unter einem gewissen JU. Listapad auf. Erst 1925 wurde der Aufstand niedergeschlagen6, am 5.3.1926 begann in Minsk der Proze� gegen die Anf�hrer7. Au�erdem existierte eine "Union f�r die Wiedergeburt Wei�ru�lands" unter Nekrasevic und Lesik8. Im Jahr 1925 gab es politisch-�konomisch interpretierte Morde in der BSSR9.

Trotz der r�den Methoden der Einparteienherrschaft faszinierten die bescheidenen belorussizacija-Ma�nahmen jedoch die im Exil lebenden Politiker der

3KP(b)B u r�zalucijach, Minsk 1934, S.167; zitiert in Lyc 1987:56 4Pjatiletnyj plan 1929:59 5Lubachko 1972:89f; Hlybinny 1959:40; ein anderes Bild bez�glich der polnischen Minderheit wird in Polityka norodowosciowa na Bialorusi sowieckiej 1927:22f entworfen 6Istorija BSSR II 1961:213 7Kaval' 1953: 46 8Die Namen sind auf russisch wiedergegeben; Istorija BSSR II 1961:214; es handelte sich wohl um dieselben Personen, die sp�ter am 22.7.1926 einen Aufruf gegen Polen und f�r die BSSR unterschrieben - vgl. Dokumenty V(1966):408, #221 9Istorija BSSR II 1961:214

BNR, deren Sitz zwischendurch nach Kaunas und am 2.11.1923 nach Prag verlegt worden war10. In einer Konferenz mit dem BSSR-Vertreter Zylunovic11 in Berlin am 20.10.1925 gab die BNR, vertreten durch V. Lasto�ski und A.Cvikevic, offiziell den papiernen Kampf f�r die Wiedererrichtung der BNR auf, sie unterstellte sich der BSSR12. Dadurch wurde eine noch breitere Welle der Belorussizacija erm�glicht; die aus dem Exil Zur�ckgekehrten erhielten hohe Stellungen, allerdings keine politischen Schl�sselstellungen, sondern Positionen im Bereich Wissenschaft und Kultur.13

5.2. Die Politik in der BSSR in der Periode der Zwangskollektivierung (1930-1939) In der Zeit des Stalinismus wurden alle Ans�tze zu einer gewissen Autonomie der BSSR wieder zur�ckgenommen. Die Formel Stalins - "National in der Form, sozia-listisch im Inhalt" - dr�ckte Sprache, Kultur, Br�uche als "nationale Ph�nomene" auf eine folkloristische Ebene herab. In einer gro�angelegten Kampagne wurde der "NacDemokratizm", der wei�russisch-national orientierte "Demokratismus", angeprangert, und die dieser Ideologie oder einer angeblichen entsprechenden Organisation anh�ngenden Personen wurden verhaftet und liquidiert. In der BSSR waren tats�chlich mit U.Ihnato�ski, A.Smolic, Z.Zylunovic und CIK-Chef A.Carvjaka� M�nner in hohe Positionen gelangt, die nun nicht nur mit A.Cvikevic und R.Lasto�ski Verst�rkung aus dem Exil bekommen hatten, sondern die auch au�erhalb der BSSR lebende Radikale (S.Rak-Michajlouski, I.Dvarcanin, B.Taraskevic) und Nicht-Radikale (R.Astro�ski, JA.Varonka, A.Luckevic, F.Jaremic) noch aus alten BSH-Zeiten oder aus dem Jahr 1917 kannten. Aber egal, wie diese Leute wirklich zueinander standen, die stalinistische Paranoia witterte �berall Verschw�rungen und liquidierte die wei�russische Intelligenz. Das Lied ist aus der allgemeinen Geschichte der UdSSR bekannt: mit der Methode der Salamitaktik wurde die erste gro�e Repressionswelle 193014, die zweite 193315, die dritte 1936/37 durchgef�hrt. Parallel dazu wurden S�uberungen der Partei in den Jahren 1933 (16% der Mitglieder)16 und 1935/3617 durchgef�hrt. Im Ergebnis war nach Mord und Selbstmord kein einziger Mensch mehr lebendig, der Wissenschaft, Kultur, Partei oder Staat der BSSR mit aufgebaut

10Kaval' 1953:46 11Z.Zylunovic, stets auf der Seite der Nationalkommunisten, ist besser unter seinem literarischen Pseudonym Ciska Hartny bekannt [Randow 1987:464f; Kipel 1988:361f] 12Die Erkl�rung ist abgedruckt in Za dzjarza�nuju 68f; vgl. Kaval' 1953:48; Lubachko 1972:83; Bergman 1972:Anm.25; Staskevic 1985:291 13Hlybinny 1959:37-39; Lubachko 1972:84f 14Krushinsky 1953:25-29 15Krushinsky 1953:48-52 16Ocerki istorii KP(b)B 1967:193; Krushinsky 1953:47f 17Ocerki istorii KP(b)B 1967:200

hatte.18 Linksradikale und Kommunisten aus dem zu Polen geh�renden Teil Wei�ru�lands, die durch Gefangenenaustausch aus polnischen Gef�ngnissen "befreit" und in die UdSSR entlassen worden waren, wurden einige Jahre sp�ter in der UdSSR hingerichtet19. Aufst�ndische Vereinigungen wurden liquidiert.20 Auch die einfachen Leute wurden serienweise verhaftet21. Durch die Entdeckung der Massengr�ber von Kuropaty22 ist heute erwiesen, da� in "Friedens"zeiten Zehn-, wenn nicht gar Hunderttausende von Wei�russinnen und Wei�russen verschickt, gefoltert, get�tet wurden; behauptet wurde dies schon l�nger23.

5.3. Die �ffentliche Hand auf den D�rfern Einen Pr�fstein f�r das Ausma�, in dem die Sowjetmacht unter KP-Vorherrschaft etabliert war, stellten die Sowjetwahlen dar. Diese waren im Dezember 1924 "von wenigen besucht" gewesen; sie wurden daher im Februar und M�rz 1925 in 55% der Gemeindesowjets wiederholt.24 Wie in anderen Regionen der UdSSR war die Sowjetverwaltung auf dem Dorf nicht allzu sehr verwurzelt. Sie trat vielmehr dem Dorf als au�enstehende Obrigkeit entgegen. Ein Sel'sovet umfa�te in der Regel mehrere D�rfer.25 In den �rtlichen R�ten waren die Bauern v�llig unterrepr�sentiert.26 Nachdem sich in den 20er Jahren der "Staat im Dorf" (H.Altrichter) nicht hinreichend etablieren konnte, verschaffte er sich im Zuge der Zwangskollektivierung mit Terror Respekt. Im Grenzgebiet nach Polen war ein besonderer Grenzschutz des NKVD t�tig.27

5.4. Die kulturelle Infrastruktur: Kirche, Sprache, Presse Die Infrastruktur der Kommunikation (oder der Kultur) wurde auf den D�rfern au�er von den �mtern und der Exekutive von der Kirche, den Presseorganen und der allgemeinen Sprachenpolitik gepr�gt. Daher sollen in diesem Kapitel wie auch im entsprechenden Kapitel �ber die polnischen Verh�ltnisse diese Themen gestreift werden. Wie auch sonst in der Sowjetunion �blich, wurden die Kirchen und �berhaupt die Religionen bek�mpft. Nur solange keine Repressionen beim Kirchgang zu erwarten waren, ging die Bev�lkerung weiterhin der Aus�bung ihres

18Kipel 1985:66; Lubachko 1972:123-126; Listen Hingerichteter und Verschollener f�hren auf: Kaval' 1953:84-94; Za Dzjarza�nuju 1960:185-194; Hlybinny 1959:63 19Bergman 1972:271f; Engelhardt 1943:174 20Communist takeover 1955:18f 21vgl. Adamovic in Osteuropa 6/89,S. A297r+A299r 22in deutscher Sprache: Adamovic ebd.; Posnjak,S. [Paznjak, Z.] 1988:18 23Kabysh 1958:81f; Abramcyk 1950:31 24Istorija BSSR II 1961:215 25vgl. Vsesojuznaja perepis' 1928:3 26Kosman 1979:309 27Krushinsky 1953:63

jeweiligen Glaubens nach.28 In Sluck waren Anfang der 30er Jahre von 15 Kirchen [cerkev'] noch 2 offen29.

Die Alphabetisierung, eine Aufgabe, die in der UdSSR als sehr wichtig angesehen wurde, schritt voran, jedoch waren die Erfolge gerade in Polesien unterschiedlich. Wie die Statistik zeigt, konnten besonders die Frauen in der l�ndlichen Bev�lkerung in keiner Sprache lesen; im okrug Mazyr waren es zwischen 10 und 20%. Und dies war nicht nur eine Nachwirkung des Zarismus: In den l�ndlichen Gebieten des okrug Mazyr konnten von den 18.450 M�dchen im Alter von 15-19 Jahren nur 4.420 lesen, bei den Knaben waren es von 16.405 immerhin 11.02330. Im okrug R�cyca war die Alphabetisierungsquote der Jugendlichen besser: 5.913 von 13.941 M�dchen und 10.214 von 12.997 Jungen31. Insgesamt waren 41% der �lter als neun Jahre alten Gesamtbev�lkerung des okrugs Mazyr lesef�hig, im okrug R�cyca 49% (zum Vergleich: in der BSSR 53%)32. Gerade in den �stlichen Regionen Ostpolesiens, im okrug R�cyca, der ja erst 1926 an die BSSR kam, war �berdies die wei�russische Sprache nicht mehr sehr verbreitet: nur 28,4% der Sprecher sprachen diese Staatssprache33. Das Wei�russische blieb trotz der intensiven Bem�hungen seitens des "belorussisierten" Staates, der das Wei�russische als Amtssprache eingef�hrt hatte,34 eine Bauernsprache. Besonders krass kommt dies in den ostpolesischen St�dten der okruge R�cyca und Mazyr zum Ausdruck: Zwar bezeichneten sich hier 27 bzw. 46% der Bev�lkerung national als Wei�russen, aber nur 2 (!) bzw. 35% gaben 1926 diese Sprache als ihre Muttersprache an.35 In der stalinistischen Epoche wurde die Alphabetisierung weiterbetrieben, dabei aber das Wei�russische auf Kosten des Russischen zur�ckgedr�ngt.36 Eine Sprach- und Orthographiereform vom 28.8.193337 glich das Wei�russische an das Russische an, zum Polnischen hatte diese neue Norm einen gr��eren Abstand geschaffen. Offiziell galten im Januar 1939 die 9- bis 49-J�hrigen zu 98,7% (M�nner) bzw. 92,5% (Frauen) als lesef�hig.38

Im Buchwesen hielt sich die belorussizacija bis etwa 1935. B�cher wurden "nur" wegen ihres Inhalts vernichtet.39 Die absolute Zahl der j�hrlich erschienenen

28F�r Polesien: Melesh 1974:215-217; auch Sitten wie die "Speisung der Ahnen" hatten sich wohl noch erhalten vgl. ebd.S.230 29Minskij Muzik 1937:89f 30Vsesojuznaja perepis' 1928:168 31Vsesojuznaja perepis' 1928:198 32Vsesojuznaja 1928, vgl. Tabelle #58 im Anhang 33Guthier 1977:56 34Lubachko 1972:84f 35Vsesojuznaja perepis' 1928:220; ausf�hrliche Tabelle im Anhang ca.S.10 36vgl. Minskij Muzik 1937:78 37Hlybinny 1959:65f 38Itogi perepisi 1963:#26,S.39 39Communist takeover 1955:16

B�cher und Brosch�ren hatte 1932 mit 1520 Titeln ihren H�hepunkt; darunter befanden sich 157 Titel �ber landwirtschaftliche Fragen, 1300 Texte waren in wei�-russischer Sprache abgefa�t40. Danach ging es quantitativ und sicherlich auch qualitativ bergab; der Anteil wei�russischer Titel verringerte sich, ab 1937 wurden zudem vorwiegend Nachauflagen gedruckt.41 Zeitungen wurden in den 30er Jahren auch in kleineren Orten Polesiens herausgebracht.42 Es handelte sich aber um meist kurzlebige Ausgaben, die von Sovchosen, MTS oder Kolchosen herausgegeben wurden.43 Mit dem Verbot unabh�ngiger Presse und der Einschr�nkung religi�sen Lebens schon in den 20er Jahren sowie mit der Russifizierungspolitik in den sp�ten 30er Jahren wurde der Bauernschaft die M�glichkeit genommen, alte wie moderne Ausdrucks- und Kommunikationsmittel zu benutzen. Die Alphabetisierung hob zwar das Niveau der Ausdrucksf�higkeit, diese zu benutzen wurde aber nicht gestattet.

5.5. Die soziale Entwicklung Eine Urbanisierung h�tte das Problem des Landhungers entsch�rfen k�nnen. Daher stellt sich die Frage, ob eine solche stattgefunden hatte. Die Stadt Homel' hatte gegen�ber 1897 (36.775 Einwohner) einen starken Anstieg zu verzeichnen; 1926 lebten hier schon 86.393 Menschen. Von den 86.39344 Sowjetb�rgern dieser Stadt waren 37.745 Juden, 24.926 Russen, 18.833 Wei�russen, 1.804 Ukrainer und 1.683 Polen. Der Umweg �ber die Kategorie Nationalit�ten zeigt, da� die Stadt Neuzug�nge gegen�ber 1897 vor allem von Wei�russen aufwies, also von Bev�lkerung l�ndlicher Herkunft. Auch in den beiden gr��eren Stetln von Ostpolesien, Mazyr und R�cyca, nahm

Tabelle 10 Die nationale Zusammensetzung der Bev�lkerung von Homel', Mazyr und R�cyca im jahre 1926 [Vsesojuznaja Perepis'; Tom X; BSSR, Moskva 1928:218-223] �������������������������������������������������������������ͻ � |Homel' Mazyr R�cyca Homel' Mazyr R�cyca� �St�dte |Absolut Prozentual � �Wei�russen |18833 2481 5584 21,8 25,8 33,7� �Juden |37745 5901 7386 43,7 61,3 44,6� �Russen |24926 893 3030 28,9 9,3 18,3� �Polen | 1683 148 192 1,9 1,5 1,2� �Ukrainer | 1804 121 235 2,1 1,3 1,4� �Sonstige | 1402 79 132 1,6 0,8 0,8� �UdSSR-B�rger |86393 9623 16559 100,0 100,0 100,0� �������������������������������������������������������������ͼ

40Druk 1983:15,31,53 41Druk 1983:31 42Hazety 1984f II:156 43Hazety 1984f II:65-69 44Vsesojuznaja 1928:287

der Anteil der Juden ab und der der Wei�russen zu. Dieser Proze� verlief nicht so radikal wie in Homel' auf der anderen DneprSeite. Dennoch blieb die BSSR ein wenig urbanisiertes Land. Ende 1926 gab es hier nur 5 St�dte mit mehr als 30.000 Einwohnern und 12 St�dte mit �ber 5000 Einwohnern.45 In der Volksz�hlung vom Januar 1939, �ber die nur oberfl�chliche Daten vorliegen, wurden BSSR-weit 24,6% st�dtische Bev�lkerung gez�hlt.46

Diese Verst�dterung wurde zum Teil durch die Industrialisierung hervorgerufen. Die Industrialisierung kam laut den offiziellen Quellen der BSSR st�ndig voran, aber selbst deren eigene Statistiken zeigen ein etwas anderes Bild. Im Gebiet Mazyr hatte es 1913 43 Unternehmen mit 1267 Besch�ftigten gegeben, darunter allerdings 27 Schnapsbrennereien; 1927 waren es 25 Unternehmen mit 1101 Besch�ftigten, darunter nurmehr 2 Branntweinbrennereien.47 In der gesamten BSSR gab es am 1.1.1925 nur 13 Unternehmen mit mehr als 200 Besch�ftigten.48 In den 30er Jahren wurde zwar die Sowjetunion insgesamt, nicht aber Polesien industrialisiert. Es ist schwer zu beurteilen, inwiefern die soziale Mobilit�t oder zumindest die Chancen dazu gestiegen waren. Auff�llig ist die Herausbildung der Kategorie der "Angestellten": 1939 geh�rten 14,5% aller in der BSSR Besch�ftigten dieser Berufsgruppe an.49

Der Bau von Eisenbahnen, Chausseen und Wasserwegen sollte die Verbindung zwischen Stadt und Dorf verbessern; dies sollte einerseits den Warenverkehr (in beiden Richtungen) wie auch den kulturellen und Wissensverkehr (nur in eine Richtung) verbessern.50 Daraus wurde jedoch nichts. In Polesien wurde nur eine neue Eisenbahnlinie nach Oktjabr'skij gebaut. Den Anschlu� mehr abgelegener D�rfer ans Verkehrsnetz sollten Dorfbewohner in "freiwilligen" Kampagnen besorgen.51

45vgl. Tabelle #66 im Anhang �ber Ostpolesien 461.372.522 von 5.567.976 Einwohnern ; Bev�lkerungsstatistik Wei�rutheniens 1942:3 47Wie �berall in der Sowjetunion wurde der Kampf gegen den Alkoholismus propagiert. Die Bauern brannten sich ihre Getr�nke auch in Polesien selbst (vgl. auch Melesh 1974:220) 48Vosstanovlenie 1981:#130 49Itogi perepisi 1963: #27,S.40 50Lajko� 1929:4 51Melezs Roman [Melesh 1974] handelt von solch einer Kampagne, bei der ein Kn�ppeldamm gebaut wurde

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6. DIE B�UERLICHE WIRTSCHAFT IN OSTPOLESIEN

6.1. Agrarverfassung und Agrarpolitik 6.1.1. Die Agrarverfassung und Agrarpolitik in der BSSR in den 20er Jahren Die von den Bauern spontan aufgeteilten B�den waren schon vor dem Waffenstillstandsabkommen mit Polen von den Sowjets noch einmal neu verteilt worden [siehe oben]. Aber auch dies war nicht im Sinne des 3. Allwei�russischen Sowjetkongresses (10.-16.12.1921); er segnete eine Neuaufteilung des vergebenen Bodens ab: gem�� eines Gesetzes des CIK der BSSR vom 7.9.1922 wurde dasjenige Land den Gro�bauern wieder abgenommen, das sie selbst nicht bewirtschaften konnten, auf dem sie Lohnarbeiter besch�ftigten oder welches sie verpachteten.1 Was aus den einzelnen Elementen der zaristischen Agrarverfassung wurde, wird bezeichnenderweise in keiner Quelle genau unterschieden. Zwar gab es - bei abstrakt staatlichem Eigentum - in den 20er Jahren nur die beiden Nutzungsformen staatlich und privat, aber auf die interessante Frage, welche der B�den in welche Nutzung �bergingen, wird nirgends eingegangen. Eindeutig ist lediglich, da� das nadel- und das b�uerliche Land in die b�uerliche Nutzung �bergingen, das gutsherrliche, �ffentliche und kirchliche in die staatliche; was jedoch aus den Servituten, den genossenschaftlichen B�den wurde, bleibt un-klar.2 Rund 80% des konfiszierten grundherrlichen Bodens der BSSR wurde in einen Fond gegeben, aus dem der "arbeitenden Bauernschaft" (nach sowjetischer Terminologie w�ren hierzu auch die Kulaken zu rechnen) Land zur kostenlosen Nutzung zugeteilt wurde.3 Einzelheiten regelte eine spezielle Anweisung der volost'- und uezd-Bodenabteilungen vom 28.1.1921.4 Dabei wurde keine f�r die ganze BSSR g�ltige Norm aufgestellt. Vielmehr hing die Gr��e des zuzuteilenden Bodens von der Masse und Qualit�t des enteigneten Bodens, der Menge der Nutzungswilligen und der "Esser", also der Konsumenten auf der Hofstelle ab. Ein 3-4-Personen-Haushalt bekam durchschnittlich 4-5 Desjatinen, eine Menge, durch die bei g�nstigen Bodenbedingungen die Subsistenz gesichert ist. Die B�den wurden schnell und ohne katasterliche Erfassung verteilt. Die Flurverfassung - einerseits Gemengelage der Flure, andererseits einige Chutorwirtschaften - blieb dabei zun�chst unangetastet.

1Leninskij dekret 1970:116; Istorija BSSR II 1961:188 2vgl. S-ezdy sovetov II 1960:257 = Tesisy po agrarnomu voprosu N�26d (vom Dezember 1920) 3Leninskij dekret 1970: 114 4Leninskij dekret 1970: 115

Durch diese revolution�ren Ereignisse konnten von den 10.049.819 Desjatinen der BSSR, die 1917 zu 54,6% den Bauern, 39% den Einzelbesitzern und zu 6,4 % sonstigen geh�rten, �ber eine Million Desjatinen (also 10%) zugunsten der Bauern umverteilt werden; ungef�hr 500.000 Desjatinen aber gingen in die H�nde des Staates �ber, der zur Verwaltung dieses Bodens das Amt f�r staatliches Bodenverm�gen [GosZemImuscestvo] einrichtete5. Von der Enteignung waren rund 3000 Landg�ter und andere Privatl�nder betroffen.6 So konnte auch sp�ter mit dem "staatlichen Boden-Verm�gen" eine gezielte Politik der Landumverteilung durchgef�hrt werden, indem aus diesem Bestand Privaten, Genossenschaften, Sovchosen Land zugeteilt, verkauft, verpachtet oder eine staatliche Landreserve gebildet werden konnte.7

Am 29.3.1923 wurde vom 2. Kongre� des CIK der BSSR ein Landgesetz [Zjamelnyj kod�ks] verabschiedet, laut dem - wie in der RSFSR - der Boden als vollst�ndig nationalisiert bezeichnet wurde. Dies k�mmerte die Bauern jedoch wenig, da ihnen der Boden zur Nutzung �berlassen wurde8. Als Richtlinie f�r die Bodenmenge, die ein Hof zu erhalten habe, gab es eine Mindest- und eine H�chstgrenze der Norm. Je nachdem, in welcher von 5 Regionen der BSSR sich der Hof befand, lag das Minimum bei 5-7,5 ha, das Maximum bei 10-16 ha.9 Da in den Gebieten der damaligen Rumpf-BSSR10 die obscina-Verfassung im Zarenreich nicht existiert hatte, kannte auch der Landkodex keinen kommunalen Bodenbesitz11. F�r die Weide- und Waldgebiete in Polesien ergab sich somit die rechtliche Lage von Staatsgebieten, die f�r alle zug�nglich12 und de facto Niemandsl�nder waren. Mangels einer staatlichen Norm d�rfte die Nutzung der Fl�chen nach Gewohnheitsrechten erfolgt sein. Und da aus Vorf�llen in der zu Polen geh�renden Wojewodschaft Polesie bekannt ist, da� die Bauern auch die formal grundherr-lichen W�lder und Weiden als die ihren betrachteten, so ergibt sich, da� der Landkodex das Denken und Handeln der �rtlichen Bev�lkerung lediglich legalisierte. Die Bauern nutzten weiterhin die ehemaligen Servitute. Als am 3.3.1924 die BSSR auf die doppelte Gr��e erweitert wurde, galt in den dazugekommenen neuen Gebieten der fr�heren Gouvernements Vicebsk und Mahile� der RSFSR-Kodex zun�chst weiter. Im September 1924 wurde dann vom

5Perspektivnyj plan 1927:497; vgl. Ocerki istorii KP(b)B 1967:218 6Narodnaja 1974:93 7Perspektivnyj plan 1927:28u 8Lubachko 1972:73; Razvitie I 1973:103; Istorija BSSR II 1963:204 9Ocerki istorii KP(b)B 1967:120 10vgl. Karte 3 im Anhang 11Lubachko 1972:73; Istorija BSSR 1961:II:204 behauptet hingegen, durch den Landkodex sei Gemeinschaftsbesitz ermuntert worden 12Kosman 1979:313

ZK-Plenum der KP(b)B die Einf�hrung eines f�r die ganze BSSR einheitlichen Kodexes beschlossen, der am 1.9.192513 erlassen wurde: nun gab es auch im Osten der BSSR keine Verfassung mehr f�r kommunalen Landbesitz.14 Die Chutor- und Otrubbildung sollte der Sowjethistoriographie zufolge durch den Landkodex beschr�nkt werden, allzu gut situierten H�fen sollte Land abgenommen werden k�nnen15. Als "Besonderheit der BSSR" kannte der Kodex den pasjolak (etwa: kleine Neusiedlung). Solche pasjolki errichtete die Regierung auf ehemaligen Gutsh�fen und anderswo.16 Das Bodengesetz der BSSR enthielt auch schon Richtlinien f�r den Fall, da� Bauernfamilien sich zur gemeinsamen Bodennutzung und -bearbeitung entschlie�en sollten. Dieser Fall trat aber kaum ein.

Da Wei�ru�land und erst Recht Polesien schwach industrialisierte Gebiete waren, hatte die Einf�hrung der N�P wie auch ihre Beseitigung 1929/1930 den �berw�ltigenden Teil der Bev�lkerung, die ganze Volkswirtschaft betroffen. Wie in den anderen Sowjetrepubliken bedeutete die NEP die Einf�hrung von Steuern auf Ackerfl�che statt einer Zwangsabgabe und einen freien Klein- und Mittelhandel. Eine bestimmte durchg�ngige landwirtschaftspolitische Linie in der BSSR ist aber nicht zu erkennen. Vermutlich gab es auch Auseinandersetzungen in Regierung und Verwaltung. Zuweilen waren Beschl�sse �ber die landwirtschaftlichen Ziele gegenl�ufig: einerseits wurden z.B. Kooperativ- und Kollektivwirtschaften mit Subventionen und Krediten gef�rdert17 und Schulden landarmer H�fe erlassen, andererseits hatte man sichtlichen Gefallen an prosperierenden Einzelh�fen. Kaleko bezeichnet die Kulaken sogar als die "Lieblingskinder der Regierung".18 Der seit 1925 amtierende19 Landwirtschaftskommissar Pryscepa�, ein ehemaliger Sozialrevolution�r20, versuchte wiederum, gro�e Dorfeinheiten durch Aussiedlung zu verkleinern. Im Ergebnis bewirkte die Politik der 20er Jahre, da� das Land aufgeteilt wurde, die Agrarstruktur und -produktionsweise jedoch nur m��ig und mit den klassischen Mitteln (Geldpolitik) beeinflu�t wurde. Experimente wurden gef�rdert und nebenher durchgef�hrt. Willk�rma�nahmen wie z.B. neuerliche Verordnungen �ber Landumverteilungen, Steuern und selbst Requisitionen wurden von der

13Istorija BSSR 1961 205 sagt: 1.4.1925 14Lubachko 1972:73; Istorija BSSR 1961:II 204f 15Istorija BSSR 1961 II:205 16siehe hierzu unten 5.1.7.; Lubachko 1972:74 17Die einzelnen Arten der Kooperativ- und Kollektivwirtschaften sind im Glossar erkl�rt 18Kaleko 1929:59 19Lagun 1970:169 20Krushinsky 1953:11

Bev�lkerung st�ndig f�r m�glich gehalten, niemand rechnete jedoch mit der Zwangskollektivierung. Die fr�hsowjetische Bodenverfassung - staatliches Eigentum, private Nutzung - h�tte, w�re es nach den Bauern und dem Landwirtschaftskommissariat der BSSR gegangen, weitergef�hrt werden k�nnen und w�re dort auch weitergef�hrt worden, wenn nicht die auf Stalin eingeschworene Unions-KP nach einigen taktischen Schwenks auf die Kollektivierung gedr�ngt h�tte.21

6.1.2. Agrarverfassung und Agrarpolitik im Jahrzehnt der Kollektivierung (1930-1939) Da� die politischen Ma�nahmen in der NEP-Zeit angeblich nicht erfolgreich nivellierend gewirkt hatten und das Genossenschaftswesen sich schlecht entwickelt hatte [siehe unten], schien den Anh�ngern einer Kollektivierung, den "Linken", Recht zu geben. Gegen Ende der N�P-Periode wurde daher die Kollektivierung der Landwirtschaft immmer nachdr�cklicher gefordert, bis Stalin nach der Liquidierung der "Linksabweichler" selbst f�r sie eintrat.

In den 30er Jahren waren in der BSSR wie �berhaupt in der UdSSR Agrarverfassung und Agrarpolitik nicht mehr voneinander zu trennen. Denn abgesehen davon, da� ohnehin eine Verwaltungsgerichtsbarkeit fehlte, - die Sowjetrepubliken waren ja keine Rechtsstaaten -, wurden die die Agrarverfassung betreffenden Ma�nahmen immer willk�rlicher, sie wurden nur noch von oben nach unten befohlen (d.h. es gab keine beschr�nkte Autonomie der BSSR mehr). Die Trennung von Partei und Sowjets hob man nun auch formal fast auf, man nannte Partei und CIK in einem Atemzug (d.h. es gab keine beschr�nkte Autonomie der Sowjets mehr gegen�ber der Partei). Die Zwangskollektivierung wurde nicht aufgrund bestimmter einklagbarer Gesetze durchgef�hrt, sondern mit einer Kombination aus wirtschaftlichem, fiskalischem, politischem und halbmilit�rischem Druck. Formalrechtlich war auch in den 30er Jahren die Individualwirtschaft nicht verboten, und tats�chlich gab es einen - freilich immer kleiner werdenden - Anteil privater H�fe in der BSSR. Beschlossen wurde die F�rderung der Kollektivierung als sehr wichtige Aufgabe erstmals auf dem XI. Parteitag der KP(b)B im November 192722, und beg�nstigt wurden Kollektive schon seit Bestehen der BSSR. Da die Beschl�sse zur Kollektivierung nicht ernstgenommen wurden, gab es einen erneuten Beschlu� auf dem XII. Parteitag der KP(b)B im Februar 1929.23

21zu den innerparteilichen Auseinandersetzungen der VKP(b) gibt es eine Reihe von westlicher Literatur 22Podgotovka 1976:#1,S.28 23Kalhasy 1929:8; vgl. Provedenie 1973:#65,S.151

In einem Projektentwurf f�r ein neues Bodengesetz der BSSR aus dem Jahre 1929 wurde ausf�hrlich auf die Kollektivwirtschaft eingegangen.24 �rtlich war die Kollektivierung schon 1929 erfolgreich. In Polesien waren im Gebiet des Dorfsowjets Ruceev (Rajon Loe�) zum 15.6.1929 50% der H�fe in einen Kolchos eingetreten.25 Aber erst, nachdem die Entscheidungstr�ger im Landwirtschaftsministerium aus-gewechselt und verhaftet worden waren (Pryscepa� am 14.9.1929)26 und ein verbindlicher Beschlu� �ber die Kollektivierung gefa�t war (26.11.29)27, konnte das Stadium der "forcierten Kollektivierung" [splosnaja kollektivizacija] eingel�utet werden. In den "Kulaken" erblickte man eine Klasse, und "als Klasse" sollten sie auch liquidiert werden.

Nach dem am 5.1.1930 in Moskau verabschiedeten Plan sollte in der BSSR die Kollektivierung erst in einer "dritten Zeitstufe" erfolgen; danach h�tte die BSSR bis Ende 1933, also fast vier Jahre Zeit gehabt. Am 8.1.1930 beschlo� aber das neue ZK der KP(b)B, die wei�russischen H�fe schon bis Ende 1931 vollst�ndig zu kollektivieren.28 Wie in der ganzen Union herrschte bei der Kollektivierung das Chaos. Die Aktivisten vor Ort waren �bereifrig. In Polesien (okrug Mazyr) waren bis zum 20.2.1930 80% der H�fe mit 90% der Ackerfl�che kollektiviert29. 11% aller H�fe im okrug Mazyr wurden "entkulakisiert", mit anderen Worten, enteignet, obwohl nur 4% der H�fe als von Kulaken bewohnt galten30. Nachdem aber Stalin mit seinem Aufsatz "Vor Erfolg vom Schwindel befallen" vom 2.3.3031 die allzu schnelle Kollektivierung kritisiert hatte und auch das B�ro des ZK der KP(b)B am 17.4.1930 eine Resolution "�ber den Kampf gegen die �bertreibungen" fa�te32, traten in Polesien die Leute sofort wieder aus den Kolchosen aus33. Nach 2 Monaten und 10 Tagen waren nur noch 11,7% der H�fe mit 12,6% der Ackerfl�che in Kolchosen organisiert, in der BSSR waren es 17,1% am 20.5.193034. Die Kooperativen fielen ebenfalls auseinander.35

24Zjamelnyj kod�ks BSSR.(Pra�kt) 1929:#62-126 25Lagun 1970:189 26Lubachko 1972:94; vgl. Ocerki istorii KP(b)B 1967:II 120; Schon in der Juli/August-Nummer 1929 der Zeitschrift Socialisticeskoe stroitel'stvo, der BSSR-Zeitschrift f�r volkswirtschaftliche Fragen, zeichnete Pryscepa� nicht mehr als Mitherausgeber 27Provedenie 1973:15 28Istorija BSSR 1961 2:270; vgl. Provedenie 1973: #52, S.95, Punkte 5+7 29Siehe Tabelle #62 im Anhang 30Lagun 1970:190 31auf deutsch: Stalin 1976:168-175 32Provedenie 1973:#52, S.92-96 33Provedenie 1973:S.96 #53 34Haladzed 1930:12; genauere Aufstellungen siehe Anhang Tabellen #62 und 63; vgl. auch Lagun 1970:195 35Haladzed 1930:66

Als Austrittsgr�nde wurden von den Aktivisten selbst genannt, der Absatz der Produkte sei nicht gesichert, es seien keine Industrieprodukte zu erhalten gewesen oder eingekauft worden, es sei keine Arbeit vorhanden und die Lohnzahlungsweise sei nicht organisiert gewesen36. Aus dem Kolchos "Novae zycc�" im Rajon Pjatryka� seien acht, im Kolchos "Nova Lenina" 14 von 200 H�fen ausgetreten.37 Diese Werte waren noch stark besch�nigend. Auch die Entkulakisierung sollte z.T. wieder r�ckg�ngig gemacht werden. So berichtet auch das BelKalHasC�ntr an die Central'naja Kontrol'naja Komissija (CKK) der KP(b)B und das NK der Raboce-Krest'janskaja Inspekcija (RKI) am 18.4.1930 "�ber die Liquidierung von �bertreibungen und Fehlern bei der Kollektivierung": "Den unrechtm��ig entkulakisierten mittelb�uerlichen Wirtschaften wurde das Verm�gen zur�ckgegeben, aber bis heute noch gibt es F�lle der Nichtr�ckf�hrung des Verm�gens und der unrechtm��igen Zuteilung von vergesellschaftetem [abahulenaj] Eigentum (Schweinen, Schafen, H�hnern, Wohngeb�uden usw.)".38 Um den desorientierten Aktivisten, vielleicht aber auch den potentiell Betroffenen Verhaltensempfehlungen an die Hand zu geben, wurde eine am 18.4.1930 von dem noch nicht gest�rzten CIK-Chef Carvjaka�, der �brigens bei den Bauern beliebt gewesen sein soll39, sowie von Haladzed und Chackevic unterschriebene Verordnung herausgebracht, in der erkl�rt ist, unter welchen ganz genauen Umst�nden ein Hof als Kulakenhof einzustufen ist.40 Es ist schierig zu sagen, ob mit dieser Ver�ffentlichung versucht wurde, einen Funken Rechtssicherheit in die Zwangskollektivierung zu bringen. Jedenfalls war es auf diese Weise f�r die reicheren b�uerlichen Gruppen m�glich zu versuchen, die Zwangskollektivierung durch eine Art Selbstenteignung zu unterlaufen. Nach dieser "k�nstlichen Kolchosbildung auf dem Verwaltungsweg" fielen manche Kolchose ganz in sich zusammen.41 Man versuchte aber, soviele Kolchose wie m�glich wenigstens in kleinerer Gr��e zu erhalten. In der BSSR umfa�ten

am 1.3.1930 3665 Kolchose 457.513 H�fe; am 15.5.1930 3021 Kolchose 87.255 H�fe.

Dennoch war die Kritik an der Eilkollektivierung nur aus Taktik ausge�bt worden, gleichzeitig mit der Kritik wurde n�mlich am 1.3.1930 ein Musterstatut �ber die Kolchose herausgegeben [siehe unten]; noch im Jahr 1930 wurde die Kollektivierung erneut vorangetrieben. Die Mittelbauern (serednjaken) sollten dabei nicht mehr durch die Kollektivierung benachteiligt oder gar "nach Solovki, Sibirien usw." geschickt werden42.

36Provedenie 1973:S.98 37ebd. 38Provedenie 1973:97 39Krushinsky 1953:54f 40Provedenie 1973:169, #97 41Provedenie 1973:#97 42Haladzed 1930:15

Teile der Landbev�lkerung der BSSR nutzten die geographische Lage ihrer Heimat: "Unternehmungslustigere Elemente, die an der Grenze siedelten, versuchten mit dem Rest ihrer Habe nach Polen durchzukommen". "Die Zahl der vor den Folgen der Kollektivisierung [!] nach Polen geflohenen Personen erreicht gegenw�rtig [1930/31] eine Zahl von 1000 und w�chst weiter an."43 Nach der Errichtung der Mustersatzung gab es noch gelegentliche politische Eingriffe per Dekret. Diese Dekrete waren zum Teil direkte Eingriffe in die b�uerliche Produktion, eher aber war es eine Politik des informellen Terrors, durch die Stalin seine Ziele durchsetzte. Im Jahre 1932 sah es noch einmal so aus, als w�rde die Kollektivierung wieder zusammenbrechen44. Wieder traten H�fe aus den Kolchosen aus. Doch diesmal war alles besser vorbereitet worden, so da� von nun an z�h und stetig die Kollektivierung von oben durchgesetzt wurde. In der BSSR dauerte dies l�nger als in anderen Unionsrepubliken. Bis zum 1.7.1934 waren in der BSSR erst die H�lfte aller H�fe Kolchosen beigetreten, am 1.7.1939 92%45. Au�erhalb der Kolchose blieben vor allem chutora und kleine pasjolki.46 Zur Durchf�hrung der Kollektivierung wurden gem�� dem Beschlu� des Plenums von ZK und CKK der VKP(b) im Januar 1933 Politabteilungen eingerichtet. Und "unter unmittelbarer Teilnahme der Politabteilungen wurden in Wei�ru�land 174.000 H�fe kollektiviert."47 Au�er den Politabteilungen wurden aus verschiedenen Bev�lkerungsgruppen wahlweise Trupps zur Durchf�hrung von Sto�kampagnen zusammengestellt. Im einzelnen handelte es sich um a) die sogenannten 25.000er48 b) den KomSoMol49 c) Arbeiter, die die F�rsorge �ber die Kolchose �bernahmen [sefstvo] d) Gewerkschaften50 e) Torfarbeiter51. Zur Hebung der Moral wurden "Tage der Ernte" und dergleichen eingef�hrt.52 Trotz der immer beklagten �berbev�lkerung waren diese Erntekampagnen aus politischen Gr�nden n�tig, da sonst die staatliche Verwaltung keine �bersicht �ber die b�uerliche Produktion gehabt h�tte. Am 17.2.1935 wurde unionsweit ein "Neues Musterstatut" f�r Kolchose eingef�hrt.53

43Elski 1931:dt.53 =poln.104f 44Ocerki istorii KP(b)B 1967:173f 45Genauere Tabelle #63 im Anhang 46vgl. Ocerki istorii KP(b)B 1967:196; Was genau hinter den Kulissen vor sich ging, wird erst in den n�chsten Jahren herauszubekommen sein. 47Ocerki istorii KP(b)B 1967:189f; vgl. Razvitie II 1975:122; vgl. auch Ekonomika 1967:241 48vgl. Provedenie 1973:#48 49Ocerki istorii LKSMB 1975:193-195 50German 1968:227 51Provedenie 1973:#150,S.290 52Provedenie 1973:#86 N�7,S.154 53Schiller 1960:23; f�r die BSSR Lagun 1970:224

6.1.3. Monet�re Politik als Agrarpolitik: Marktquote, Kreditvergabe, Steuerpolitik Mit der Einf�hrung der Neuen �konomischen Politik wurde der freie Verkauf landwirtschaftlicher Produkte legalisiert; dadurch sollten Anreize zu einer Mehrproduktion �ber die Subsistenz hinaus geschaffen werden. Tats�chlich nahm der Warenanteil der b�uerlichen Produktion ein solches Ausma� an, da� die Marktmechanismen wirkten. Da� eine Erh�hung von Ertrag und Produktivit�t der b�uerlichen Produktion nicht zuletzt im Interesse der Versorgung der st�dtischen Bev�lkerung und des Exports anzustreben sei, dar�ber war man sich einig. Unterschiedlicher Meinung war man jedoch, welche Rolle das Geld in der staatlich gelenkten Marktwirtschaft der NEP einnehmen sollte. Es bestanden unterschiedliche Vorstellungen �ber die einzuschlagende Preispolitik: sollten die Preise f�r landwirtschaftliche Produkte mit staatlichen Mitteln niedrig gehaltene Festpreise, reine Marktpreise oder gar gest�tzte Preise sein? Praktisch setzte sich ein wenig gesteuerter Marktpreis durch; eine Umsatzsteuer auf Einnahmen aus Land- und Waldwirtschaft wurde nicht erhoben.54 Aber egal, welche Politik sich durchgesetzt hatte, die geldlichen Ums�tze (und Ausgaben) aller b�uerlicher Schichten stiegen erheblich an; vor allem die wohl-habenderen Bauern begannen, ihre �bersch�sse auf dem Markt zu verkaufen (s.u., Kapitel 6.2.5.). Damit verhalf man aber denjenigen zu einem Geldumsatz und band diejenigen in die sowjetische Volkswirtschaft ein, die gem�� der ideologischen Grunds�tze am wenigsten geeignet waren, das B�ndnis [smycka] zwischen Arbeitern und Bauern beim �bergang zum Sozialismus zu gew�hrleisten. Gerade in Wei�ru�land machte dies aber den Verantwortlichen in Regierung und Verwaltung nichts aus - nicht, weil sie "den Kapitalismus restaurieren" wollten, sondern weil sie um den Staatshaushalt und dessen Au�enhandelsbilanz bedacht waren. Die handels-, kredit- und steuerpolitischen Ma�nahmen, die vom (Moskauer) Zentrum aus getroffen wurden, um das angebliche Entstehen einer Handelsgewalt in den H�nden der Kulaken zu unterbinden, bewirkten jedoch, wie insbesondere Merl [Merl 1981] herausstellt, das Gegenteil der beabsichtigten Nivellierung zwischen reicheren und �rmeren Bauern. Denn die �rmeren Bauern nutzten die Steuererleichterungen nicht zu einer Ausweitung der Marktproduktion, sondern - entsprechend dem Hang zur Subsistenzwirtschaft - zu einer Einschr�nkung ihrer Produktion oder Erh�hung ihres Konsums.

54Pjatiletnyj plan 1929:296

Schon bestehende b�uerliche Absatzgenossenschaften wurden in ein fl�chendeckendes, der staatlichen Politik unterstehendes Netz eingebunden, das zu niedrigen Festpreisen die Produkte aufkaufte. Die - gegen �rmere wie reichere Bauernfamilien gerichtete - Politik niedriger Preise wurde jedoch von der BSSR zun�chst nur widerwillig mitgetragen. Zuletzt f�hrte diese Politik zu zwei verschiedenen Preisen f�r dasselbe Produkt55, wobei der Marktpreis f�r Getreide im Oktober 1929 doppelt so hoch wie der staatlich verordnete war:

Tabelle 11 Preisentwicklung f�r landwirtschaftliche Produkte in der Stadt Mazyr im Oktober 1928 und Oktober 1929 gegen�ber 1913 ����������������������������������������������������� [Statystyka. Bjulet�n 1930, N�7, S.42-45] 1913=100 Getreide Gem�se Fleisch Milch 1928 1929 1928 1929 1928 1929 1928 1929 Gesellschaft- licher Sektor 219 217 245 275 225 241 319 301 Privatsektor 399 505 278 369 242 456 412 597 Basarpreise 366 453 240 322 291 475 368 490 ����������������������������������������������������� Schlie�lich ging man wegen der unbefriedigenden Versorgungslage von dem frei-en Handel teilweise ab und f�hrte die Kontrahierung (auch: "Kontraktion"; [kontraktacija]) ein. Die Bauern verpflichteten sich, bestimmte Mengen bestimmter Produkte zu liefern.56 Dadurch und aufgrund der Herabdr�ckung der Bauern zu Lohnarbeitern in den Kolchosen wurde die Eingliederung der b�uerlichen Wirtschaft in die Volkswirtschaft unterbunden. Die Bauern erhielten zwar - zumindest z.T. - Geldlohn, aber nicht auf dem Markt. Ob und wieviele nichtland-wirtschaftliche Konsumg�ter und landwirtschaftliche Maschinen der l�ndlichen Wirtschaft zug�nglich wurden, dar�ber entschied jetzt sowieso die Verwaltung.

Vertrauen in die Geldw�hrung konnte schon in den 20er Jahren deshalb nicht aufkommen, weil die W�hrung unter dramatischer Inflation zu leiden hatte, 1922 wurde eine neue W�hrung, der Rubel Cervonec eingef�hrt.

Kredite wurden vom jungen BSSR-Staat nicht nur in Geldform gegeben, sondern auch in Form von Saathilfe. Schon 1921 wurden trotz der miserablen Ern�hrungslage in den Sowjetrepubliken 445000 Pud Samen an die Bauern der BSSR verborgt 57. Dies n�tzte zwar den Bauern, der Staat hatte jedoch die Versorgung der nichtb�uerlichen Gruppen sicherzustellen. Einer der Hebel, die man ansetzte, war die Kreditvergabepolitik. Den Bauern sollte erm�glicht werden, ihre

55vgl. auch Minskij Muzik 1937:116 56Podgotovka 1976:176f 57Istorija BSSR 1961 II:188

Kapitalausstattung zu verbessern und so ihre Wirtschaft zu intensivieren. Dies galt gleichzeitig als Ma�nahme zur Reorganisierung der ganzen Volkswirtschaft. Das Problem war jedoch, da� nur die wohlhabenderen Bauern darauf aus waren, die Kredite zur Verbesserung der Produktivit�t und zur Erh�hung der Produktion zu verwenden, um so h�here Geldeink�nfte zu erzielen. Die �rmeren Bauern verwandten sie zur Bezahlung von Steuern und von Waren des Grundbedarfes wie Salz und Petroleum. Kredite verlockten die �rmeren Bauern eher zum Schuldenmachen, sie banden sie in die Geldwirtschaft auf eine andere, ganz unbeabsichtigte Weise ein.

In den 20er Jahren wurden besonders Kooperativen und Kollektivwirtschaften mit Krediten oder sogar Subventionen ausgestattet. Aber selbst das Kreditvolumen f�r solche Einrichtungen wurde 1924/25 in den ersten 3 Quartalen nur zu 48% ausgesch�pft.58 Die Bauern traten nicht alle gerne in die Kreditgenossenschaften ein.59

Die Umstellung der Steuern von der Getreideablieferungspflicht auf die Naturalsteuer war ein anderes der Hauptmerkmale der Neuen �konomischen Politik. Es darf allerdings bezweifelt werden, ob diese Umstellung bei der Bauernschaft so viel Anklang gefunden h�tte, wenn sie nicht mit einer quantitativen Verringerung der Steuern60 einhergegangen w�re. Nachdem schon 1922 als Verrechungseinheit eine Gewichtseinheit Roggen fungierte, wurden ab 1924 die Steuern in Geld statt in Naturalien entrichtet.61 UdSSR-weit wurden die landwirtschaftlichen Steuern jedes Jahr neu festgelegt.62 Die einzelnen Republiken modifizierten diese Abgaben noch. Die Bauern erwarteten mit Spannung die neuesten Festlegungen und richteten ihre Aussaat danach ein. Die Unsicherheiten bez�glich der Besteuerung trugen aber auch dazu bei, da� die Bauern sich mehr in jenen Zweigen der Produktion engagierten, deren Produkte sie selbst gebrauchen konnten. Besteuert wurde nach dem erwarteten Ertrag, nicht aufgrund der Angaben der Bauernhaushalte selbst;63 die Berechnungen waren kompliziert: sowohl der zu versteuernde Wert als auch die davon zu erhebende Steuer setzten sich aus mehreren Einzelgr��en zusammen. Der Bodenbesitz lie� sich nicht so einfach von den Bauern verheimlichen. Bei dem Vieh, das auch besteuert wurde, war dies anders. Die Besteuerung nach Saatfl�che einerseits und nach gesamter

58Itogi raboty 1927:44 59Kooperativno-kolchosnoe stroitel'stvo 1980:#107,S.213 60Istorija BSSR 1961 II:180 61Auhagen 1929:223 62Auhagen 1929:220 63Auhagen 1929:224

landwirtschaftlicher Nutzfl�che andererseits bestanden zun�chst nebeneinander.64 In der BSSR waren die Steuern gegen�ber den anderen Sowjetrepubliken weder besonders niedrig noch besonders hoch.65

Von den 119.300.000 Rubeln Einnahmen, die die BSSR im Haushaltsjahr 1927/28 auswies, wurden 10.039.000 Rubel durch direkte Steuern aus der Landwirtschaft erzielt.66 Dies machte bei 369 Millionen Rubel Nettoeinkommen der Landwirtschaft rund 2,7% aus. W�hrend der Anteil der direkten Steuern an den Staatseinnahmen allgemein steigen sollte, waren die landwirtschaftlichen Steuern nach einem Allunionsbeschlu� vom 20.2.1929 durchschnittlich um 11-12% gesenkt worden.67 Gleichzeitig wurde aber die Progression in der Besteuerung versch�rft.68 Die Steuerentwicklung sollte in der BSSR "stabilisiert" werden, die Einnahmen mit der Zahl der aktiven Bev�lkerung steigen. Die Steuern f�r die Landwirtschaft waren nicht hoch. Die Einnahmen aus dem Holzverkauf waren mit 30.000.000 Rubel drei mal so hoch69.

Die landwirtschaftlichen Kooperativen und besonders die Kolchose wurden in den 30er Jahren mit geldpolitischen Ma�nahmen beg�nstigt. So bekamen z.B. "die Kolchose und Kolchosmitglieder" im Jahre 1933 5.000.000 Rubel Kredithilfe, 1936 waren es schon 23.000.000 Rubel70. Es ist anzunehmen, da� damit nicht nur die Wettbewerbsf�higkeit der Kolchose und deren Attraktivit�t f�r die Einzelbauern erh�ht, sondern �berhaupt deren �berleben sichergestellt werden sollte. Auch die Besteuerung wurde als einfaches Instrument benutzt, die Bauern in den Kolchos zu f�hren. Kolchose wurden z.B. auf Beschlu� des SovNarKom der BSSR und des ZK der KP(b)B vom 29.April 1934 zwei Jahre lang von Steuern befreit, w�hrend den "Kulaken" eine Steuererh�hung ins Haus stand.71

6.1.4. Landwirtschaftliche Beratung und Agronomie Es gab neben dieser wechselvollen allgemeinen Agrarpolitik aber auch eine einheitlichere "technische Seite" der Landwirtschaftspolitik. Sowohl in den 20er als auch in den 30er Jahren sollten die B�den sowohl extensiver als auch intensiver genutzt werden. Ob es gelang, wird weiter unten zu �berpr�fen sein. An dieser Stelle sind erst einmal die Ma�nahmen zu schildern.

64Auhagen 1929:224f; es w�re interessant zu erfahren, wie in Polesien besteuert wurde, wo es schwer zu definieren ist, was "landwirtschaftliche Nutzfl�che" ist 65Auhagen 1929:226f 66Pjatiletnyj plan 1929: 289 67Pjatiletnyj plan 1929:289 68Auhagen 1929:231-234 69Pjatiletnyj plan 1929:290 70Historyja III 1973:547 71Historyja III 1973:548

Der Propagierung von (aus ihrer Sicht) verbesserten Anbaumethoden widmeten Regierung und Verwaltung der BSSR in den 20er Jahren viel Aufmerksamkeit. Die Ernteertr�ge im Ackerbau sollten erh�ht, der Milchertrag der K�he gesteigert und eine "b�konizacyja"72 der Schweine bewirkt werden. In Hory-Horki wurde schon am 7.4.1919 die im 19.Jahrhundert gegr�ndete landwirtschaftliche Hochschule wieder neugegr�ndet, am 21.8.1925 mit dem 1922 gegr�ndeten Minsker Landwirtschaftsinstitut vereinigt73 und auf 4 Fakult�ten erweitert. 1928 studierten hier "etwa 1500" Leute. Auch in den 30er Jahren gedieh der Lehrbetrieb.74

Auf niederer Ebene f�hrte man Kurse durch, "deren Dauer 3-4 Wochen nicht �berschreitet"75 und deren Kosten von den Bezirksbudgets zu begleichen waren. Landwirtschaftliche Ausstellungen sollten76 vorwiegend auf Bezirksebene abgehalten werden. Offensichtlich ging es den Agronomen zun�chst um die Vermittlung grunds�tzlicher Kenntnisse moderner b�uerlicher Wirtschaftsweise. Seltener sollten Spezialausstellungen durchgef�hrt werden. Es wurden auch Wettbewerbe durchgef�hrt, bei denen es Preise f�r den besten Bauernhof, den besten pasjolak, den besten landwirtschaftlichen Kreis, die beste Kooperative gab77. Man besuchte landwirtschaftliche Musterfarmen in D�nemark und in den Niederlanden, �brigens ein Anhaltspunkt f�r eine begrenzte eigenst�ndige Au�enpolitik der BSSR zu jener Zeit.78 Es wurde aber beklagt, da� die Agronomie nicht �ber eine Hilfe in Notf�llen hinauskomme, da� es zuwenig agronomisches Personal g�be, das zudem schlecht ausgebildet sei.79 Soziale Verbesserungen w�rden als Allheilmittel angesehen, die Agronomie daher vernachl�ssigt.80 Auch in den 30er Jahren gab es landwirtschaftliche Ausstellungen, jedoch verk�mmerten sie immer mehr zu einem panegyrischen Gesang auf vollbrachte Leistungen. Durch die F�rderung der Stachanov-"Bewegung" wurden Menschen gefeiert,81 die f�r ihre Arbeitsrekorde ihre Gesundheit aufs Spiel setzten.

72Lajko� 1929:5 73Istorija BSSR II 1961:226 74Gruber 1943:87f; Lubachko 1972:75; Istorija BSSR 1961 II:226 75Perspektivnyj plan 1927:371 76laut Perspektivnyj plan 1927:372 77S-ezdy sovetov II 1960:257 Punkt 26z; Perspektivnyj plan 1927:373; Vosstanovlenie 1981:#143; Krushinsky 1953:11 78Lubachko 1972:74; Hlybinny 1959:41: Kabysh 1959:103 spricht von Deutschland und D�nemark 79Lajko� 1929:57 80Lajko� 1929:5 81vgl. Razvitie II 1975:130 6.1.5. Agrarpolitik als Melioration Das Problem der sogenannten agrarischen �berbev�lkerung82 sollte durch Ausdehnung der Anbaufl�che vermindert werden. Ein Mittel dazu sollte die Urbarmachung ungenutzten Bodens sein. 1921/22 wurden erste Entw�rfe zu Meliorationsarbeiten angefertigt. Aber bis 1924/25 wurden in der ganzen BSSR lediglich 45 Verst Abw�sserkan�le nachgebessert und 11 Verst neue Kan�le errichtet.83 Der Staat nahm in den 20er Jahren die Meliorationst�tigkeit selbst nur auf der Ebene der Rahmenplanung in die Hand; die praktische Ausf�hrung wurde Meliorationsgenossenschaften in die Hand gelegt, von denen es Ende 1925 immerhin 425 gab; diese waren f�r ein Gebiet von �ber 70.000 Ds. zust�ndig.84 Im okrug Mazyr sollten die Fr�chte der "in fr�herer Zeit durchgef�hrten Arbeit" erhalten werden.85 Sehr viel mehr schien vorerst nicht m�glich zu sein: "Die nat�rlichen und wirtschaftlichen Bedingungen des okrug Mazyr behindern eine breite Heranziehung der Bev�lkerung zu Meliorationsarbeiten; bedeutende Fl�chen versumpfter Massive, und eine arme und d�rftige [redkost'] Bev�lkerung legen den Staat darauf fest, [...] sich auf das Zug�nglichmachen dieser Gebiete zu beschr�nken".86 Laut Perspektivplan wollte man sich auf die St�tzung der Genossenschaften im Becken der Uborc' (gr��ter Ort: Lel'cycy) und auf die Regulierung der Oressa und einiger ihrer Nebenarme konzentrieren87. Im okrug Mazyr sollten 1925/26 1000 Dejatinen, 1926/27 3200 Ds., 1927/28 5000 Ds., 1928/29 7000 Ds. und 1929/30 8000 Ds. trockengelegt werden.88 Wenn man sich auch nicht allzu viel vorgenommen hatte, so war doch im Perspektivplan von 1927 schon ein detailliert anmutender Zeitplan zur Melioration der BSSR aufgestellt worden.89 55.000 ha des Oressabeckens wurden einem Kolonisierungsfond zugeschrieben.90 Wie diese B�den am besten trockenzulegen seien und was mit ihnen anzufangen ist, wurde bei Minsk auf einem 110 ha gro�en Versuchsgel�nde erforscht.91

82vgl. Perspektivnyj plan 1927:110 83Perspektivnyj plan 1927:207; vgl. Lupinovic 1953:29 84in der BSSR; Perspektivnyj plan 1927:207 85Perspektivnyj plan 1927:215 86Perspektivnyj plan 1927:215 87ebd. 88Perspektivnyj plan 1927: 242f 89Perspektivnyj plan 1927:206-251 90Pjatiletnyj plan 1929:350 91Syperka 1930:20

Der F�nfjahresplan sah folgende Meliorationsarbeiten in den einzelnen Flu�becken vor:

Tabelle 12 Meliorationspl�ne des F�njahresplanes f�r den okrug Mazyr ����������������������������������������������������������������ͻ �[Pjatiletnyj plan 1929:248f] �Oben (gerade): km; unten (kursiv): Kosten in 1000 Rubel � Sumpffl�che �Flu� in ha 1928/29 1929/30 1930/31 1931/32 1932/33 Summe �Tur'ja 5000 20 20 � 30 30 �Slovecna 25000 13 16 20 28 77 � 60 75 100 145 380 �Uborc' 20000 10 15 12 37 � 200 200 180 580 �Oressa 138000 12 25 25 30 30 122 � 150 300 300 360 360 1470 �Summe 12 38 51 65 90 256 � 150 360 575 660 715 2460 ����������������������������������������������������������������ͼ Bis 1941 wurden in der BSSR 179.000 ha trockengelegt; hierbei fiel nur ein Teil auf Polesien. Erst am 7.M�rz 1941 kam es in der BSSR zu einem Beschlu�, in den folgenden 15 Jahren 4.000.000 ha trockenzulegen.92 Dieses wegen der Ereignisse des 2.Weltkriegs nicht mehr in Angriff genommene Projekt war es wahrscheinlich, welches 1952 wiederaufgenommen wurde.93

6.1.6. Agrarpolitik als Siedlungspolitik Die l�ndliche �berbev�lkerung sollte aber auch ausdr�cklich wie schon zur Zarenzeit durch die Siedlungspolitik vermindert werden.94 Dazu gab es drei Methoden: Aussiedlung in andere Regionen, Abwanderung in die St�dte, Schaffung neuer Siedlungen. Die Industrialisierung sollte eine Urbanisierung, also eine Abwanderung aus dem Dorf erm�glichen, um die dortige versteckte Arbeitslosigkeit zu vermindern. Eine Verst�dterung ohne Schaffung von Arbeitspl�tzen w�re hingegen wenig hilfreich gewesen: in den Stetln gab es ebenfalls "ungenutzte Arbeitskraft", und unter anderem aus diesem Grund versuchte man, j�dische Ackerkolonien zu gr�nden (s.u.). Au�erdem sollte die Bev�lkerungszahl durch Aussiedlung nach Sibirien, in den Ural und auf die Krim95 vermindert werden. Auch in Richtung Westen lie� man die Menschen Anfang der 20er Jahre gehen96. In den 20er Jahren wurde noch

92Notiz in der Geographischen Zeitschrift 47 (1941): 343r; Kabysh 1960:71; Lupinovic 1953:31 93Kazakov 1953:24; French 1959:179l 94Perspektivnyj plan 1927:110 95vgl. Historyja III 1973:368; zu Krim: Itogi raboty 1929:23,52; Vosstanovlenie 1981:#145 96Vosstanovlenie 1981:#156

ganz offiziell und offen dar�ber geredet, wie die Menschen zur freiwilligen Umsiedlung zu bewegen seien97. Es wurden Berechnungen aufgestellt, wieviel den Staat solche Umsiedlungen kosten w�rden; der Staat stellte Finanzmittel f�r die �berfahrt und selbst f�r Fotographierarbeiten bereit98. Es wurden Siedlungsgenossenschaften gegr�ndet99. Der Entwurf f�r ein neues Bodengesetz der BSSR von 1929 sah aber schon in Ausnahmef�llen die M�glichkeit einer zwangsweisen Umsiedlung vor.100 In den 30er Jahren wurde dann die Aussiedlungsprozedur "vereinfacht": es ist oft auf den �konomischen Charakter hingewiesen worden, den die Zwangsdeportationen in sibirische Lager aufwiesen - zuweilen wurden angebliche Staatsfeinde und Spione ausschlie�lich zur Planerf�llung "entlarvt" und verschickt.

Innerhalb der BSSR wurden neue Siedlungen gegr�ndet, die oben schon erw�hnten pasjolki (russisch: poselki). Diese wurden auf den B�den der ehemaligen "nichtarbeitenden" Landgutsbesitzer, aber auch anderswo errichtet und umfa�ten in der Regel 10-15 H�fe.101 Was hat es mit den pasjolki auf sich? Da viele D�rfer in Wei�ru�land und besonders in Polesien102 gro� waren, und da (besonders in Polesien) ein hoher Anteil der Bodenfl�che zum Ackerbau unbrauchbar war, lagen viele Flure weit vom Dorf entfernt103. Hatte nun eine Familie aufgrund der Landverteilung zus�tzlichen Boden erhalten, wurde diese Tendenz noch verst�rkt, da das ehemalige grundherrliche Landst�ck auch wieder abseits lag. Um diesem un�konomischen Zustand abzuhelfen, wurden vom Landwirtschaftskommissariat unter Zmitrok Pryscepau die pasjolki begr�ndet: einige Familien bildeten abseits vom Dorf neue Siedlungspunkte. Der nichtsowjetischen Historiographie zufolge entsprach diese Politik den Bed�rfnissen der Landbev�lkerung104. Die sowjetwei�russische Geschichtsschreibung hat jedoch bis in die 80er Jahre hinein diese Politik Pryscepa�s als "rechtsabweichlerisch" verurteilt105 und als "Chutorisierungspolitik" diffamiert; letzteres ist allerdings eine bewu�t unpr�zise Formulierung, da ja nicht Einzelh�fe, sondern Kleinsiedlungen geschaffen wurden.

97Pjatiletnyj plan 1929:17 98Perspektivnyj plan 1927:162f 99Itogi raboty 1929:8 100Zjamel'nyj kod�ks BSSR (Pra�kt) 1929:#360 101Perspektivnyj plan 1927:129; vgl. Istorija BSSR 1961 II:205; Lubachko 1972:73; Krushinsky 1953:10 spricht von 12-20 H�fen; Kabysh 1959:102 von 5-7 H�fen 102Zutkevic 1959:22 103vgl. Kabys 1959:102 104Kabysh 1959:102; Krushinsky 1953:10f 105Ocerki istorii KP(b)B II 1967:120; Provedenie 1973:406, Anm.24

Auch ein Exil-Wei�russe, der in den 30er Jahren seine Heimat als Tourist bereiste, fand in Pryscepa�s Politik nicht nur Gutes: Sie sei von Moskau befohlen gewesen, habe die D�rfer auseinandergerissen und somit ihrer Lebendigkeit beraubt151: "Die Bolschewisten b�rgerten die Stolypin-Reform ein".152

Ein besonderes Programm wurde f�r die j�dische Bev�lkerung durchgef�hrt. 20% der j�dischen Bewohner der Stetl hatten erkl�rt, Landwirtschaft betreiben zu wollen.153 Am 25.7.1925 wurde eine besondere Verordnung herausgebracht, nach der die j�dische Bev�lkerung Boden zugeteilt bekommen konnte.154 Innerhalb von 4 Jahren wurden 3000 j�dische Familien mit Boden aus dem Fond des GosZemImuscestvo versorgt und so "zur Bodenbearbeitung herangezogen". "Durch Beschlu� des SovNarKom der BSSR vom 18.1.1929 wurden f�r die j�dische Bodenbewirtschaftung f�r den n�chsten F�nfjahresplan 50.000 ha Sumpf- und 30.000 ha Waldboden zugeteilt".155 Auch im okrug Mazyr wurden solche Siedlungen - sei es nun als Einzelhofd�rfer, sei es als Kolchose - eingerichtet, Ende der 20er Jahre waren es 17156. U.Ihnatouski, ein 1931 in den Selbstmord getriebener Wissenschaftler und Politiker157, versprach sich davon die "L�sung der nationalen Fragen durch eine �konomische Einheit"158. Tats�chlich sollen die j�dischen Ackerkolonien erfolgreich gewesen sein159. Die wei�russischen Bauern waren dagegen nicht unbedingt begeistert. Der Sekret�r des CIK, Cernusevic, berichtete aus eigenem Erleben: "Die Bauern umkreisten mich und sagten: �Was ist das f�r eine Politik [...] hier reicht der Boden nicht f�r die landlosen und landarmen Bauern - und ihr teilt ihn an die Juden auf, die hier fr�her sa�en und handelten�".160 Man wagte sich also mit Experimenten vor und glaubte an die Machbarkeit und den Erfolg tiefgreifender �nderungen in der nationalen, sozialen und wirtschaftlichen Struktur. Sp�ter wurde diese Politik gegen�ber den Juden wohl wieder r�ckg�ngig gemacht; allgemein waren sie unter den Hauptleidenden der stalinistischen Repression; zu dem Thema Kolonien jedenfalls versiegen die Quellen.

6.1.7. Die Rajonierung der BSSR Sowohl die die technische als auch die die soziale Seite der l�ndlichen Produktion betreffenden Ma�nahmenkataloge gingen auf regionale Besonderheiten ein. Wei�russische Landwirtschaftspolitiker und Agronomen stellten in Rechnung,

151Minskij Muzik 1937:102 152ebd 96 153Itogi raboty 1927:7 154Pjatiletnyj plan 1929: 59f; laut Itogi raboty 1927:6 am 25.7.1924 155Pjatiletnyj plan 1929:59 156Karte am Ende in Itogi raboty 1927 157Krushinsky 1953:34f; Engelhardt 1943:175; Kipel 1988: 323f 158Itogi raboty 1927:34 159Itogi raboty 1927:36 160Itogi raboty 1927:38

da� f�r Polesien spezifische Ma�nahmen zu ergreifen waren.161 Es gab dabei grunds�tzlich zwei M�glichkeiten der Zielsetzung: entweder Polesien wird als Sondergebiet eine Sonderfunktion zugedacht, oder es wird versucht, eine Angleichung der Regionen zu erreichen. Konkret: in Polesien k�nnte entweder die Viehhaltung und der Anbau technischer Kulturen oder eine Forcierung des Ackerbaus propagiert und in Angriff genommen werden. Letzteres br�chte ein h�heres Ma� an Autarkie mit sich; dies w�re zwar schwierig zu bewerkstelligen gewesen, w�re aber nicht nur dem Selbstversorgungsdenken der Poleschuken entgegengekommen, sondern auch aus staatlicher Sicht insofern �konomisch gewesen, als weniger Getreide von einer l�ndlichen Region in eine andere h�tte transportiert werden m�ssen. Man schlug den anderen Weg ein. Die bestehende Produktionsweise sollte weiterentwickelt werden, Polesien wurde zu einem Fleisch-Milch- und Hanf-Gebiet erkl�rt. * Insgesamt wurde in der Landwirtschaftspolitik der 20er Jahre ein gar nicht ungew�hnliches Modernisierungsprogramm verfolgt; aus den Quellen ist herauszulesen, da� sich die wei�russischen Politiker wirklich darum bem�hten, die Landwirtschaft zu entwickeln. Messen sollte man deren Programme aber nicht nur am Erfolg, sondern auch daran, wie sie von der Bev�lkerung aufgenommen wurden. In den 30er Jahren hatten Staatsverwaltung und Kolchosleitung haupts�chlich mit den Problemen zu k�mpfen, die sie selbst hervorgerufen hatten.

6.2. DIE AGRARSTRUKTUR IN OSTPOLESIEN 6.2.1. Die Bev�lkerung Allein die absolute Bev�lkerungszahl einzelner Teile der BSSR ist schon schwer zu ermitteln. Zuverl�ssige Daten gibt es aus der Volksz�hlung vom 17.12.1926, die n�chste ausgewertete allgemeine Volksz�hlung fand erst 1959 statt, �ber die Volksz�hlung am 17.1.1939 liegen nur oberfl�chliche Daten vor. Auf dem Gebiet der gesamten damaligen BSSR lag die Einwohnerzahl bei:

1913 4.757.700 (22 uezde) 17.12.1926 4.983.200 1. 1.1930 5.178.253 (offizielle Sch�tzung) [Statystyka 1930,8:12f] 17. 1.1939 5.569.000 [Rakov 1969:16; Bev�lkerungsstatistik 1942:3; Guthier 1977:271]

161Lajko� 50-52; vgl. Pjatiletnyj plan 1929:15; eine �bersicht �ber die Geschichte der Rajonierung der wei�russischen Landwirtschaft bringt Martinkevic 1961:76-81

Wegen der h�ufigen Verwaltungsreformen [siehe Anhang] ist die Entwicklung der Bev�lkerungszahl im �stlichen Polesien sinnvollerweise �ber Werte der Bev�lkerungsdichte zu ermitteln. Diese lag bei (Einwohner/km�):

1897 uezd Mazyr 12,8 uezd R�cyca 20,8 1926 okrug Mazyr 21,1 (330057:15660) okrug R�cyca 30,7 (254965: 8294) 1930 15 rajony 26,3 (616773:23470) [berechnet nach Tabelle #65 im Anhang] Auch in Ostpolesien war die Bev�lkerungszahl also gestiegen. Es ist auch eine Urbanisierungstendenz nachzuweisen.162 In der BSSR stagnierte in den Jahren 1913 bis 1926 der prozentuale Anteil der st�dtischen Bev�lkerung an der Gesamtbev�lkerung (Urbanisierungsgrad) bei 17%; bis 1939 steigerte er sich auf 25%163. Die 115 st�dtischen Siedlungen (der BSSR) waren schneller (8,9%) angewachsen als die l�ndlichen Gebiete (2,9%).164 Die Bev�lkerungsdichte in Ostpolesien lag gem�� Tabelle #65 im Anhang Ende 1926 bei 24,5 Einwohner/km�, Tendenz steigend. Damit war die Bev�lkerung gegen�ber 1897, als in den uezden Mazyr und R�cyca 12,8 bzw. 20,0 Einwohner/km� lebten (s.o.), erheblich gestiegen. Die gr��eren St�dte am Rande Polesiens wie Homel' und Babrujsk wuchsen schnell an, w�hrend aus den kleinen Stetln die Menschen zum Teil abwanderten. Die Einwohnerzahl Chojnikis war sogar in wenigen Jahren von 4889 (1926) auf 1889 (1931) Einwohner gesunken. Auch in Zytkavicy, Kapatkevicy, Loe� und Tura� ging die Einwohnerzahl von 1926 bis 1931 zur�ck.165

Wie aber kam dieser allgemeine Bev�lkerungsanstieg zustande? Wenn die folgenden Zahlen f�r 1930/31 zutreffen, so gab es in Polesien - wahrscheinlich in der ganzen Zwischenkriegszeit - mit 37 auf 1000 Einwohnern nach wie vor eine sehr hohe Geburtenrate, besonders in den abgelegenen Kreisen im S�dwesten (Tura�, Lel'cicy, El'sk). 166 Die Kindersterblichkeit war auf 10% der Lebendgeburten gesunken, die Todesrate insgesamt mit 14 auf 1000 Einwohnern auch niedrig, so da� das nat�rliche Bev�lkerungswachstum anhielt. W�hrend also die Bev�lkerung gem�� dem nat�rlichen Bev�lkerungszuwachs j�hrlich um mehr als 23 auf Tausend h�tte zunehmen m�ssen, gab es tats�chlich nur einen j�hrlichen Zuwachs von 0,7 bis 1,3%.167

162Tabelle #66, ostpolesische St�dte 163Bev�lkerungsstatistik 1942:3 164Absolute Werte nach Statystyka 8 (1930):12f; Werte f�r einzelne Regionen Polesiens siehe Anhang #65 165vgl. die St�dteliste im Anhang, Tabelle #66 166Die Werte f�r die einzelnen Regionen Polesiens siehe Anhang, Tabelle #67 167Berechnung dieser Werte im Anhang, Tabelle #68; f�r die gesamte BSSR spricht Rakov 1969:16 von 14-26 Promille nat�rlichem und 8,5 Promille tats�chlichem Zuwachs zwischen 1926 und 1939

Dies kann nur an einem Auswanderungs�berschu� oder an einer �berdurchschnittlichen Zahl von Toden liegen. Die Kindersterblichkeit k�nnte sich erh�ht haben, es k�nnte Hunger- und Lagertote gegeben haben. Tats�chlich sind die Massenmorde in den Lagern von Kuropaty Ende der 30er Jahre f�nfzig Jahre lang verschwiegen worden. Genaues kann nicht nur aufgrund des fehlenden oder noch unausgewerteten Zahlenmaterials nicht gesagt werden; denn der �bergang von Auswanderung zu Zwangsdeportation ist ebenso flie�end wie der zwischen einem gew�hnlichen Tod und einem Mord im Lager.

6.2.2. Grundbesitzstruktur und Genossenschaften in den 20er Jahren Am 1.10.1925 stellte sich die Verteilung des Bodens der BSSR nach staatlichem und privatem Besitz folgenderma�en dar:

Tabelle 13 ��������������������������������������������������������������ͻ In Desjatinen [Perspektivnyj plan 1927:30] BSSR Landw. Wald sonstiges Summe in % Staatlicher Waldfond 67620 2210912 346546 2625078 26,1 Wald �rtl. Bedeutung 358643 52469 411112 4,1 Staatl. Bodenverm�gen 158608 0 170941 329549 3,3 Freier Bodenfond 437488 0 100264 537752 5,4 Moore 0 0 100000 100000 1,0 Verschiedenes 0 0 73404 73404 0,7 Stadt und Umgebung 0 0 100000 100000 1,0 Summe staatl. Land 663716 2569555 943624 4176895 41,6 Summe laut Quelle 669403 2569555 937572 4176530 41,6 in % gem�� Quelle 16,0 61,5 22,4 Privatland 5873289 58,4 Gesamtsumme 10049819 100,0 ��������������������������������������������������������������ͼ 58,4% des Bodens waren also nur offiziell nationalisiert, in der Praxis aber von den Bauernfamilien und den wenigen landwirtschaftlichen Genossenschaften bewirtschaftet. Diese Zahlen m�ssen aber unter dem Aspekt gesehen werden, da� der staatlich genutzte Boden nur zu 16% aus landwirtschaftlicher Nutzfl�che bestand. Bei den Bauern lag dieser Anteil wesentlich h�her, sicherlich auch in Polesien bei �ber 50%. So stellte der Besitz von 5,9 Millionen Ds. in b�uerlicher Hand bei relativ geringer Besitzdifferenzierung und einer Bev�lkerungszahl von 5 Millionen Einwohnern eine beachtliche Menge dar.

Doch wie nivelliert war die Grundbesitzstruktur unter den Bauern? Mangels umfassender und detaillierter Daten �ber die Grundbesitzstruktur des privat genutzten Bodens sei eine BSSR-weite, regional undifferenzierte Untersuchung des CSU der BSSR an 12.000 Bauernh�fen (das sind rund 2% aller H�fe) herangezogen. Die H�fe wurden in 8 Besitzgr��engruppen (zugrundegelegt ist die Saatfl�che!) unterteilt:

Tabelle 14: St�ckzahl, Bewohner und Saatfl�che der H�fe in der BSSR 1925 nach Saatfl�chenklassen ����������������������������������������������������ͻ �[Perspektivnyj Plan 1927:39] � Hofzahl Bev�lkerung Saatfl�che � in % in % in % pro Hof �Ohne Boden 1,3 1,0 0,0 0,00� � < 1 Ds. 6,8 4,7 1,6 0,79�** **�1 - 2 Ds. 20,5 17,0 10,7 1,73�** **�2 - 4 Ds. 47,4 47,8 44,0 3,09�** **�4 - 6 Ds. 17,0 20,3 26,1 5,09�** **�6 - 8 Ds. 4,6 6,0 9,7 7,00�** **�8 -16 Ds. 2,2 2,9 6,8 10,40�** **� > 16 Ds. 0,2 0,3 1,1 20,30� �Alle H�fe 100 100 100 3,32� ����������������������������������������������������ͼ Die Tabelle zeigt, wie stark nivelliert die Grundbesitzstruktur in der BSSR war: Die etwas Wohlhabenderen mit �ber 6 Ds. Saatfl�che stellten 7,0% der H�fe und besa�en nur 17,6% der Saatfl�che. Nur 0,2% der Bauernwirtschaften bes�ten also �ber 16 ha und waren auf au�erfamili�re Arbeitskr�fte angewiesen; auf die BSSR umgerechnet w�ren dies �350 H�fe gewesen. Es gab also keine Kulaken mehr im eigentlichen Sinne des Wortes.168 Im Perpektivplan wurden die 4. und 5. Gruppe mit 4-8 Ds. Saatfl�che den Mittelbauern zugerechnet, davon ausgehend die ersten drei Gruppen den Bednjaken, die letzen drei den Wohlhabenden [zazitocnye]. Kriterium f�r diese Qualifizierung war ausdr�cklich die relative H�ufigkeit der 4. Gruppe.169 Es wurde weder beachtet, ob H�fe der Gr��e 2-4 Desjatinen wirklich lebensf�hig sind, noch die Familiengr��e ber�cksichtigt, wo doch gerade in Realerbteilungsgebieten Familien- und Hofgr��e zusammenh�ngen, wie auch ein Vergleich von Spalte 2 und 3 der Tabelle #14 ergibt. Die Rede von den Kulaken, die ab 1929 "als Klasse liquidiert" werden sollten, entbehrte jeglicher Grundlage.

Genossenschaften In der gesamten N�P-Periode blieb der Einfamilienhof in Polesien vorherrschend, daher ist auch nur diese Hofform f�r eine Untersuchung der Grundbesitzstruktur relevant. R�ckwirkend wird aber von der sowjetwei�russischen Geschichtsschreibung f�r die NEP-Periode der genossenschaftliche und gemeinschaftliche (Genossenschaften, TOZe, Kooperativen, Artele, Kolchose und Kom-

168vgl. Auhagen 1929:194f f�r die gesamte UdSSR 169Perspektivnyj plan 1927:40; siehe auch dieselbe Gruppenaufteilung unten unter 6.3.1 und 6.3.4

munen)170 sowie staatliche (Sovchose) Sektor der Landwirtschaft ungleich ausf�hrlicher beschrieben als der viel wichtigere Privatsektor der Landwirtschaft, weil diese Produktionsformen als h�herstehend, als Vorl�ufer der institutionalisierten Kolchoswirtschaft der 30er Jahre angesehen wurden. Am 1.10.1925 befanden sich im okrug Mazyr 17.845 Anteilhaber in 43 Konsumgenossenschaften, 6075 in 13 Kreditgenossenschaften, 4643 in 32 Meliorationsgenossenschaften und 1276 in 38 Produktions-, Verarbeitungs- und Saatgutgenossenschaften.171 1925 waren 122.230 Bauernh�fe der BSSR oder 17,5% aller H�fe in einer Genossenschaft.172 Erst 1927 waren �ber 20% der b�uerlichen H�fe in Genossenschaften aller Art organisiert. Zumeist handelte es sich um Kreditgenossenschaften, nur 5,4% der H�fe waren in anderen Arten von Genossenschaften organisiert173. Der Gro�teil der organisierten Bauern ging aus einem Sachzwang (Schulden) und nicht aufgrund von angenommenen Vorteilen genossenschaftlichen Handelns oder gar aufgrund entsprechenden Gedankenguts in Kooperativen: "Es w�re falsch zu denken, da� alle Anteilhaber dieser Organisationen freiwillige Anteilhaber im vollen Sinne des Wortes sind".174 Neben den Kreditgenossenschaften gab es viele Konsumgenossenschaften. Der Umsatz der Genossenschaften im BelKoopSojuz beruhte 1925/26 zu 30% auf dem Verkauf von Textilien, zu �ber 40% auf Kleidung insgesamt und zu 31% auf Fischwaren. Der Anteil landwirtschaftlicher Waren schnellte von 1925/26 bis 1926/27 um 9,1% auf 19,0% hoch175. Die Kredit- und Konsumgenossenschaften hatten aber keinen nennenswerten Einflu� auf die Ausstattung der Bauernh�fe mit totem Inventar; sie stellten keinen direkten Eingriff in das b�uerliche Wirtschaften dar. Die ersten, zwar staatlich gef�rderten, aber durchweg freiwilligen Zusammenschl�sse zu landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften besa�en keinesfalls Vorbildcharakter, sondern erregten eher Mitleid. Als z.B. im April 1924 ein ProvinzInstrukteur im uezd Mazyr einige der damals 20 bis 25 existierenden

170Definitionen im Anhang 171Kooperacyja B.S.S.R.:100-102 172Kooperativno 1980:211,#107 173Kooperativno 1980:289,#127 174Kooperativno 1980: #107, S.213 175Osnovnye pokazateli 1928:9

Tabelle 15 Wie klein der genossenschaftliche Sektor im �stlichen Polesien war, sei am uezd bzw. okrug (ab 1924) Mazyr dargestellt. Es existierten: ����������������������������������������������������������������� �[Kooperativno-kolchoznoe stroitel'stvo 1980] �Datum Kommunen Artele Koops und Genossensch. Quelle �1.11.23 : 2 7 9 [151] �2. 2.24 : 0 3 10 (mit 39 D�rfern, � 1471 H�fen, 3875 Essern [158] � 1921: 1 5 8 � 1924: 2 7 14 [178] �6. 9.24 : 2 15 11 landwirtschaftliche � Kreditgenossenschaften � 3 landwirtschaftliche � Konsumgenossenschaften � 2 Milchartele �1.10.24 : 14 34 Kooperativen [189] �1.10.27 : 24 Kollektivwirtschaften [264] �Artele werden manchmal als Kolchose ausgewiesen; obwohl nach der �offiziellen Definition Kolchoswirtschaften der Sammelbegriff f�r �TOZe, Artele und Kommunen sind. �����������������������������������������������������������������

Kommunen und Genossenschaften inspizierte, beschrieb er, da� die Flure der Artel' Krasnaja zorka ("Roter Stern")176 nicht eingegrenzt seien, was ein Grundhindernis f�r die Entwicklung der Artel' darstellte. Ein Waldst�ck, das der Artel' zugeschrieben war, wurde in Wirklichkeit von Einzelbauern genutzt, "und gegen seine Nutzung durch die Genossenschaft protestiert die F�rsterei"; Der Instrukteur kommt zu dem Schlu�, da� das Forstamt des NarKomZem falsch informiert sein m�sse. Da die Artel' aber zu wenig Land besitze, k�nnten nur drei Familien ern�hrt werden, wof�r wiederum der Ausdruck Artel' hochgestapelt sei. Die Bauernfamilien Ostpolesiens waren f�r die Genossenschaften schwer zu gewinnen, auch wenn sie staatlich gef�rdert wurden. Ein Teil der Produktionsgenossenschaften war j�disch, und zwar Anfang 1927 145 von 369 existierenden Kollektiven177. Die Juden, die nach der Aufhebung der Standes- und Ansiedlungs-Schranken sich nun teilweise dem Ackerbau und der Viehzucht widmeten und als Neulinge nicht in Auseinandersetzungen um "alte Rechte" verwickelt waren, hatten nichts dagegen, ackerbauliche Erfahrungen gemeinschaftlich zu sammeln. Die orthodoxe Bev�lkerung blieb jedoch ihrer traditionellen Haltung verhaftet und verkehrte nicht einmal �ber eine Absatzgenossenschaft, sondern weiterhin als Einzelfamilie mit dem Staat, mit Stadt und Stetl.

176Kooperativno 1980:144; hier auch andere Beispiele 177Kooperativno 1980:#117,N�29, S.246

Die Sovchose standen in der Kontinuit�t der privaten und staatlichen Gutswirtschaften aus der Zarenzeit und wiesen auch deren Form der Arbeitsorganisation sowie einen hohen Grad an Spezialisierung auf; sie sind daher nicht als ein Teil der b�uerlichen Wirtschaft zu betrachten. Obwohl die in der LitBelSSR gegr�ndeten Sovchose gr��tenteils aufgel�st worden waren, bestanden sie in der BSSR in gr��erem Ma�e als in anderen Regionen der UdSSR fort.178

6.2.3. Die Grundbesitzstruktur in den 30er Jahren (1930-1939) Die Zwangskollektivierung bewirkte eine umfassende Umwandlung der wirtschaftlichen und sozialen Struktur im Agrarbereich. F�r die Bauernfamilien stellte sich der Eintritt in einen Kolchos nicht nur als ein Verlust von Boden sowie lebendem und totem Inventar dar, sondern sie konnten sich auch ihre Arbeit nicht mehr selbst einteilen. Oft wurde der Vergleich mit der Leibeigenschaft gezogen, und tats�chlich gibt es viele Parallelen bis hin zur Einschr�nkung der Bewegungsfreiheit. Obwohl die Kolchose formal nie staatlich waren, hatten de facto ihre Mitglieder, also die Bauernfamilien, nicht �ber Umfang, Art, Organisation, Ort und Zeit der Produktion zu entscheiden; es handelte sich also nicht um "echte" landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften. Zudem wurden durch die Errichtung zun�chst von Maschinen-und-Pferde-Stationen [Masyno-konnyja stancyja], dann von MaschinenTraktoren-Stationen (MTS) die kapitalintensiven Produktionsmittel in der Landwirtschaft durch staatlich zentralisierte Einrichtungen verwaltet. In Polesien konnte mit den MTS aber nur dann die Struktur ver�ndert werden, wenn deren Maschinen auch in Anspruch genommen wurden. Dennoch stellten die Kolchose in den ersten 5 Jahren noch kein stabiles staatlich gelenktes System dar. Gerade aus diesem Grund traten auch die oben angef�hrten Schwankungen im Aufbau des Kolchossystems auf, mu�ten die Sto�kampagnen durchgef�hrt werden.

Statt "Hofgr��en" interessieren also neben der Ausstattung der Kolchose mit Land pro Hof vor allem das zum Hof geh�rende private Hofland im Kolchos. Um den Familien den Eintritt in den Kolchos schmackhafter zu machen und den Widerstand zu brechen, erlaubte das am 1.3.1930 von CIK und SNK der UdSSR errichtete Kolchos-Musterstatut den Verbleib von kleinen Hoflandparzellen [priusadebnoe ucastki] sowie von einer Kuh und einigem Kleinvieh in Privathand innerhalb der Kolchose179. Die Familien trachteten danach, das Privatland

178Genaue Werte im Anhang, Tabelle #69 179Lagun 1970:195

so gro� wie m�glich zu halten, teilweise mit Erfolg. Jedenfalls fa�te die VKP(b) (also die Unions-KP) am 4.12.38 einen Beschlu� "�ber die Verletzungen des Statuts der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschafen in den Kolchosen der BSSR"180, in der von "Unterschlagungen von Gemeinb�den" und einer "Nutzung der dienstlichen Position zu pers�nlichen Zwecken" die Rede ist. Nach der anschlie�enden Revision "wurden 37.000 pers�nliche Hofstellen erfa�t, deren Ausma�e die vom Statut in Betracht gezogenen Normen �berschritten". Anschlie�end "wurden den Kolchosen mehr als 109.000 ha Boden zur�ckgegeben"181; d.h. durchschnittlich hatten die beanstandeten H�fe, und es handelte sich immerhin um 4-5% aller H�fe in der BSSR (bzw. 5-6% aller kollektivierten H�fe) knapp 3 ha unterschlagen, eine Gr��e, von der die halbe Familie ern�hrt werden konnte, falls es sich um Ackerland handelte. Gerade in Polesien d�rfte es auch weiterhin verschiedene inoffiziell abgegraste Weiden gegeben haben.

6.2.4. Siedlungsform und Flurverfassung Rein quantitativ gesehen gab es 1926 durchschnittlich 29 Haushalte mit 146 Einwohnern pro l�ndlicher Siedlung. Diese Durchschnittswerte sagen nicht viel. Schaut man sich die Hof- und Einwohnerzahl pro Ort in den einzelnen Gebieten Ostpolesiens an, so f�llt die au�erordentlich starke Heterogenit�t auf: Die Durchschnittszahlen der einzelnen Regionen schwanken zwischen 12 und 70 H�fe pro Ort. Nur die durchschnittliche Gr��e eines Haushalts ist in jeder Region mit rund 5 K�pfen �berall �hnlich.182

Tabelle 16 Am 1.1.1925 herrschten bei den H�fen folgende Siedlungsformen vor: Anzahl der H�fe nach Siedlungsform: �������������������������������������������������������������ͻ �[Perspektivnyj plan 1927:37] � � okrug Mazyr in % BSSR in %� �Gemengelage 40552 77,6 484456 69,8� �Otrub 3758 7,2 26254 3,8� �Chutor 7930 15,2 183117 26,4� �Summe 52240 100,0 693827 100,0� �Registrierte H�fe 53481 102,4 654162 94,3� �������������������������������������������������������������ͼ Leider wird hier wie so oft nicht zwischen Siedlungsstruktur und Flurstruktur unterschieden; der Grund daf�r ist offensichtlich der, da� Begriffe wie chutor und otrub schon mit einer bestimmten Siedlungs- und gleichzeitig mit einer bestimmten Flurstruktur definiert sind (vgl. Glossar). Gliedern wir die verschiedenen Siedlungs- und Flurstrukturen aber genauer auf, erhalten wir

180Razvitie II 1975:127 181Ocerki istorii KP(b)B II 1967:283 182Siehe Anhang, Tabelle #61

derselben Quelle zufolge: 1. Die Einzelhofwirtschaft der H�fe eines Dorfes mit Gemengelage der Felder. 2. Die Otrubwirtschaft: Einzelhofwirtschaft der H�fe eines Dorfes ohne Gemengelage der Felder. Kein Flurzwang. 3. Die Chutorwirtschaft, also Einzelhofwirtschaft au�erhalb von D�rfern, ohne Gemengelage. 4. Die pasjolki: ca. 10-15 Wirtschaften bilden eine Siedlung; es herrscht zwar Einzelhofwirtschaft, aber es gibt einen hohen Grad an Zusammenarbeit; es herrscht Flurzwang ("Gemeinsamer Fruchtwechsel"), die Flure waren aber, da es sich um ehemaliges Gutsland handelte, noch nicht sehr vermengt. Diese Siedlungs- und Flurform unterscheidet sich von der unter "1." aufgef�hrten nicht allzu sehr, sollte aber als quasi-sozialistische Siedlungsstruktur verkauft werden: "unter den Bedingungen Wei�ru�lands erwies sich die pasjolki-Form der Bodennutzung mit gemeinsamer Fruchtwechselwirtschaft [mnogopol'nyj sevoobo-rot] [...] als die beste. Diese Form verschwindet nicht bei einem optimalen Rahmen, sondern mildert die Gemengelage und bringt den Landwirt dem Boden n�her. Au�erdem schw�cht diese Form - bei Einf�hrung eines gemeinsamen Fruchtwechsels unter Bedingungen einer Einzelbodennutzung - den individualistischen Hang der Bauernschaft und erm�glicht die Kooperierung der Landwirtschaft".183 5. Pasjolak mit otrub-Bodennutzung: Wie "4.", aber ohne Gemengelage der Felder und daher ohne Flurzwang. 6. Zu einem Dorf ausgebaute Kleinsiedlung: unterscheidet sich von "1." (Einzelhofwirtschaft) nur durch den anderen Entwicklungsproze�. 7. Genossenschaftliche Form der Bodennutzung: Mehrere H�fe - im Idealfall alle H�fe eines Dorfes - haben gemeinsames totes Inventar (Maschinengenossenschaften), gemeinsamen Boden (TOZe), dar�berhinaus totes und lebendes Inventar (landwirtschaftlliche Artel', Produktionsgenossenschaft) oder zudem noch gemeinsame Haushalte (Kommunen). Obwohl in der Sowjetunion offiziell f�r einen fr�heren oder sp�teren Zeitpunkt die staatliche Verwaltung der landwirtschaftlichen Produktion vorgesehen war, konnten die Autoren des Perspektivplans kaum verhehlen, da� sie nicht nur aus taktischen Gr�nden, sondern auch prinzipiell f�r die einzelb�uerliche Wirtschaft

183Perspektivnyj plan 1927:129f; welchen Einflu� auf die Siedlungsstruktur die Schaffung kleiner Siedlungen hatte, wurde oben schon erw�hnt. Die Siedlungsstruktur der pasjolki erforderte eine starke Solidarit�t, da die wenigen H�fe die mit der Neubesiedlung verbundenen Probleme l�sen mu�ten.

- evtl. im Rahmen von Genossenschaften im urspr�nglichen Sinne des Wortes als Selbstverwaltungsorganen - eintraten, wobei der Staat mit finanz-, struktur- und eben siedlungspolitischen Mitteln regulierend eingreifen sollte.184

Der die einzelne Familie in ihrer Entscheidung �ber die Produktion einschr�nkende Flurzwang herrschte bei den Siedlungsformen N� 1, 4 und 6. Bei den "h�heren" genossenschaftlichen Bodennutzungen wurde der Flurzwang durch Verallgemeinerung aufgehoben, indem nicht nur der Boden mit demselben Produkt bes�t, sondern auch in gemeinsamer Verantwortung bearbeitet wurde. Weil der Boden nicht frei verk�uflich war, hatten die Bauern in der Sowjetunion eine andere Einstellung zur Gemengelage als in Polen (siehe unten). Denn es hatte f�r sie keinen Sinn, den Wert, den der Boden f�r Ortsfremde hatte, durch das Eintreten f�r die Beibehaltung der Gemengelage zu mindern.

Durch die Ma�nahmen zur Verkleinerung der D�rfer und durch die Unverk�uflichkeit des Bodens waren also gute Voraussetzungen f�r eine Entflechtung, also eine Modernisierung der Flurstruktur gegeben.

Kolchosverfassung und Siedlungsstruktur Kolchose hatten in den Augen ihrer Bef�rworter den Vorteil, da� durch ihre Schaffung eine rationellere Betriebsgr��e erreicht wird, die Arbeitskr�fte besser eingesetzt werden k�nnen. Als ideale Grundeinheit eines Kolchos h�tte daher das Dorf erscheinen m�ssen. Die alten Selbstverwaltungsorgane des Dorfes h�tten dann die Produktion organisieren k�nnen. Die bestehenden Siedlungsstrukturen wurden aber nicht zur Kolchosbildung benutzt. Obwohl im Lauf der 30er Jahre immer mehr H�fe kollektiviert wurden, stagnierte die Zahl der Kolchose seit 1932 BSSR-weit bei 9600, auf dem Gebiet der ehemaligen okruge Mazyr und R�cyca demnach etwa bei h�chstens 1200.185 Die Zahl der Siedlungen in diesen okrugen lag dagegen Ende 1926 bei �ber 2700 Siedlungen mit �ber 10 Einwohnern186. Die Kolchose wurden prim�r zur Kontrolle der d�rflichen Sozial- und Wirtschaftsverh�ltnisse geschaffen, nicht zu deren Verbesserung.

Die Kolchose erwiesen sich aus vielen schon oft beschriebenen Gr�nden ganz im Gegensatz zu der modernistischen Erwartung als unrationell. Als dies von den Planern in der UdSSR erkannt wurde, wollten sie dem abhelfen, indem sie statt

184�hnliches schreibt auch Krushinsky 1953:11 185Anhang, Tabelle #63 186Tabelle #61,Sp.3+4

dem ganzen Kolchos einzelnen Brigaden im Kolchos die Arbeit zuteilten. Hierbei handelte es sich nicht um konkrete Arbeitsteams von 5-10 Leuten; vielmehr gab es Anfang 1934 z.B. 7325 Kolchose mit 14.700 Brigaden, also ungef�hr 2 Brigaden pro Kolchos. Eine Brigade umfa�te damit durchschnittlich 60 aktiv Arbeitende. Aber es gab immer noch viel weniger Produktionsbrigaden als Orte �ber 10 Einwohner (1926: 32.000). Auch diese Brigaden hatten also nichts mit der Siedlungsstruktur zu tun.187

Die Siedlungsstruktur - ein bedeutender Anteil an Chutorh�fen und neugeschaffenen kleinen Siedlungen - sowie die Flurstruktur mit den abgelegenen und zudem schwer zug�nglichen Weide- und Waldweidefl�chen war sehr ung�nstig f�r die Kontrollierbarkeit der H�fe durch die Kolchose. 20% der H�fe befanden sich in Chutor-Lage188; "Das Chutorsystem" aber "verhinderte die intensive Ausnutzung der Technik, die vollst�ndige Unversehrtheit [sochrannost'] der Ernte und des gesellschaftlichen Verm�gens"189, freier �bersetzt, die Leute nahmen sich, was sie ges�t, gepfl�gt und geerntet hatten, und was ihnen ihrer Meinung nach sowieso geh�rte. Um dem abzuhelfen, wurde, da man nicht neben jeden Bauern einen Milizion�r stellen kann, die Aussiedlung [sselenie] der Chutorh�fe im Juni 1939190(!) beschlossen; "Tausende von Arbeitern und Angestellten[!] gingen in die D�rfer, um den Bauern beim Hausbau in den neuen Orten zu helfen"191; auch der LKSMB wurde hierzu mobilisiert192; zudem wurden Baumaterialien und andere Mittel bereitgestellt.

6.2.5. Die Einbindung in die Geldwirtschaft Auch der Grad der Einbindung der Bauernh�fe in die Geldwirtschaft ist ein Faktor, der sich auf die Gestaltung der l�ndlichen Produktion auswirkt. Sowohl kleinere als auch gr��ere H�fe der BSSR gingen von 1923 bis 1926 von Tauschgesch�ften (Ware gegen Ware, Ware gegen Dienstleistung) auf Geldgesch�fte �ber:

187Razvitie II 1975:123 188Razvitie II 1975:127; vgl. Historyja III 1973:548 189Razvitie II 1975:127 190Kabysh 1959:110 nennt den 27.5.1939 191Razvitie II 1975:127;vgl. Kazakov 1953:20 192Ocerki istorii LKSMB 1975:204f

Tabelle 17: Eink�nfte b�uerlicher Haushalte in der BSSR in % ������������������������������������������������������������ͻ Byka� 1928:174 Haushaltsgruppe Saatfl�che in Ds. <2 2-4 4-6 6-8 8-16 1924/25 Verk�ufe 39,0 58,1 64,7 64,2 71,9 zum Austausch abgegeben 42,8 16,3 13,7 10,5 7,8 Eink�nfte in Natura f�r Arbeit 18,2 25,6 21,6 25,3 20,3 1925/26 Verk�ufe 71,1 78,9 81,8 78,2 85,0 zum Austausch abgegeben 19,4 7,0 4,0 4,0 1,2 Eink�nfte in Natura f�r Arbeit 9,5 14,1 14,2 17,8 12,8 ������������������������������������������������������������ͼ Die Warenrate der Landwirtschaft stagnierte aber bei 8-9% der Brutto-produktion.193 Die gro�en (viels�enden) H�fe erzielten bedeutend mehr Geldeink�nfte als die kleinen, auch pro Haushaltsangeh�rigen lagen die Eink�nfte vergleichsweise h�her194. BSSR-weit verteilten sich die Eink�nfte eines durchschnittlichen Hofes in den Haushaltsjahren 1924/25 und 1925/26 so:

Tabelle 18: Geldeink�nfte b�uerlicher Haushalte in der BSSR ��������������������������������������������������������������ͻ Byka� 1928:175 In Rubel in % pro Hof Wirtschaftsjahr 1924/25 1925/26 1924/25 1925/26 Hausindustrie 34,58 69,14 23,5 26,7 Arbeit auf fremden H�fen 2,39 3,73 1,6 1,5 Verk�ufe 97,73 161,26 66,5 62,4 darunter Ackerbauprodukte 32,02 40,44 21,8 15,6 darunter Nutzviehprodukte 17,7 18,0 12,0 10,0 dar. lebend. Vieh und Gefl�gel 32,5 77,6 22,1 30,0 darunter sonstiges 15,5 25,3 10,6 6,8 Einlagen, Leihgaben 7,8 13,3 5,3 5,1 Andere Eink�nfte 4,6 11,2 3,1 4,3 � 147,1 258,6 100,0 100,0 ��������������������������������������������������������������ͼ Im okrug Mazyr entstanden im Wirtschaftsjahr 1924/25 die Eink�nfte aus dem Verkauf zu 30% aus dem Bereich Ackerbau (hierunter nur 0,4% technische Kulturen und 6,2% Kartoffeln), zu 27,7% aus lebendem Vieh und zu 6,0% aus Tierprodukten.195 In der BSSR erzielten kleinere H�fe ein Einkommen eher durch den Verkauf von Ackerbau- und Dorfindustrieprodukten, gr��ere durch den Verkauf von lebendigem Vieh.196 Ausgaben mu�ten f�r Steuern und zum Einkauf get�tigt werden. Der Anteil der Steuern an der Gesamtheit der Ausgaben lag bei kleineren H�fen bis 4 ha zwischen 2 und 15%, bei H�fen �ber 8 ha bei 11-23%197, was der Steuerprogres-

193Pjatiletnyj plan 1929:11 194Byka� 1928:172 195Jaroscuk 1926:47 196Byka� 1928:177f 197Byka� 1928:183

sion entsprach. Kleine H�fe mit einer Saatfl�che bis zu 2 ha, zuweilen bis 4 Ds. mu�ten auch f�r den Kauf von Nahrungsmitteln und Saatgut Geld ausgeben198. Der prozentuale Anteil der Ausgaben f�r Inventar, Reparaturmaterial f�r Inventar, Zugkraft und Industrieprodukte lag bei H�fen aller Gr��en zwischen 38% und 46% aller Ausgaben (Haushaltsjahre 1924/25 und 1925/26)199. Die Einbindung in die Geldwirtschaft war in den 20er Jahren angestiegen, hatte aber noch nicht ein solches Niveau erreicht, da� die famili�re Subsistenzwirtschaft aktuellen �nderungen unterlag; jedoch wurden die Bedingungen f�r potentielle �nderungen geschaffen. In den 30er Jahren erhielten die Familien im Lohnarbeitssektor (Zahlung per Arbeitstag [trudoden']) der Kolchoswirtschaft ihren Lohn zum Teil in Naturalien, zum Teil in Geld ausgezahlt. Geldausgaben f�r Steuern und Ger�te wurden nicht mehr von den Einzelfamilien aufgebracht. Eine Einbindung der Bauern in die Geldwirtschaft ergab f�r die Verwaltung keinen Sinn mehr, da die Kontrolle der b�uerlichen Wirtschaft nun unmittelbar erfolgte.

6.2.6. Die materielle Lage der Landbev�lkerung Es ist schwer zu beurteilen, in welcher materiellen Lage sich die ostpolesischen Bauern in den 20er Jahren befanden. Die durchschnittliche Saatfl�che war sehr bescheiden geblieben, die geringen Steuern konnten lediglich daf�r sorgen, da� das Landhunger-Problem nicht ernst wurde.

Die nivellierende Wirkung der Kollektivierung bestand darin, da� alle gleich arm wurden. Der schon erw�hnte "Minskij Muzik" sah in seiner Heimat bei Sluck, da� "die Bauern �rmlich gekleidet sind, sie sehen m�de aus"; "nur einige tragen Stiefel - der Rest geht barfu�"200. Dennoch war die Hungersnot in der Ukraine bedeutend st�rker, denn von dort sollen Leute in die BSSR gewandert sein, um sich dort mit Spreu und Sauerampfer am Leben zu halten201. In Polesien ging es den Leuten dennoch besonders schlecht. �ber das ukrainische Polesien hei�t es: "Die Kollektivierung verschlechterte noch die Lebensbedingungen der polesischen Bauernschaft, und nicht ohne Grund erw�hnte ein Delegierter der Ukraine auf einem Parteitag 128 Gebiete in Polesien, in denen Eink�nfte der Kolchose hinter denen aus anderen Gebieten der Republik zur�ckbleiben".202

198Byka� 1928:181 199Byka� 1928:182 200Minskij Muzik 1937:87 201Lubachko 1972:105 202Kazakov 1953:21

�ber die materielle Situation, in die die Bauernschaft in der N�P-Phase und insbesondere in der Zeit der Zwangskollektivierung geriet, ist viel spekuliert worden. Es ist aber schwer zu sagen, ob die ostpolesischen Bauern �rmer oder weniger arm als die westpolesischen waren.

6.3. DIE LANDWIRTSCHAFTLICHE PRODUKTION 6.3.1. Anteile einzelner Bodennutzungsarten Die ganze Periode hindurch blieb der Charakter Ostpolesiens als ein Sumpf-, Weide- und Waldgebiet erhalten. 1940 noch war 1/3 der Fl�che Wald; der Acker-anteil "ist hier zweimal kleiner als im �brigen Teil der WSSR"203. Laut Smolic waren im Jahr 1927 in der Region Mazyr 330.345 Ds. (19,2% der Gesamt-Fl�che) und R�cyca 163.539 Ds. (25,9%) als landwirtschaftliche Nutzfl�che ausgewiesen.204 1938 wurden in der 25.600km� gro�en, nach der allerneusten Verwaltungsreform gebildeten oblast' Pales'se 363.000 ha bes�t205 und damit 14,2% der Gesamtfl�che. Die Anbaufl�che der gesamten BSSR entwickelte sich wie folgt:206

Tabelle 19: Landwirtschaftlich genutzte Fl�che der BSSR ���������������������������������������������������������ͻ �Es wurden angebaut: 1925 3200.300 ha... 1928 3398.000 ha � � 1926 3322.100 ha 1931 3557.256 ha � � 1927 3403.800 ha 1932 3983.300 ha � � 1937 3541.800 ha � �[Pjatiletnyj plan 1929:7; Razvitie II 1975:153 � � B.S.S.R. 1931:133] � ���������������������������������������������������������ͽ Der H�hepunkt in der extensiven Nutzung der B�den ist 1932 zu verzeichnen. Anschlie�end ging die landwirtschaftliche Nutzfl�che von fast 4.000.000 auf 3.500.000 ha zur�ck. Dies kann verschiedene Gr�nde haben. Einerseits k�nnte es eine "Gesundschrumpfung" sein, nachdem im ersten F�nfjahresplan um jeden Preis die Anbaufl�che erh�ht wurde. Zweitens k�nnte es sein, da� weniger Fl�che angegeben wurde, damit h�here ha-Ertr�ge angegeben oder inoffizielle Ernten eingefahren werden konnten. Drittens k�nnte es sein, da� in der Hungerzeit das Saatgut verbraucht wurde. Wahrscheinlich spielten alle drei Gr�nde eine Rolle. Der okrug Mazyr war auch nach der Revolution derjenige der BSSR, in dem die H�fe am besten mit Futterpl�tzen versorgt waren. Hier standen pro Hof 3,79 Desjatinen Heuschlag (BSSR gesamt: 2,33) und 1,51 Ds. Weiden (0,64) zur Verf�gung, zusammen also 5,30 (2,97) Ds.; demgegen�ber lag die Ausstattung mit

203SSR Wei�ruthenien 1942:37 204Smolic 1929:110; die Verteilung in der ganzen BSSR siehe Tabelle #70 im Anhang 205BSE 46(1940,Sp25) 206Werte f�r die Zeit der Rumpf-BSSR bis 1924 in Margunskij 1966:189

Ackerfl�che durchschnittlich "nur" bei 5,05 Desjatinen (BSSR 5,04).207 In der Sowjetzeit hatten sich208 im Zusammenhang mit der Melioration stark die Heumahd- und Weidefl�chen vergr��ert: auf einen ha Ackerland fielen nun schon 1,6-2,0 ha Heumahdparzellen. Mit anderen Worten: Polesien wurde von der Sowjetmacht als ein Fleisch-Milch-, also Viehhaltungsrajon und als Hanfanbaurajon deklariert, und diesen Charakter behielt Ostpolesien bis zum 2. Weltkrieg.

6.3.2. Der Landbau Die verwendeten Ackerger�te blieben zun�chst dieselben. Im okrug Mazyr gab es 1925/26 keinen rajon, in dem 5 (oder mehr) von 100 H�fen eine Dreschmaschine oder eine Kornschwinge besa�en, aber in jedem rajon des okrugs hatten mehr als 5% der H�fe eine H�ckselmaschine.209 Die handwerkliche Produktion einiger althergebrachter landwirtschaftlicher Ger�te ging zur�ck, wie z.B. die von "Hakenpfl�gen [socha], Holzeggen, Eichenforken"210, sei es wegen Industrialisierung dieser Produktionen, sei es, da� insgesamt weniger von ihnen abgesetzt wurde. In der BSSR war zun�chst nicht der rapide �bergang von jahrhundertealten Ger�ten auf die allermodernsten vorgesehen. Vielmehr sollten Drillmaschinen, auch spezielles Inventar wie Klee-S�maschinen von den Bauernfamilien aus Leihstationen ausgeliehen werden k�nnen. 1925 gab es in der BSSR 120 solcher Leihstellen, sowie 105 Stellen, in denen zudem noch gereinigtes Saatgut geliehen werden konnte.211 Erst w�hrend der Kollektivierung setzte man auf eine �berst�rzte Mechanisierung der Landwirtschaft, was sich vor allem in der Zugkraftfrage ausdr�ckte.

Wie die Versorgung der H�fe in der BSSR mit Zugkraft in den 20er Jahren beschaffen war, sei anhand der schon oben angef�hrten CSU-Erhebung vorgestellt: Tabelle 20: Versorgung der H�fe der BSSR mit Zugkraft, 1925 �������������������������������������������������������������ͻ �[Pjatiletnyj plan 1929:39; die Statistik spricht einerseits � �generell von Arbeitsvieh, in der letzten Spalte nur von � �Arbeitspferden] � � % allen � �Pferd� � Arbeits- � Arbeitsviehversorgung � je� � viehs � ohne 1 St. 2 St. 3 St. 4 St.� Hof� �Ohne Boden 0,3 �78,3 19,6 2,1 0 0 0,3� � < 1 Ds. 2,5 �62,0 37,4 0,6 0 0 0,3�** **�1 - 2 Ds. 15,5 �24,4 74,1 1,4 0,1 0 0,7�** **�2 - 4 Ds. 48,3 � 7,5 81,6 10,6 0,3 0 0,9�** **�4 - 6 Ds. 21,3 � 1,7 69,1 27,4 1,7 0,1 1,2�** **�6 - 8 Ds. 7,4 � 0,9 41,5 69,8 7,5 0,3 1,6�** **�8 -16 Ds. 4,0 � 0,0 30,2 54,9 12,2 2,7 1,9�** **� > 16 Ds. 0,4 � 0,0 11,8 35,3 47,0 5,9 2,5� �Alle H�fe 99,7 �14,2 71,0 13,6 1,1 0,1 0,9� �������������������������������������������������������������ͼ

An der Zugkraft �nderte sich in den 20er Jahren wenig. Die Zahl der Pferde, die ja in Krieg und B�rgerkrieg im BSSR-Gebiet von 783.000 auf 702.000 gesunken war, stieg absolut wieder an (s.u.). Von den Kommandoh�hen der Produktion aus betrachtet entwickelte sich der Einsatz der Pferde als Zugkraft in der BSSR-Landwirtschaft unbefriedigend. Ende der 20er Jahre wurde z.B. die Rechnung aufgemacht, da� ein Pferd zwar 6-8 ha beackern k�nne, aber im Jahre 1929 bes��en

Tabelle 21 ���������������������������������������������������������ͻ [Zachar�nka 1930:5] % der H�fe 5,25 18,4 26,4 21 20 ha pro Pferd 1,6 1,9 2,5 3,4 3,9 ���������������������������������������������������������ͼ und seien also gut ausgestaatet. Auf der anderen Seite h�tten 94.212 H�fe �berhaupt keine Zugkraft212. Daher sollten Maschinen-Pferde-Stationen ein-gerichtet werden. Man glaubte nicht nur, dadurch die Pferde einzeln optimaler einsetzen (und allgemein die sogenannten Kulaken besser bek�mpfen) zu k�nnen, sondern schmiedete Pl�ne, zwei und mehr Pferde vor gr��ere Pfl�ge zu spannen213; wie "in Amerika, wo die Landwirtschaftstechnik am weitestgehenden vollendet ist" k�nnte man auch Dutzende von Pferden "zum Beispiel vor eine Kombine" spannen214. Mit dem Hin und Her der Kollektivierung im Jahre 1930 gerieten auch die Maschinen-Pferde-Stationen aus den Fugen. Im okrug Mazyr wurden nur 7 von 31 geplanten MPS eingerichtet.215 Der F�nfjahresplan ging noch von einer Steigerung der Pferdezahl um etwa 20% aus216. In den Gebieten R�cyca und Mazyr gab es 1928 durchschnittlich 1,3 bzw. 0,9 Pferde pro Hof.217

Traktoren als Zugkraft waren im Perspektivplan ab 1926 vorgesehen. 1930 sollten 350 St�ck BSSR-weit im Einsatz sein218. Tats�chlich gab es in der BSSR 1924 11, 1925 32 und 1926 43 Traktoren. Im okrug Mazyr kamen die ersten beiden Trak-

207Alles Babicki 1927:6 208Kazakov 1954:21 209Smolic 1929:23u 210Titov 1976:29 211Perspektivnyj plan 1927:364 212Zachar�nka 1930:6; wurden die Ochsen in dieser Rechnung vergessen? 213Pjatiletnyj plan 1929:24 214Zachar�nka 1930:8; Abbildung S.7 215Provedenie 1973:103 216Pjatiletnyj plan 1929:337 217Smolic 110f; errechnet nach #72 im Anhang

toren 1925 an, und 1926 war schon in jedem BSSR-okrug auf staatliche Initiative hin ein solches Wunderwerk der Technik vorhanden219. Die Traktoren wurden hinsichtlich ihrer Eignung auf verschiedenen B�den gepr�ft220. Als gr��tes Problem erwies sich die Reparaturanf�lligkeit der Traktoren. Von den 59 untersuchten Traktoren 1926/27 waren:

Tabelle 22 ����������������������������������������������������������������ͻ �[Jasin 1928: 44] � Saison im � Zustand � Einsatz � Summe gut schlecht renovierungsbed � 1 � 30 20 7 3 � 2 � 20 6 5 9 � 3 � 9 1 1 7 � Summe � 59 27 13 19 ����������������������������������������������������������������ͼ Meist ging der Motor kaputt, "haupts�chlich wegen des unverm�genden Umgangs mit ihm"221. Aber der Glaube an die Entwicklung der Produktivkr�fte, insbesondere der Entwicklung der Technik, blieb ungebrochen. Die Handhabung der Zugkraftfrage erwies sich als recht stalinistischer Hebel. �ber sie sollte der Einbruch der modernen Welt in die b�uerliche auf dem Gebiet der Sowjetunion erfolgen, nachdem es �ber die Einbindung in die Geldwirtschaft nicht funktioniert hatte. Aber die Erh�hung der Traktorenzahl wurde von einer derma�en starken Verringerung der Pferde- und Ochsenzahl begleitet222, da� die Zugkraft insgesamt verringert wurde. Zudem war es im sumpfigen Polesien, wo die Zugochsen mit kleinen K�hnen zu den Feldern transportiert wurden und wo sich schmale Ackerflecken in Streulage befanden, unm�glich, einen Traktor oder einen M�hdrescher zu benutzen223. Um das Schlimmste zu verhindern, beschlo� der 11.Kongre� der wei�russischen Sowjets im Januar 1935 wieder "die Zucht von Ochsen als Zugkraft, besonders in Polesien".224 Bei der Entscheidung, welcher okrug mit welchen Traktoren versorgt werden sollte, wurde entschieden, da� in Polesien nur der einfache Traktor "Fordzon F.P.10/20, nicht aber der besser ausgestattete Internacional 10/20 oder der Monarch 40/55 eingesetzt werden solle.225 Am 28.8.1930 beschlo� das BelKalHasC�ntr die Errichtung von Maschinen-Traktoren-Stationen226. Waren die Kolchose schon an sich eine Einrichtung zur

218Perspektivnyj plan 1927:858f 219Jasin 1928:8 220Jasin 1928:30f 221Jasin 1928:46 222Provedenie 1973:363 223vgl. Kabysh 1959:109 224S-ezdy sovetov 1964 V:645, Punkt 4.5. 225Provedenie 1973:162,#92 vom 3.11.30 226Provedenie 1973:#77,S.142

Kontrolle der b�uerlichen Produktion und Ablieferung, so wurden nun diese Kolchose noch selbst von den staatlichen MTS abh�ngig gehalten, die keine rationelle Einrichtung waren, sondern zus�tzliche B�rokratie schufen. Bis 1937 waren 195 solcher MTS mit einer "Leistung" von 350.000 Pferdest�rken in der BSSR errichtet worden.227 Die Einf�hrung der Traktoren auf Kosten lebendiger Zugkraft ging mit einer �nderung der Arbeitsorganisation und Arbeitsteilung einher. Es wurden besondere Traktorkolonnen gebildet. Weil "der Traktor �ber die Menschen kam" und auch kein pers�nliches Eigentum war, wurde ziemlich unsachgem�� mit den Traktoren umgegangen. Michael stellt die Rechnung auf, da� - UdSSR-weit - von 279.208 bis zum 1.1.1933 eingef�hrten (171.067) oder hergestellten (108.141) Traktoren nur 148.480 (oder 53%) �berhaupt im Betrieb waren.228 * Im "Polesskij rajon", zu dem die okruge Mazyr und Babrujsk des Jahres 1925 gez�hlt wurden, soll sich das Verh�ltnis zwischen tats�chlich bes�ter Fl�che und gesamter Ackerbaufl�che folgenderma�en entwickelt haben:

Tabelle 23 ��������������������������������������������������������������ͻ �Prozent der Saatfl�che zur gesamten Ackerbaufl�che �[Perspektivnyj plan 1927:58] �Teil der BSSR 1887 1916 1924 1925� �Polesskij Rajon 70,3 54,0 60,6 66,9� �BSSR ohne Polesien 67,9 74,8 70,6 71,9� ��������������������������������������������������������������ͼ Diese eigenartigen Werte werden so interpretiert: "Der polesische Landbau, der schon vor 1887 von einer ungeregelten Fruchtfolge mit Brache [zaleznoe pestropol'e] abging, beendet den �bergang zur Zweifelderwirtschaft (mit Brache [zalez']) bis 1916 und zur Dreifelderwirtschaft bis 1925. Diese Bewegung darf man nicht als eine gleichzeitige und in gleichem Ma� stattfindende Ver�nderung aller H�fe in allen Regionen auffassen. Ein Teil der Gebiete von Polesien ging schon vor 1925 zur Dreifelderwirtschaft �ber und m�glicherweise "evolutionieren" einzelne Wirtschaften weiter zur Fruchtwechselwirtschaft; ein anderer Teil der Gebiete befindet sich im Stadium der Zweifelderwirtschaft (mit Brache), ein dritter auf dem Weg von der Zweifelder- zur Dreifelderwirtschaft. Kurz gesagt, in verschiedenen Bezirken gehen verschiedene Prozesse vonstatten".229 Doch warum sollten die H�fe, die einen solch hohen Prozentsatz der Ackerfl�che zu bes�en gewohnt waren (vgl. den Wert von 1877), nicht direkt zur Dreifelderwirtschaft �bergegangen sein?

227Ekonomika 1967:239 228Michael 1936:65 229Perspektivnyj plan 1927:58

Der 2-3 Jahre sp�ter aufgestellte F�nfjahresplan spricht nurmehr allgemein davon, da� die verbesserte Dreifelderwirtschaft schon existiere oder nun eingef�hrt werde.230 Dies kann sich kaum auf Polesien bezogen haben. Die Einf�hrung von Nutzbrache oder Fruchtwechselwirtschaft war zwar m�glich, aber nicht notwendig, denn es mangelte in Polesien nicht an Futterpl�tzen. Smolic231 stellte denn auch heraus: "In Polesien haben wir keinerlei Brachesystem [poparnaja], also auch keine Dreifelderwirtschaft." Vielmehr werde Urwechselwirtschaft betrieben232. Auch Kotov stellt fest, da� die Ansicht, im okrug Mazyr herrsche eine Zweifelderwirtschaft, "ganz und gar nicht wahr" sei.233 "Faktisch mu� man sagen, da� hier eine regelrechte Reihenfolge in Wirklichkeit nicht existiert. Die Fruchtfolge verf�gt hier �ber eine der h�chsten Eigenschaften: Beweglichkeit und Dynamik".234 Auch aus den Tabellen # 25 und 26 sowie #71,72 und 73 im Anhang, die die einzelnen angebauten Ackerbaufr�chte erhellen, lassen sich R�ckschl�sse auf etwaige Fruchtfolgesysteme ziehen. Der Roggen als Wintergetreide nahm laut allen diesen Tabellen in allen Jahren 41-52% der Saatfl�che ein, Sommergetreide 30-37%, Kartoffeln 10-20%, Flachs und Hanf 2-6%, Saatgr�ser und sonstiges nur 0-4%. Das deutliche �berwiegen des Wintergetreides �ber das Sommergetreide , das in der Gesamt-BSSR sehr viel schw�cher war (Tabelle #26), beweist, da� allenfalls ein Teil der polesischen Bauern zur klassischen oder verbesserten Dreifelderwirtschaft �bergegangen war, wo ja im Modellfall gleich viel Sommer- und Wintergetreide angebaut wird. Die verbesserte Dreifelderwirtschaft kann schon aus dem Grund nicht allgemein verbreitet gewesen sein, weil der Roggenanteil bzw. Wintergetreideanteil 41-52% gewesen ist.

Die Frage, welche Fruchtfolge vorherrscht, ist oft allein aus begrifflichen Uneindeutigkeiten und Mi�verst�ndnissen schwer zu beantworten.235 Es gibt z.B. f�r nicht bes�te Felder im Russischen und Wei�russischen verschiedene Namen. Eindeutig ist nur der semantische Unterschied zwischen par (Brache im Rahmen geregelter Fruchfolge f�r ein Jahr - kann Schwarzbrache und Gr�nbrache sein) einerseits und zalez', oblog, perelog andererseits (k�rzeres oder l�ngeres Ruhen des Bodens, nicht im Rahmen einer geregelten Fruchtfolge). Druzilovskij unterscheidet zwischen zalez' und par. Danach gab es im Gebiet Mazyr pro Hof durch-schnittlich:

230Pjatiletnyj plan 1929:4u,5o 231Smolic 1929:36 232Smolic 1929:39 233Kotov 1926:136 234Kotov 1926:138 235Im Anhang Definitionen einzelner Begriffe

Tabelle 24: Nicht bes�te, mehr oder weniger als Ackerland gerechnete B�den im okrug Mazyr �����������������������������������������������������ͻ in Ds. pro 100 H�fe [Druzilovskij 1928:207] Jahr Bes�t Par Zalez' Summe 1917 275 6,7 232,6 514,3 1926 314 5,4 203,6 523,0 1927 328 6,2 212,0 546,2 �����������������������������������������������������ͼ

Auch diese Tabelle zeigt, da� in Polesien weiterhin eine Urwechselwirtschaft oder eine Feld-Gras-Wirtschaft herrschte, die den Bedingungen der Landschaft auch am besten entsprach. Eine verbesserte Dreifelderwirtschaft oder Fruchtwechselwirtschaft h�tte keine Alternative zu dem polesischen Wirtschaftskreislauf geschaffen, da hier nur der Futteranteil an der Produktion landwirtschaftlicher Fr�chte erh�ht worden w�re, bei der Fruchtwechselwirtschaft sogar auf Kosten der Getreidefl�chen. Dies h�tte nur durch eine Erh�hung der ha-Ertr�ge aufgefangen werden k�nnen. * Zur Beantwortung der Fragen, welche Fr�chte angebaut wurden, waren mir 3-4 speziell auf Polesien bezogene tabellarische Darstellungen zug�nglich:236

Tabelle 25 Anteile einzelner Ackerfr�chte an der Saatfl�che in % in den okrugen Mazyr+Babrujsk ����������������������������������������������������������������ͻ [Perspektivnyj plan 1927: Seite siehe Spalte ganz rechts] 1887 1901 1913 1917 1920/21 1924 1925 [Seite] Roggen 45,9 44,3 43,5 43,0 42,9 47,4 43,8 [PP 61] Gerste 5,7 5,1 6,0 7,1 8,2 5,2 4,6 [PP 63] Hafer 12,5 15,6 14,4 15,3 12,4 8,8 9,7 [PP 62] Buchweizen 17,1 12,7 9,6 12,1 10,9 11,1 12,5 [PP 63] Kartoffeln 9,3 12,6 16,2 13,6 10,4 11,7 14,0 [PP 64] Flachs + Hanf 2,0 2,6 2,6 3,7 3,6 4,3 [PP 66] Saatgr�ser 0,1 0,8 2,4 0,4 1,6 1,8 [PP 68] Summe Saat 92,6 93,7 89,7 96,1 88,9 89,4 90,7 Die Weizenwerte sind in dieser Tabelle nicht aufgef�hrt oder vergessen worden, Zuckerr�ben wurden in der BSSR fast �berhaupt nicht angebaut. ����������������������������������������������������������������ͼ

Schieben wir eine weitere Tabelle ein, die querschnittartig au�er nach Anteilen der einzelnen Fr�chte an der Saatfl�che auch nach Organisationsform der Bewirtschaftung unterteilt ist

236siehe auch Tabelle # 71 und 73 im Anhang

Tabelle 26 Saatfl�che in Ostpolesien und der BSSR 1931 in ha ����������������������������������������������������������������ͻ [B.S.S.R. Ekanomika-statystycny davednik Minsk 1931, S. 132-193] A)Absolute Anbaufl�che in ha A1): Polesische Bezirke [S.134ff] Winter- Getreide Kartof- Flachs Andere Gesamte % getreide insgesamt feln und Hanf Saat Saat Summe 153639 276210 69839 21496 26969 394514 100 Sovchose 1726 4437 1238 28 4483 10186 3 Kolchose 49599 90513 23974 7611 14736 136834 35 Einzelh�fe 102314 181260 44627 13857 7750 247494 63

A2): BSSR [S.132f] Summe 1230786 2332876 546350 270757 407273 3557256 100 Sovchose 12433 46451 17070 3405 48546 115472 3 Kolchose 501648 956801 244762 135932 215307 1552802 44 Einzelh�fe 716705 1329624 284518 131420 143420 1888982 53

A3): Verh�ltnis Polesien zu BSSR Summe 12,5 11,8 12,8 7,9 6,6 11,1 100 Sovchose 13,9 9,6 7,3 0,8 9,2 8,8 80 Kolchose 9,9 9,5 9,8 5,6 6,8 8,8 79 Einzelh�fe 14,3 13,6 15,7 10,5 5,4 13,1 118 ------------------------------------------------------------------ B) Prozentualer Anteil der einzelnen Saatfl�che B1): Polesien Winter- Sommer Kartof- Flachs Andere Gesamte getreide getreide feln und Hanf Saat Saat Summe 38,9 31,1 17,7 5,4 6,8 100 Sovchose 16,9 26,6 12,2 0,3 44,0 100 Kolchose 36,2 29,9 17,5 5,6 10,8 100 Einzelh�fe 41,3 31,9 18,0 5,6 3,1 100

B2): BSSR Summe 34,6 31,0 15,4 7,6 11,4 100 Sovchose 10,8 29,5 14,8 2,9 42,0 100 Kolchose 32,3 29,3 15,8 8,8 13,9 100 Einzelh�fe 37,9 32,4 15,1 7,0 7,6 100 Aus dieser Tabelle wird der experimentelle Charakter der Sovchose deutlich, die zu 44% der Fl�che Futterpflanzen s�ten. ����������������������������������������������������������������ͼ

In Polesien bestanden also 1931 nach wie vor 41,3% der Aussaat der Einzelh�fe aus Wintergetreide. Die Kolchosproduktion wies dagegen schon ein ausgewogeneres Verh�ltnis zwischen Winter- und Sommergetreide auf. Schauen wir uns die Entwicklung der ha-Ertr�ge an:

Tabelle 27: ha-Ertr�ge wichtiger Feldfr�chte in den okrugen Mazyr + Babrujsk �����������������������������������������������������������ͻ Nach Perspektivnyj plan 1927:69 Werte wurden von Pud/Desjatine in dt/ha umgerechnet 1896-1904 1905-1913 1923-1924 [Seite] dt/ha Roggen 5,82 6,01 6,42 [PP 68] dt/ha Gerste 6,79 7,20 6,79 [PP 69] dt/ha Hafer 6,40 7,18 7,41 [PP 69] dt/ha Kartoffeln 69,43 68,26 73,72 [PP 70] dt/ha Leinsamen 5,02 5,80 3,93 [PP 70] �����������������������������������������������������������ͼ

Die ha-Ertr�ge waren geradezu erschreckend niedrig.237 In den Jahren 1924-1927 lagen die Werte in der BSSR gegen�ber der Vorkriegzeit beim Getreide bei 92-100%, die der Kartoffel bei 123%, bei Flachs gar nur bei 73-76%. In den 30er Jahren konnten diese Werte kaum verbessert werden, zumindest konnten keine besseren Werte notiert werden. Im rajon Lel'cicy wurden im Jahr 1931 oder 1932 zwar 9 dt/ha Gerste, aber nur 5 dt/ha Hafer, 4,5 dt/ha Roggen und 67 dt/ha Kartoffeln geerntet;238 selbst diese Werte k�nnten noch "auf dem Halm", also einschlie�lich des Strohs, gemessen worden sein. Diese niedrigen Werte sind allerdings zu erwarten gewesen, da in diesen Jahren die Anbaufl�che sehr stark erweitert worden war. Doch auch die in den folgenden Jahren erzielten Ertr�ge blieben hinter denen Westpolesiens zur�ck.239

Das einzige Wintergetreide blieb der Roggen; auch 1925 noch machte die Roggenfl�che nahezu 50% der Saatfl�che aus. Der weiterhin hohe Roggenanteil wird nicht nur als Best�tigung der Hypothese interpretiert, da� der Wechsel von der Zweifelderwirtschaft zur Dreifelderwirtschaft in Polesien noch nicht beendet sei240; der hohe Anteil sei auch "das Ergebnis eines gewissen Natural-Konservatismus"241, womit wahrscheinlich gemeint ist, da� die Bauernfamilien keine Experimente liebten. Der Niedergang des Haferanbaus wird nicht erl�utert; interessant ist das aus der Tabelle #73 ersichtliche nach wie vor betr�chtliche Ausma� des Buchweizenanbaus (vgl. Westpolesien).

Sehr viel versprach man sich in den 20er Jahren von der Getreidesortierung. 1924 wurden 704.238 Pud (oder 4% der gesamten Saatmenge), 1925 1.436.720 Pud (8%) sortiert. Diese Relation sollte bis 1930 auf 40% gesteigert werden.242 1925 gab es in der BSSR 150 entsprechende Sortierstellen, sowie 105 Stellen, bei denen gleichzeitig Inventar ausgeliehen werden konnte.243 Anhand der Getreideverarbeitung kann die Funktionsweise staatlicher Politik in den 30er Jahren beleuchtet werden, die bestimmt nicht zur Entwicklung der Produktivkr�fte beitrug: da f�r das Mahlen in staatlichen M�hlen 5 funt pro Pud zu zahlen waren, in privaten sogar 7 funt pro Pud (entspricht rund 17% bzw.

237Dies best�tigen Vansecki 1930:6 und Margunskij 1966:192 238Provedenie 1973: #187,S.385 239Provedenie 1973:188; #93 N�4,S.164; #189,S.388; #184,S.359 240Perspektivnyj plan 1927:59f 241Perspektivnyj plan 1917:60 242Perspektivnyj plan 1927: 365 243Perspektivnyj plan 1927:364

23%), mahlten die Bauern auf steinernen Handm�hlen [zernov]. Da dies von der Verwaltung nicht vorgesehen war, verbot sie in einer Verordnung das private Mahlen kurzerhand. Als der schon zitierte Minskij Muzik einen Handm�hlenbesitzer in einer kleinen Siedlung fragte, warum ihn die �rtlichen KomSoMol-Angeh�rigen nicht verrieten, bekam er zur Antwort: "Weil sie selber essen wollen". Mangels Auftr�ge hatten manche Windm�hlen schon ihren Betrieb eingestellt. Dieses Beispiel zeigt, da� die polesische Bauernschaft einen geringen Grad von Technik und Arbeitsteilung und harte Arbeit einer Preisgabe der Verf�gungsgewalt �ber ihre Produktion vorzogen. Nur mit nackter Gewalt konnte sie auf einen anderen Weg gebracht werden.244

Die Kartoffel hatte ihren festen Platz in der polesischen Produktion erobert. Zu Beginn des Perspektivplans, also 1925/26, gab es in der BSSR 26 Branntweinbrennereien und 14 St�rkemehlfabriken. Die Weiterverarbeitung der Kartoffeln sollte nach dem Perspektivplan gef�rdert werden.245

Nach Daten vom 1.10.1925 gab es in der BSSR 41 Maschinen zur Flachsbearbeitung246. Der Perspektivplan sah eine F�rderung der Flachsverarbeitung und damit indirekt des Flachsanbaus nur f�r die Regionen Mahile� und Vicebsk, nicht f�r Polesien vor.247 In den Jahren 1927 und 1928 betrug der Saatanteil in den okrugen Mazyr und R�cyca 2,8 bis 5,2%, derjenige bei Hanf 1,0 bis 1,8%. Noch 1928 wurde in Ostpolesien mehr Flachs als Hanf angebaut.248 Der geringe Anbau von Flachs und Hanf in den 20er Jahren l��t darauf schlie�en, da� die Bauern weiterhin haupts�chlich jene Produkte anbauten, die sie selbst gebrauchen konnten. In den 30er Jahren wurde BSSR-weit die Flachsanbaufl�che von 140.500 ha (1928) auf 274.900 ha (1939) erh�ht - nun wurde angebaut,249 was die Staatsverwaltung befahl. In Polesien schwenkte man von Flachs- auf Hanfanbau um : 1933 stieg der Hanfanteil an der Saat auf 6,4%, der Flachsanteil fiel auf 1,0%.250 Im Perspektivplan wird auch dem Anbau von anderen Pflanzen wie Klee 251, Wicke252 - (auch als Wintergew�chs) -, Timotheuspflanze253 und der Seradelle254 au�ergew�hnlich viel Raum gewidmet. Die Produktion f�r all diese Gew�chse sollte mindestens verdoppelt werden, indem immer mehr H�fe vom Sinn des Auss�ens

244Minskij muzik 1937:92; �ber Zerst�rungen von Handm�hlen in Wei�ru�land w�hrend der Zwangskollektivierung vgl. auch Bykov 1986 245Perspektivnyj plan 1927:350 246Perspektivnyj plan 1927:355 247Perspektivnyj plan 1927:357u 248Smolic 1929:126 249Ocerki istorii KP(b)B II 242; Kabysh 1959:110 250Socyjalistycna Buda�nictva 1931,3-4:38 251Perspektivnyj plan 1927:341f 252ebd. 343f 253ebd. 344 254ebd. 345

dieser Pflanzen �berzeugt werden sollten. Auch die Lupine als Gew�chs der Gr�nbrache wurde zu Ehren gebracht.255 In den okrugen Mazyr und Babrujsk wurden 1925 6652 Desjatinen angebaut256 - erste Anf�nge wurden also auch hier gemacht257. Auf den trockengelegten S�mpfen wurde auch die Kautschukpflanze Kok-saghys angebaut.258

Obwohl in der Zarenzeit Kunstd�nger schon in Wei�ru�land bekannt gewesen war, "war in den Kriegsjahren, fast bis 1923/24 eine Nachfrage nach Minerald�nger seitens der �rtlichen b�uerlichen Bev�lkerung nicht zu beobachten".259 Die Versorgung mit Kunstd�nger sollte in den 20er Jahren angekurbelt werden, doch das Problem war der Absatz, und dazu hielt man Aufkl�rungsarbeit f�r n�tig260. Es war auch ausschlie�lich von Thomasmehl, Phosphoritmehl und Superphosphat, also nur von einer der drei bekannten Kunstd�ngerarten (Stickstoff, Kali, Phosphor) die Rede.261 Im Zuge der Zwangskollektivierung wurde der Kunstd�ngereinsatz von 4 kg/ha Saat (1928) auf 18 kg/ha (1932) erheblich erh�ht. Es wurde schon bald der falsche Einsatz von Kunstd�nger am falschen Ort und zur falschen Zeit kritisiert262. Im okrug Mazyr wurden 1924/25 an Obst 162.300 Pud �pfel (davon Export: 13.900 Pud), 44.900 Pud Birnen (7000), 5600 Pud Pflaumen und 3100 Pud Kirschen als Ernte statistisch erfa�t.263 Bei 320.000 Einwohnern standen also jedem Menschen pro Jahr ca. 10 kg Obst zur Verf�gung. Hiervon wurde noch ein Teil verkauft264. Die b�uerlichen Einzelh�fe hielten sich Obstb�ume auf meist 1/8 bis 1/4 Desjatine265. Im okrug Mazyr gab es (wahrscheinlich 1924/25) nur auf 384 Desjatinen b�uerlichen und auf 417 Desjatinen staatlichen Obstbau (zum Vergleich BSSR: 12753 bzw. 8447 Desjatinen)266. Es gab offensichtlich kaum Obstbaukenntnisse. Auch Gem�se wurde in der Sowjetzeit wenig angebaut.267 * In den 20er Jahren fand weder eine Intensivierung noch eine Spezialisierung im Landbau statt; er wurde nur zur Selbstversorgung der Bev�lkerung betrieben. Eine etwas gr��ere, bewu�t gef�rderte Spezialisierung gab es in den Kolchosen der 30er Jahre.

255vgl. Korcevoj 1954:4 256Perspektivnyj plan 1927:360 257Smolic 1929:37,119 258Kazakov 1953:21; Gulejcik 1940:19-21; vgl. Pavil'on 1939:9; Kabysh 1960:71 259Perspektivnyj plan 1927:363 260ebd 261Perspektivnyj plan 1927:364 262Provedenie 1973:362 263Perspektivnyj plan 1927: 385 264Perspektivnyj plan 1927: 383 265Perspektivnyj plan 1927: 383 266Perspektivnyj plan 1927:384 267Tabelle #74 im Anhang

6.3.3. Die Viehhaltung Bis 1928 stieg in der BSSR best�ndig die Kopfzahl aller Vieharten, was aber aufgrund der BSSR-Erweiterungen nicht mit Zahlen auf gleicher Grundlage belegt werden kann. Pro Hof ergab sich ein Durchschnitt von 1 Pferd, 2-3 St�ck Rind-vieh, 2 Schweinen und 3 Schafen. Aufgrund der ziemlich nivellierten Sozialstruktur der l�ndlichen BSSR sagen Durchschnittszahlen in diesem Falle etwas aus. F�r Polesien waren absolute Werte f�r die Saison 1924/25, f�r die Entwicklung hingegen nur Prozentualwerte zu finden.

Tabelle 28: Viehbestand in den okrugen Mazyr und Babrujsk im Wirtschaftsjahr 1924/25: ������������������������������������������������������ͻ [Perspektivnyj plan 1927, S. siehe Spalte ganz rechts] Pferde 157.266 [406,408] darunter �ber 3 Jahre alt 121.856 [406,408] 1-3 Jahre alt 17.762 [406,408] <1 Jahr alt 19.416 [406,408] K�he 250.408 [415] Bullen 11.102 [415] Ochsen 68.162 [415] Schweine 430.600 [435] Schafe, ausgewachsen 322.608 [445] Jungschafe 243.733 [445] ������������������������������������������������������ͼ

Tabelle 29: Entwicklung des Viehbestands in den okrugen (uezden) Mazyr und Babrujsk ���������������������������������������������������������������ͻ [Perspektivnyj plan 1927:73-79] okruge Mazyr und Babrujsk; in % aller Tiere 1870 1900 1916 1920/21 1924 1925 [Seite] Pferde 14,7 14,3 14,2 12,6 10,2 9,5 [PP 73] Rindvieh 28,0 38,6 31,7 36,0 32,2 31,3 [PP 75] dar. K�he 47,8 49,3 48,5 [PP 75] dar. Ochsen+Bullen 8,8 14,3 14,9 [PP 75] dar. K�lber 43,4 36,4 36,6 [PP 75] Schafe 32,8 25,3 23,5 25,5 34,3 34,6 [PP 79] Schweine 24,5 21,8 30,6 25,9 23,3 24,6 [PP 77] Tiersumme 100 100 100 100 100 100 ��������������������������������������������������������������ͼ Als die H�fe kollektiviert wurden, schlachteten die Bauern einen betr�chtlichen Teil des Viehs. So sank der Viehbestand in der BSSR in der ersten H�lfte der 30er Jahre rapide268. Die Verwaltung wu�te sich nicht anders zu helfen, als die Erlaubnis zur Privathaltung von Vieh zu erteilen. Auch der private Sektor im Kolchos war gerade bei der Viehhaltung recht ausgedehnt. Noch im Jahre 1938 wurden 69,41% der Schweine, 66,83% der Schafe und 46,37% der Rinder als privates Vieh der Kolchosmitglieder gehalten; au�erdem waren je 4-7% dieser Tier-

268Ekonomika 1967:240; vgl. Tabelle #75 im Anhang

gattungen in Privatbesitz.269 Bis 1938 kamen gerade 3 Pferde, 14 Rinder, 11 Schweine und 6 Schafe und Ziegen auf 100 ha Gesamtfl�che.270

Nach Unterlagen des CSU der BSSR gab es 1924/25 im okrug Mazyr folgende Fl�chen nat�rlicher Heumahdstellen als Futterbasis f�r die Nutztiere:

Tabelle 30: Heumahdfl�chen in Ostpolesien und der BSSR �����������������������������������������������������������ͻ [Absolute Angaben in Ds. und Pud nach Perspektivnyj plan 1927:264f] ha ha ha BSSR Mazyr Babrujsk �berschwemmungsgebiete267947 52403 47073 Trockenb�den 820136 17989 69471 Wald 43829 11130 3697 Moore 596426 145511 82301 Summe 1728338 227034 202542 �����������������������������������������������������������ͼ

Auf diesen Fl�chen konnten folgende Ertr�ge erzielt werden, die zum Teil exportiert271 wurden:

Tabelle 31: Ertr�ge und Hektarertr�ge einzelner Heuarten, 1925 ������������������������������������������������������������������ [Perspektivnyj plan 1927:264f] dt dt/ha dt dt/ha dt dt/ha BSSR Mazyr Babrujsk �berschwemmungsgeb.4788971 17,9 760654 14,5 882194 18,7 Trockenb�den 10159105 12,4 242015 13,5 920638 13,3 Wald 487878 11,1 132416 11,9 37133 10,0 Moore 6525383 10,9 1773725 12,2 846731 10,3 Summe 21961338 12,7 2908810 12,8 2686697 13,3 Saatgras 2114658 16069 130057 Gesamtsumme 24075996 2924878 2816754 ������������������������������������������������������������������ Auff�llig ist der hohe Anteil an sauren, also schlechten Gr�sern im okrug Mazyr, der durch den hohen Anteil an Gr�sern aus �berschwemmungs- und Sumpfgebieten zustandekommt. Au�erdem best�tigt die Tabelle, da� mit nur 0,5% des Anteils von Saatgr�sern an allen Gr�sern weiterhin fast ausschlie�lich auf das nat�rliche Futterreservoir f�r die Tiere zur�ckgegriffen wurde272. Dies lag sicherlich daran, da� ausreichend Futter vorhanden war - besonders in den 30er Jahren, als die Kopfzahl des Viehs sich verringert hatte. Der Anbau von Lupinen und anderen Futterpflanzen stieg zwar prozentual erheblich an, blieb aber unbedeutend.

269Skotovodstvo v SSSR 1916-1938; zitiert nach Vaatz 1942:46 270vgl. Tabelle #73 im Anhang 271Smolic 1929:60 272vgl. auch Tabelle #72

Die Zahl der Pferde pro Hof war in Polesien zwischen 1917 und 1925 stark von 1,24 auf 0,80 gesunken273, wahrscheinlich infolge des B�rgerkriegs. Dies versuchten die Poleschuken durch Ochsenhaltung wettzumachen: die Zahl der Arbeitsochsen pro Hof stieg von 0,47 im Jahre 1917 auf 0,91 im Jahre 1925. Dieses etwas andere Zugtier war besonders in Polesien beheimatet (�hnlich war es in Westpolesien, s.u.): in den okrugen Mazyr und Babrujsk existierten 1925 68.162 Ochsen von 75.187 in der ganzen BSSR. Im Perspektivplan war die Abschaffung der Ochsen vorgesehen274, nur in Polesien sollten sie noch bis 1930 erhalten bleiben. Auch die Zahl der Bullen sollte gesenkt werden, nur die St�ckzahl der K�he erh�ht werden275. Einzelb�uerliche Wirtschaften ohne K�he sollten Kredite bekommen, damit sie sich eine Kuh zulegen konnten. F�r 1925 wurde von einer Durchschnittsleistung einer Kuh von 900 l/J ausgegangen, was knapp den Bedarf der Bev�lkerung deckte (BSSR).276

Tabelle 32: Je nach bes�ter Fl�che unterschied sich der Kuhbestand der H�fe in der BSSR folgenderma�en: ��������������������������������������������������������������ͻ [Perspektivnyj plan 1927:40] % aller Versorgung mit K�hen K�he Saatfl�che K�he ohne 1 St. 2 St. 3 St .4 St.pro Hof Ohne Boden 0,6 41,3 48,2 9,8 0,7 0 0,7 < 1 Ds. 4,2 19,3 71,0 9,1 0,6 0 0,9** **1 - 2 Ds. 16,1 8,2 69,0 21,3 1,3 0,2 1,2** **2 - 4 Ds. 26,8 3,4 52,6 38,5 4,9 0,5 1,5** **4 - 6 Ds. 21,4 1,1 32,4 48,8 14,9 2,8 1,9** **6 - 8 Ds. 6,8 0,4 17,4 50,0 24,5 7,7 2,2** **8 -16 Ds. 3,7 0 7,2 51,8 26,6 14,4 2,5** **> 16 Ds. 0,4 0 0 11,8 35,3 52,9 3,8 Alle H�fe 80

5,4 51,1 35,1 6,9 1,5 1,5 [Schreibfehler wurden korrigiert] ��������������������������������������������������������������ͼ Pro Hof gab es also 1 bis 2 K�he. Dies war auch im okrug Mazyr so, wo 1927 3,2% der H�fe ohne Kuh auskommen mu�ten, 29,4 % eine Kuh und 37,6% zwei K�he besa�en.277 Schweine gab es in den okrugen Babrujsk und Mazyr 1916: 363800; 1920: 315200; 1924: 315.700; 1925: 430.600; die St�ckzahl der Schweine war gestiegen278; aber auf 100 L�ufer kamen 1925 nurmehr 125 Schweine, die �lter als ein Jahr alt waren - 1916 waren es noch 236 gewesen. Allein im okrug Mazyr stieg die Zahl der Schweine von 258 pro 100 H�fen im Jahr 1925 auf 323 im Jahr 1927279. Die Aufw�rtsentwicklung dieses "Luxus"-Nutztiers, das vorwiegend des Fleisches

273Druzilovskij 1928:208 274Perspektivnyj plan 1927:415 275ebd 276Perspektivnyj plan 1927:416 277Druzilovskij 1928:208 278Perspektivnyj plan 1927:435 279Druzilovskij 1928:208

wegen gehalten wurde, l��t darauf schlie�en, da� �berhaupt der Wohlstand der �rtlichen Bev�lkerung wuchs. Allerdings war in den 20er Jahren der Kriegsstand noch nicht erreicht worden. In den 30er Jahren wurde das sogenannte Schweinedekret erlassen, welches den Bauern verbot, Schweinehaut anzusengen und zu �berbr�hen und so schmackhaften Speck herzustellen.280 Auch aus diesem Grund ging die Schweinehaltung zur�ck. Die Schafzahl wollte der Perspektivplan etwas senken281. Druzilovskij hielt es f�r unzweckm��ig, wenn Bauernh�fe je 1-2 Schafe halten282, besser sei es, wenn sich einige H�fe spezialisierten.

In den okrugen Mazyr und Babrujsk wurde wenig (steuerfreies) Kleinvieh registriert283. In Polesien war die Jagd auf Wildenten bedeutend.

6.3.4. Andere b�uerliche Gewerbe Das CSU z�hlte 1925 im okrug Mazyr 8450 H�fe, die Bienenzucht betrieben, mehr als in jedem anderen okrug (zum Vergleich BSSR 41.634). Insgesamt wurden 24.734 Bienenfamilien gehalten (BSSR:136448). Der Perspektivplan h�lt die polesische Bienenzucht f�r "vorwiegend primitiv". Eine "h�here" Organisation in einem Bienenzucht-Koop hatten im Gebiet Mazyr aber bis dato nur 14 Leute gew�hlt, es gab 2 solcher Kooperativen.285

Tabelle 33: In der BSSR gab es nach Herkunft und nach zeitgen�ssischer Einteilung in W�lder staatlicher und �rtlicher Bedeutung [vgl. hierzu Jalovic 1955:111f] folgende Waldbest�nde: ����������������������������������������������������������������ͻ W�lder Am 1.Jan 1926 [absolute Angaben nach Perspektivnyj plan 1927:773] in ha BSSR in % Mazyr in % Babrujsk in % Staatliche Bedeutung 2868938 86 655130 93 401347 85 darunter wertvoll 2416297 73 519765 74 345069 73 Lokale Bedeutung 449303 14 46975 7 68198 15 darunter wertvoll 391850 12 44256 6 52138 11 Summe 3318241 100 702105 100 469545 100 darunter wertvoll 2808147 85 564021 80 397207 85

ehemalige staatliche 624500 19 157200 22 154200 33 ehemalige private 2331300 70 507700 72 261700 56 ehemalige b�uerliche 362500 11 37200 5 53700 11 Kontrollsumme 3318300 702100 469600 ����������������������������������������������������������������ͼ

280Minskij muzik 1937:117 281Perspektivnyj plan 1927: 446 282Druzilovskij 1928:208 2831925 rund 400.000 H�hner, 70.000 G�nse, 7000 Enten und 2000 Truth�hne Perspektivnyj plan 1927: 449; Druzilovskij [Druzilovskij 1928:210] spricht von 270-300 H�hnern, 28-54 G�nsen und 6-12 Enten pro 100 H�fe im okrug Mazyr in den Jahren 1925 bis 1927 285Perspektivnyj plan 1927:455

Sowohl in Ost- als auch in Westpolesien hatten Krieg und B�rgerkrieg den Waldbestand merklich ruiniert. Zum 1.1.1931 hatte sich offiziell die Waldfl�che gegen�ber den in Tabelle 33 ausgewiesenen Werten erh�ht286. Auf einen Einwohner kam 1,6 ha Waldgebiet.

Das Ausma� des Wildfr�chtesammelns wurde in der BSSR nicht statistisch erfa�t. Allen Ernstes wurde im Perspektivplan vorgeschlagen, das Sammeln von Pilzen und Beeren zwar grunds�tzlich kostenlos zu gestatten, "aber in Bezug auf das Sammeln von Steinpilzen [kamnja] und das Ausheben von Ton und Sand die kostenlose Nutzung nur auf dem Gebiet des privaten Konsums des b�uerlichen Hofes", die sonstige Nutzung aber gegen Geld zuzulassen.287

"In der BSSR ist die Jagd kein Gewerbe f�r die �rtliche Bev�lkerung; nichtsdestoweniger dient sie einem Teil der Bev�lkerung als Hilfe

im Hof"288. Das Ziel der Planung war eine Vergr��erung des Wildbestandes, die mehr Jagd und schlie�lich mehr Geldeink�nfte auf diesem Sektor erm�glichen sollte. Verschiedene Tiergattungen hatten sich schon rargemacht; 1924 gab es nurmehr in 9 von 163 F�rstereien der BSSR Biber, Wildziegen in 28, Elche in 10, Wildschweine in 8, Marder in 17, Fischotter in 2, Luchse in 2 und B�ren in 4 F�rstereien. Nur �ber f�nf Gebiete mit 14.380 Ds. wurde ein Jagdverbot verh�ngt, am 1.10.1925 �ber zwei weitere Gebiete. Auf Beschlu� des SovNarKom vom 30.1.1925 wurde ein Naturschutzpark geschaffen.289 Im zu 34,7% mit Wald bedeckten okrug Mazyr gab es 26 F�rstereien [lesnicestvo], was l�ngst nicht ausreichte, um 7021 km� Wald zu bedienen. Der Wilderei konnte kein Riegel vorgeschoben werden.

In den okrugen Mazyr, Babrujsk und Sluck war Holz nach wie vor genug vorhanden, Schwierigkeiten bereitete aber der Transport aus den s�dlich der Prypjac' gelegenen Gebieten, in denen es keine Eisenbahnen gab290. Mazyr, Zytkavicy, Kalinkavicy und El'sk verf�gten �ber S�gewerke, Mazyr auch �ber eine Furnierfabrik291.

286Jalovic 1955:112: Wald staatlicher (3142.000 ha) wie lokaler Bedeutung (550.000); ich beschr�nke mich auf Verarbeitung von Material �ber die 20er Jahre; �ber die 30er Jahre: Jalovic 1959:115f 287Perspektivnyj plan 1927:809 288ebd.,809 289Perspektivnyj plan 1927:810 290Perspektivnyj plan 1927: 791f 291Perspektivnyj plan 1927:793

In den 30er Jahren war in Mazyr noch eine M�belfabrik gebaut worden. "Die gro�en W�lder des Pripjetbeckens und die g�nstigen Verkehrsbedingungen haben die Entstehung einer ganzen Reihe von Betrieben der Holzindustrie in Mosyr beg�nstigt".292 Die Holzindustrie war also das Gewerbe, an dem man in eine vormals b�uerliche Nebenbesch�ftigung einhakte. Ich fand jedoch kein Material, das auf die Frage, wie das Holz "abgebaut" wurde und wie es in die Fabriken kam, Antworten gegeben h�tte. Auch von Konflikten zwischen Bauern und Staatsorganen um F�llrechte ist in diesem staatlich genehmigten Material keine Rede. Das Grunddilemma bestand darin, da� die Nachfrage nach Holz (1926/27 in der BSSR: 11.314.000 m3) das Angebot bei weitem �berstieg (5.156.000 m3)293. Im Perspektivplan wurde eine unabwendbare L�cke f�r die holzverarbeitende Industrie vorhergesagt.294 Der Plan empfahl, Bauten mit feuerbest�ndigem Material zu errichten295, Torf als Brennmaterial zu verwenden und die Waldbest�nde m�glichst irgendwie zu erhalten.296 Es gebe "zahlreiche F�lle, in denen hochwertiges Nutzholz, welches die Holzexportorganisationen und der Transport ben�tigen, nicht ihrer direkten Bestimmung gem��, sondern kleinen Unternehmen ausgeliefert werden, was vom staatlichen Standpunkt aus unzweckm��ig ist" - so wird in diplomatischer Ausdrucksweise umschrieben, da� der Staat in der N�P-Periode Schwierigkeiten hatte, die Wirtschaft nach �kologischen Gesichtspunkten zu lenken, wenn er weder Zwangsmittel anwenden, noch teuer aufkaufen wollte. Die 449.000 ha Waldes �rtlicher Bedeutung, die die BSSR-Staatsverwaltung den Bauern schon kostenlos �bergeben hatten, sollten gen�gen, fortan sollten Waldgebiete nur noch verkauft werden.297 Kopfschmerzen bereitete den Planern auch, da� in der BSSR von 2,4 Millionen St�ck Vieh 1 Million im Wald ihr Futter fand. "Die Waldweide des Viehs ist vom Gesichtspunkt der Interessen der Forstwirtschaft vollkommen unzul�ssig"; solange aber die �rtliche Bev�lkerung die W�lder als Weide ben�tige, m�sse man sich auf die Forderung beschr�nken, da� wenigstens der Nachwuchs nicht abgefressen werde; Die mit �ber 15 Jahre alten B�umen best�ckten Waldfl�chen sowie die Sumpfgebiete machten zusammen 1,6 Millionen ha aus; auf diesen sollten dann aber h�chstens 800.000 St�ck Vieh weiden.298 Der F�nfjahresplan projektierte die Kultivierung von 19.260 ha299 mit einem

292SSR Wei�ruthenien 1942:37 293Perspektivnyj plan 1927:797 294Perspektivnyj plan 1927: 801 295ebd.:802u 296ebd.:803 297Perspektivnyj plan 1927:803 298Perspektivnyj plan 1927:808 299vermutlich ha, eine Einheit ist nicht angegeben; Pjatiletnyj plan 1929: 355

Aufwand von 401.000 Rubeln. Bis zum Beginn der Kollektivierung hatte sich in Hausindustrie und Dorfgewerbe wenig ge�ndert. "Fast jedes Dorf hatte seine Handwerksmeister, M�ller, Leute, die sich auf diesen oder jenen Aspekt der handwerklichen Produktion spezialisiert hatten, ganz zu schweigen von der Fertigung jener im t�glichen Leben notwendigen Dinge, die nahezu jeder Bauer machen konnte, wie einen Handkorb, einen Trog, einen Spaten, Griffe f�r Beil und Axt u.�.".300 Weiterhin wurde fast nur zur Befriedigung des eigenen Bedarfs produziert, seltener auf Auftrag, noch seltener f�r den Markt.301 1917 betrieben 11,8% (von 7353 untersuchten) H�fe nebenbei noch ein Handwerk, 1924 waren es 12,4% und 1925 pl�tzlich 21,9% (von 9765 bzw. 10308).302 So absurd die pl�tzliche statistische Steigerung auch ist, so zeigen die Werte doch das Fortbestehen der b�uerlichen Nebenbesch�ftigungen. In Polesien 1926 f�hrten 24% der H�fe, ein Jahr sp�ter schon 60% der H�fe ein Nebengewerbe durch.303 Warum, so fragt sich Titov, wurde weiterhin soviel selbst hergestellt? Er f�hrt an: a) Die D�rfer liegen ab vom Schu� (dies ist in Polesien besonders extrem gewesen), b) auf dem Land waren die Rohstoffe billig oder gratis, c) Tradition, d) im Herbst und Winter waren Arbeitskapazit�ten frei, e) der staatliche Handel war unzureichend304.

In der BSSR war das Handwerk in der NEP-Phase ein Kleinhandwerk geblieben, was auch ungewollt durch die Gesetzgebung gef�rdert wurde. Erstens gab es Hindernisse, im Handwerk Lohnarbeiter zu besch�ftigen: 1923 waren in der BSSR 72,7% der Arbeitskr�fte st�dtischer Siedlungen selbst die pers�nlichen Eigent�mer ihrer Unternehmen305. Und 1925/26 hatten die 63389 Unternehmen 100.374 Besch�ftigte306. Zweitens waren die komplizierteren Handwerksprodukte genehmigungspflichtig. Allgemein ging es mit dem Handwerk bergauf, besonders in l�ndlichen Orten307. Diese Entwicklung zog aber keinesfalls nach sich, da� die Bauernfamilien auf ihre Nebent�tigkeiten verzichteten. Welche Zweige der Hausindustrie schon Gegenstand bestimmter Berufsaus�bung geworden und nicht mehr in Nebenbesch�ftigung

300Titov 1976:40 301ebd. 302Filipinov in Sovetskoe Stroitel'stvo 1927 N�1 S.93, zitiert in Titov 1976:30f 303Druzilovskij 1928:208; Dies beweist einmal mehr die Schwierigkeit der Definition und statistischen Erfassung von "Nebengewerben" 304Titov 1976:40 305Titov 1976:25 306ebd.:26 307ebd.:29

ausgef�hrt worden waren, zeigt Tabelle 34.

Tabelle 34: Die Handwerkszweige der BSSR ����������������������������������������������������������������ͻ [Titov 1976:32] Zweig St�dte Stetl D�rfer Summe Holz 4,8 2,7 92,5 100 Mineralrohstoffe 12,2 5,1 82,7 100 Metall 13,0 5,9 81,1 100 Seide 10,7 13,3 76,0 100 Kleidung,Schuhe,Toilette 24,1 7,8 68,1 100 Knochen 35,3 18,1 46,6 100 Flachs und Hanf 58,0 21,0 21,0 100 ����������������������������������������������������������������ͼ �berraschenderweise war gerade die Flachsverarbeitung schon in nichtb�uerlicher Hand konzentriert. Trotz des Aufstiegs des Handwerks starben die Handwerksstetl allm�hlich, unter anderem deshalb, weil sie sich vorher durch die Ansiedlungsbeschr�nkungen f�r Juden in einer Unterfunktion mit versteckter Arbeitslosigkeit befanden. In Polesien gab es z.B. in dem Ort Scedrin im Rajon Parycy 1924 noch 118 Handwerker, 1930 nur noch 95308. Und in Davydo�ka (Rajon Azaricy) arbeiteten 1929 von 10 ortsans�ssigen Tischlern nur 6 und von 5 Schindelmachern nur 3.309 "Viele Handwerker gingen auf der Suche nach Lohnarbeit [zarabotka] durch die nahegelegenen W�lder. Aber im Dorfe selbst machte sich die agrarische �berbev�lkerung bemerkbar, es wurden keine zus�tzlichen Arbeitskr�fte ben�tigt".310 So hatte das sterbende Handwerk zwei Erben: Die Industrie und das Nebengewerbe der Einzelh�fe. Auch Kolchose traten mit dem Anspruch auf, die b�uerlichen Nebengewerbe zu organisieren; meist hatte man dort aber andere Sorgen.

Bot Polesien, "eines der Gebiete mit den reichsten Sumpfeisenvorkommen Wei�ru�lands"311, noch der Landbev�lkerung eine Nebenerwerbsquelle in diesem Gewerbezweig? Schon J�ger312 bemerkte: "das h�ufig vorkommende Rasenerz setzte im 19.Jahrhundert viele Eisenh�tten in T�tigkeit, die aber in neuerer Zeit mehr und mehr eingegangen sind". "Die Gewinnung von Sumpferz bereitet in Polesien [...] keine gro�en Schwierigkeiten, weil das Erz �berhaupt nicht tief liegt, und oft liegt es sogar �berirdisch."313. Dieser weitreichenden potentiellen Ausnutzung stand aber eine nur geringf�gige tats�chliche gegen�ber: "Jetzt aber wird das Sumpferz in Polesien und in anderen Orten der BSSR von der Einwohnerschaft nur f�r die Fundamente der Behausungen verwandt" , "sie bauten sogar Fundamente

308Titov 1976:34 309Titov 1976:35 310ebd. 311Lja�danski 1933:5 312J�ger 1919:16 313Lja�danski 1933:5

f�r eine Kirche" damit.314

Auch der Torf wurde von der Verwaltung als wertvolles Gut angesehen.315 Wieviel Fl�che von verwertbarem Torf bedeckt war, wu�te in den 20er Jahren in der BSSR niemand so genau. Sch�tzungen sprachen von 55.781 Desjatinen im okrug Mazyr (BSSR 1925 :198.021 Ds.)316. Der Perspektivplan sah vor, da� ein Gebiet von 5000 Desjatinen durch 660 in neuen Siedlungen lebende Familien (H�fe) bearbeitet, also 3300 Menschen der Lebensunterhalt gesichert werden sollte.317 Die Siedlungen sollten eine komplette Infrastruktur erhalten, an �rzte war genauso gedacht worden wie an Drillmaschinen. Wozu der Torf dann verwendet werden sollte, war aber nicht nur der b�uerlichen Bev�lkerung unklar, sondern auch den Autoren des Perspektivplans, die nur sehr unpr�zise von der D�ngung durch Torf sprechen anscheinend war die Beschaffenheit der wei�russischen Torfe noch nicht genau untersucht worden.318 Sowohl Sovchose (Torf als D�nger)319, als auch die Industrie (Torf als Brennstoff)320 sollten Nutzer des Torfes werden. Der Abbau war noch als ein handwerklicher projektiert, es sollten aber 4 Torfgenossenschaften gegr�ndet werden, die auch maschinell Torf heben sollten.321 F�r den okrug Mazyr war ein Torfabbau von Staats wegen nicht vorgesehen.322

6.3.5. Familienstruktur, Arbeitsorganisation und Arbeitsteilung Die Landaufteilungen in den Jahren 1917-1921 f�hrten nicht zu einer neuen Form der Arbeitsorganisation. Im Gegenteil: durch die Landaufteilung und die damit verbundene Vergr��erung der Besitz- und damit der Anbaufl�che konnte die famili�re Arbeitsorganisation mit ihren spezifisch polesischen Merkmalen traditioneller Arbeitsteilung stabilisiert werden, da so die Unterversorgung mit Land aufgeschoben wurde. Der Hang zur Subsistenzproduktion, der sich z.B. darin ausdr�ckt, im Winter weniger als im Sommer zu arbeiten,323

314Lja�danski 1933:19; Detailliert beschreibt Lja�danski �ber 100 Stellen in Polesien mit Eisenerzvorkommen und verweist auf die z.T. lange geschichtliche Tradition des Abbaus, der nun in der Zwischenkriegszeit brachlag. 315Perspektivnyj plan 1927:252-263 316Perspektivnyj plan 1927: 291 317Perspektivnyj plan 1927:252 318ebd.:292f 319ebd.:306 320ebd.:307f 321ebd.:299; vgl. Jalovic 1956:63 322Perspektivnyj plan 1927:310-315 323Die j�dischen Bauern hatten im Gegensatz zu den wei�russischen das Bestreben, auch die Winterzeit zu nutzen, vgl. Itogi raboty 1927:10

wurde durch die Agrarpolitik, die - unbeabsichtigt - die Bauern vom Markt fernhielt, noch zus�tzlich gef�rdert. Die Familien gingen den verschiedenen T�tigkeiten in Land-, Fisch-, Wald- und Hauswirtschaft weiterhin als Familien nach und brannten sich auch ihren Alkohol selbst324. Da die Familien ihre vielseitigen Arbeiten weiterhin beherrschten, versp�rten sie auch keinen Bedarf nach einer neuen �berfamili�ren Arbeitsteilung. Auch die jahreszeitliche Einteilung der Arbeit ver�nderte sich nicht, da nach wie vor eine ausreichende Menge an Arbeitskr�ften (anders gesagt: zuwenig Land) vorhanden war, so da� es keine Dispositionsprobleme gab. Kurz, in der N�P-Periode blieb die traditionelle Arbeitsorganisation bestehen. Auch die Einbindung in eine Kredit- oder Konsumkooperative �nderte nichts an der Arbeitsorganisation. Erst die Mitgliedschaft in einer Maschinen- oder Produktionsgenossenschaft erforderte �berfamili�re Absprachen der Organisation der Produktion. Die traditionellen Br�uche der Gemeinschaftsarbeit l�sten sich nicht auf. Nach Bocon' und Min'ko erleichterten die polesischen Traditionen des gemeinsamen Besitzes an Zugvieh und der talaka die Bildung "kleiner Produktionsgenossenschaften" und die Tradition gemeindlicher Hilfsfonds die Bildung von Kreditgenossenschaften in der Sowjetzeit.325 Die Frage bleibt aber, ob die Landbev�lkerung diese neuen Institutionen noch als ihre eigenen anerkannte.

Das CSU der BSSR, das pro Jahr und Kopf 300 Arbeitstage ansetzte, ermittelte, da� bei den 3 Hauptgruppen der Bauern folgenderma�en die zur Verf�gung stehende Arbeitszeit ausgenutzt werde:

Tabelle 35: Potentielle und tats�chliche Arbeitszeit der Bauernfamilien in den fr�hen 20er Jahren; in Tagen pro Jahr und Familie ����������������������������������������������������������ͻ [Perspektivnyj plan 1927:41] Potentielle Tats�chliche Ausnutzung Arbeitszeit Arbeitszeit in % Arme 701 529 75,6 Mittlere 1083 810 74,8 Wohlhabende 1233 943 76,5 ����������������������������������������������������������ͼ Als die Kollektivierung durchgef�hrt wurde, waren weder Verwaltung noch Bauernschaft auf die entsprechende neue Form der Arbeitsorganisation vorbereitet. Zuerst wurden die (zun�chst aus dem Ausland importierten) Traktoren in den Kolchos gebracht, dann erst schuf die Verwaltung mit den Traktorenbrigaden diejenige Arbeitsorganisation, die sie f�r angemessen hielt.

324vgl. Melesh 1974:220 325Obscestvennyj 1987:37

Die Kolchosmitglieder verrichteten zweierlei Art von Arbeit: die von der Leitung organisierte und die selbstorganisierte - einerseits Lohnarbeit, andererseits Produktion f�r den eigenen Bedarf; der zweite Bereich war in Polesien auch vom zeitlichen Aufwand her nicht unbedingt ein nebens�chlicher, aber letztendlich f�hrte die Kolchosleitung das Kommando �ber die Arbeitskraft der Bauern. Die Kontrollm�glichkeiten waren aber deshalb begrenzt, weil ja die chutora und pasjolki �rtlich abseits der Kontrollinstanz lagen. Die Bauernschaft versuchte, das Kommando �ber ihre eigene Arbeitskraft mit verschiedenen Tricks zur�ckzuerlangen. A) Es wurden m�glichst wenige Arbeitstage im Kolchos abgeleistet.326 B) Der Ehemann arbeitete innerhalb und die Frau au�erhalb des Kolchos. Auf diese Weise sollte ein Teil der patriarchalischen famili�ren Arbeitsorganisation innerhalb des Kolchos aufrechterhalten werden327. Ein betr�chtlicher Teil der ideologischen Frauenarbeit der Parteiorganisationen bestand darin, die Arbeitskraft der Frauen direkt in die Arbeitsorganisation der Kolchose einzubinden. Dabei f�hrten die Frauen auch hier weiterhin die ihnen traditionell im Rahmen der famili�ren Arbeitsteilung zufallenden T�tigkeiten durch. So wurden sie h�ufig als Melkerinnen abgebildet329, aber es gab keine Traktoristinnen.330

Um die Produktion �berhaupt aufrechterhalten zu k�nnen - nicht nur um sie in die richtigen Bahnen zu lenken - mu�ten Arbeiter und Jugendliche auf das Land geschickt werden. Hauptfunktion blieb aber die Kontrolle �ber die b�uerliche Produktion. Die neue Art der Arbeitsorganisation, die mit der Kollektivierung einherging, sollte die Planwirtschaft als eine Kommandowirtschaft verwirklichen. Deren negative Eigenschaften - Gleichg�ltigkeit der Produzenten gegen�ber dem Produkt (Entfremdung), B�rokratisierung - traten sofort auf und sollten schon bald zu dem hilflosen Versuch f�hren, durch den "sozialistischen Wettbewerb"

326Lagun 1970:202 bringt ein Beispiel 327vgl. Lagun 1970:201; Das Fortbestehen patriarchalischer Traditionen wurde oben schon anhand des geringen Schulbesuchs der M�dchen thematisiert. Frauen mu�ten auch ihr Wahlrecht zu den Sowjets erst durchsetzen. "Durch die Verwaltung der RSK [Rajonnyj Sojuz Kolchozov] wurden die Wahlen in den Kolchosen Cyrvonaja zorka [Roter Stern] und Juny leninec [Junger Leninist] aufgrund der Nichtzulassung von Frauen zum Wahllokal annulliert." [Provedenie 1973:115 #197 329vgl. die Abbildungen in der Brosch�re von Sybaca� 330Itogi 1959:#47, S.101+#48,S.108; vgl. Tabelle #76 im Anhang.

und durch eine Einteilung der Kolchose in st�ndige Brigaden331 den Bauern Konkurrenzverhalten und Verantwortungsbewu�tsein beizubringen. Dies hatte nichts mehr mit den traditionellen Formen gegenseitiger Hilfe zu tun. Letztere war unter den Bauern gerade in den 30er Jahren besonders wichtig. So gaben diejenigen, die Saatgetreide �brig hatten und daher Requisitionen bef�rchteten, dies denen, die ihren Boden nicht bes�en konnten.332 * Zusammenfassung : die b�uerliche Wirtschaft in Ostpolesien Es schien zun�chst, als k�nnte die BSSR einen anderen Weg aus der St�ndegesellschaft weisen als den der Kapitalisierung, einer auf Kosten der Landwirtschaft betriebenen Industrialisierung und des Hofsterbens. Freilich machte hier die Tr�gheit der Sitten den Aktivisten zu schaffen. Alle Beschr�nkungen einer kapitalistischen Entwicklung durch die Agrarverfassung der BSSR sowie alle Besteuerungs- und Subventionsma�nahmen der �ffentlichen Hand bewirkten in Polesien nur das Festhalten an extensiver Wirtschaftsweise, Familieneigentum, geringer Marktproduktion und geringer Arbeitsteilung. Die Ma�nahmen der Agronomie und andere Vorschl�ge der Staatsverwaltung griffen nicht, da sie nicht von der Bev�lkerung aufgenommen wurden. Um so deutlicher hebt sich auf diesem Hintergrund der Erfolg (im Sinne des Urhebers) der Politik von Pryscepau ab - wohl nicht ohne Widerstand der Bauernschaft. Hier gelang ein betr�chtlicher Einschnitt in die Siedlungsstruktur, der neben dem Ziel eines Abbaus der "l�ndlichen �berbev�lkerung" den Flurbereinigungsprogrammen Rechnung trug und daher "trotz" seiner Dezentralisierungstendenzen als modernisierend einzustufen ist.

Materiell ging es den Menschen in den 20er Jahren allm�hlich besser. Zur�ckzuf�hren ist dies auf eine Erh�hung der landwirtschaftlichen Nutzfl�che, die den Familien zur Verf�gung standen; diese kam durch die revolution�re Umverteilung des Bodens, eine prob�uerliche Preis-, Kredit- und Steuerpolitik und durch eine Verminderung des Bev�lkerungsanstiegs zustande, letzteres beg�nstigt durch eine Abwanderung in nahe St�dte und ferne Gebiete333.

331vgl. auch Schiller 1960:35; f�r Wei�ru�land: Provedenie 1973: #83, S.352 332Minskij Muzik 1937:113f 333vgl. auch Druzilovskij 1928:207

Die landwirtschaftliche Produktionsweise in Polesien hatte sich in der NEP-Zeit wenig ge�ndert. Im 1928 beginnenden F�nfjahresplan wird die allgemeine wirtschaftliche Lage Polesiens folgenderma�en beschrieben:334 Grundlage sei eine extensive Weidewirtschaft und eine dementsprechend primitive Fleischviehzucht; es gebe keine M�glichkeiten zur Entwicklung der Warenproduktion im Bereich Ackerbau. Die Bev�lkerung verbrauche ihre Produkte selbst. Der F�nfjahresplan empfahl angesichts dieser Lage nicht eine Forcierung des Ackerbaus. Vielmehr gelte es, auf den Torfb�den eine Futterbasis f�r das Vieh zu schaffen sowie durch extensive und intensive Melioration (der B�den) und den systematischen Einsatz von Kunstd�nger, zumindest eine Selbstversorgung mit Getreide zu erm�glichen335. Damit Polesien seinen rechtm��igen Platz in der sowjetischen Wirtschaft einnehme, sollten Holz exportiert und Torfkombinate errichtet werden336.

Die BSSR als eine Agrarrepublik wurde in den 20er Jahren von Personen geleitet, die zwar nicht direkt die Interessen der Bauern vertraten, die aber dieser 80% der Bev�lkerung stellenden sozialen Gruppe wohlgesonnen waren. Das Mi�trauen gegen�ber der (relativen) Unabh�ngigkeit der Einzelbauern, deren Wirtschaftsweise in Polesien fast autark geblieben war, ging nicht von der BSSR-F�hrung aus, sondern von den Strategen der VKP(b). Das Ausschalten des Gro�grundbesitzes in der Sowjetunion rief keine Notwendigkeit hervor, den Arbeitsproze� und die Arbeitsorganisation zu �ndern. Auch die Umsiedlung in Neud�rfer brachte keine Ver�nderungen in der Arbeit selbst hervor, sondern nur k�rzere Wege zum Arbeitsplatz (den Feldern und Weiden), oft aber l�ngere Wege zum Markt.

Um so unvorbereiteter traf die erste Kollektivierungswelle von 1929/30 die l�ndliche Bev�lkerung. Die Bauern waren zu quasi leibeigenen Lohnarbeitern geworden, ihr Interesse an einer guten Ernte wurde nur durch den Hunger erzeugt, zumal mit dem Teil des Lohnes, der in Geld ausgezahlt wurde, wenig anzufangen war. Da es aber nicht in der Hand dieser Lohnarbeiter ohne Abzugsrecht lag zu bestimmen, wieviel ihnen von ihrer Ernte zugute kam, lie� ihr Interesse an einer ertragreichen Arbeit und Arbeitsorganisation merklich nach.

334Pjatiletnyj plan 1929:9 335Pjatiletnyj plan 1929:9f 336ebd:15

Au�erdem gibt es Hinweise, da� unter einem anderem Etikett die traditionelle Arbeit und Arbeitsorganisation weitergef�hrt wurde. Dieses Beibehalten wurde dadurch, da� Polesien ein Zufuhrgebiet mit zudem wenig entwickelter Geldwirtschaft war, erleichtert. Anders als im Ackerbau, wo mit Traktoren und Dreschmaschinen eine Abh�ngigkeit der Kolchose von den Zentralinstanzen und den MTS erzeugt werden konnte, war in den Bereichen Viehzucht und b�uerliche Nebengewerbe diese technische Abh�ngigkeit nicht zu erzeugen: nur der Zwang zur Aufgabe von Vieh und Boden f�hrte die Bauern in den Kolchos. Dies hei�t aber auch, da� bei Wegfall dieses Zwanges die Bauernfamilien wieder sofort auf traditionelle Weise h�tten wirtschaften k�nnen - innerhalb von 10 Jahren konnte die unbeliebte Wirtschaftsweise des Kolchossystems noch nicht so sehr in Fleisch und Blut �bergegangen sein.

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7. DER ALLGEMEINE POLITISCH-KULTURELLE RAHMEN IN WESTWEISSRUSSLAND 7.1. Die Nationalit�tenfrage in Westpolesien Das Nationalit�tenproblem kann hier nur gestreift, mu� aber behandelt werden, da die soziale mit der nationalen Dimension verbunden ist: Polen war weder ein Nationalstaat noch ein f�derativer Staat geworden; in seinen 1923 vom Botschafterrat anerkannten Grenzen fanden sich Millionen von Angeh�rigen anderer Nationen, anderer Sprachen und anderer Religionen wieder, deren Rechte zwar durch die Verabschiedung des - im Rahmen des Versailler Vertragswerkes eingeforderten - Minderheitenschutzvertrages anerkannt waren, in der Wirklichkeit wurden diese Minderheiten jedoch benachteiligt. Die �stlich der Curzon-Linie gelegenen Wojewodschaften (von Nord nach S�d:) Vilnius, Navahrudak (Novogr�dek), Polesien, Wolhynien, Tarnopil' und Stanislaviv, in denen die Polen nur eine Minderheit stellten, wurden von polnischer Seite kresy wschodnie ("Ostgebiete") oder kurz kresy genannt; die drei erstgenannten Wojewodschaften wurden haupts�chlich von Wei�russen besiedelt und werden daher in dieser Arbeit mit Westwei�ru�land bezeichnet. In Westwei�ru�land entsprachen die ethnischen Bev�lkerungsgruppen der Wei�russen, Juden und Polen nach wie vor st�ndisch gepr�gten sozialen Gruppen; soziale Konflikte blieben als nationale und religi�se deutbar und umgekehrt. Da� in Polesien das Nationalbewu�tsein der ortsans�ssigen Bev�lkerung wenig entwickelt war, wollte die polnische Verwaltung nutzen, und sie wu�te es zu nutzen. Es bestand die Absicht, aus den Poleschuken m�glichst reibungslos Polen zu machen. Dies war auch gerade in der Wojewodschaft Polesien aus polnischer Sicht "n�tig", da hier selbst nach offiziellen Angaben nur 14,5% Polen lebten.1 Um die autochtone Bev�lkerung der Wojewodschaft Polesien, die zun�chst 42.278 km� gro� war und 880.898 Einwohner z�hlte, weder als Ukrainer noch als Wei�russen bezeichnen zu m�ssen, wurde in den beiden Volksz�hlungen von 1921 und 1931 eine zus�tzliche Rubrik tutejszy ("Hiesiger") in den Listen mitaufgef�hrt. Zwar pflegten sich die Bauern in Polesien tats�chlich als tutejsi bzw. als "miejscowy"2 zu bezeichnen (oder sie gaben ihre Religion, das orthodoxe Christentum, als Nationalit�t an3), aber dieser Begriff wurde von polnischer Seite bewu�t verwendet, um die St�rke der Wei�russen und der Ukrainer im polnischen Staat zu bagatellisieren.4

1Z�hlung 1931; siehe unten Tabelle #38 2vgl. Tomaszewski 1963:32 3auch heute nennt sich eine Literatengruppe in Wei�ru�land tutejsi; K�ppers 1989:Sp.7; In Balesy Polis'sja 1(5), April 1989, S.6 f�hrt man die damalige Volksz�hlung als Beweis f�r ein eigenes ethnisches Bewu�tsein der Poluschuken an 4KorusKabacinska 1961:161 u.v.a.m.; auch bei der polnischen Volksz�hlung von 1919 wurde die Kategorie tutejszy verwandt [Har�cki 1928:90]

Bei der Volksz�hlung von 1921 wurden z.B. folgende Daten ermittelt:

Tabelle 36 Religionen in der Wojewodschaft Polesien 1921 ��������������������������������������������������������������ͻ �[Skorowidz 1924: S.X - XI ] �[Niezbrzycki 1930:304 f�hrt 3897 Evangelische auf, wohl weil �er die Baptisten hier subsummiert] � Polesien Stadt Land Polesien Stadt Land �Orthodoxe 697373 48774 648599 79,17 32,46 88,77 �Unierte 93 31 62 0,01 0,02 0,01 �Katholiken 68698 21149 47549 7,80 14,07 6,51 �Evangelische 3804 301 3503 0,43 0,20 0,48 �Mosaisch 110639 79925 30714 12,56 53,19 4,20 �Andere Christen 194 34 157 0,02 0,02 0,02 �Andere 91 46 45 0,01 0,03 0,01 �Summe 880892 150260 730629 100,00 100 100 �unbekannt 6 0 6 ���������������������������������������������������������������

Tabelle 37: Die Verteilung nach Nationalit�ten soll dabei so ausgesehen haben: ���������������������������������������������������������������� � Nationen in der Wojewodschaft Polesien 1921 [Skorowidz Xf:] � � Polesien Stadt Land Polesien Stadt Land � �Polen 214052 46556 167496 24,3 31,0 22,9 � �Wei�russen 375220 25007 350213 42,6 16,6 47,9 � �"Ruthenen" 156142 6325 149817 17,7 4,2 20,5 � �"Hiesige" 38565 2214 36351 4,4 1,5 5,0 � �Deutsche 905 91 814 0,1 0,1 0,1 � �Juden 91251 67522 23729 10,4 44,9 3,2 � �Russen 4303 2407 1896 0,5 1,6 0,3 � �Andere 459 138 321 0,1 0,1 0,0 � �Summe 880897 150260 730637 100,0 100,0 100,0 � �Unbekannt 1 0 1 � ���������������������������������������������������������������� Da� sich 38.565 Einwohner als "Hiesige", "Polesier", "�rtliche" o.�. bezeichnet hatten, ist nicht ungew�hnlich. Aber da� es zwar nur 68.698 Katholiken, aber 214.052 Polen gegeben haben soll, l��t auf Manipulationen schlie�en. Aus dem Index ist auch erkennbar, da� jeweils ganze D�rfer mit orthodoxen Bewohnern als Polen eingetragen worden waren. Laut gewissen Daten von 1924, deren Herkunft nicht n�her erl�utert wird, gab es in der Wojewodschaft 412.506 Wei�russen und 441.702 Poleschuken6 (86614 Polen, 2203 Ukrainer, 125043 Juden, 2451 sonstige). Bei der Volksz�hlung im Jahre 1931 wurde nach der Sprache gefragt:

Tabelle 38: ���������������������������������������������������������������ͻ �[nach Tomaszewski 1963:24] �Volksz�hlung 1931 in % � in %� �Polen 164106 14,50�Wei�russen 75338 6,66� �"Ruthenen"/Ukrainer 54047 4,77�"Hiesige" 707088 62,47� �Juden 112966 9,98�Andere 18394 1,62� � �Summe 1131939 100,00� ���������������������������������������������������������������ͼ

Die Zahl der tutejsi war gegen�ber 1921 auf Kosten der Wei�russen um das 20fache gestiegen; in den Nachbarwojewodschaften Wolhynien und Navahrudak, in denen es auch viele sprachlich und ethnisch unbewu�te oder unentschiedene Menschen gegeben haben d�rfte, wurden keine Einwohner als tutejsi eingetragen. Sollte dieses Ph�nomen, da� sich Menschen Hiesige nennen, an Wojewodschaftgrenzen haltmachen?7 Ein eindeutigeres Kriterium zur Differenzierung der Bev�lkerung stellte die Religionszugeh�rigkeit dar:

Tabelle 39: Religionen in der Wojewodschaft Polesien 1931 ����������������������������������������������������������������ͻ �[Rocznik Ziem Wschodnich 1939:9] �Polesien in % in %� �Orthodoxe 875800 77,37�Mosaisch 114000 10,07� �Unierte 1800 0,16�Andere Christen 9300 0,82� �Katholiken 124900 11,03�Andere 600 0,05� �Evangelische 5500 0,49�Summe 1131900 100 � ����������������������������������������������������������������ͼ Der Ethnologe Obrebski spricht zwar davon, da� die (m�nnliche) polesische Jugend einem starken Druck kultureller und gesellschaftlicher Assimilation ausgesetzt war, welcher noch durch die Erfahrungen im Armeedienst verst�rkt wurde; in der Krisenzeit ab 1929 h�tten aber die alten Sitten wieder um sich gegriffen, sei die Kluft zwischen Polen und Ortsans�ssigen wieder vertieft worden.8 Da es in dieser Arbeit nicht um das Nationalit�tenproblem an sich geht, werden bez�glich der Wojewodschaft Polesien statt der diskussionsw�rdigen Begriffe Wei�russen oder tutejsi neutrale Begriffe wie "�rtliche Bev�lkerung" oder "Orthodoxe" gebraucht.

7.2. Die politische Landschaft in Westwei�ru�land Als zun�chst au�er- und vorparlamentarisches Gremium bildeten Vertreter von nahezu allen wei�russischen Parteien, Verb�nden und Interessensgruppen im Jahre 19199 einen "Wei�russischen Nationalausschu�" [Belaruski Nacyjanalny Kamitet]10, der ab 1922 seine Aufgaben der sejm-Fraktion �bertrug.

Bei den Wahlen zum sejm (444 Sitze) Ende 1922 traten die wei�russischen Organisationen noch gemeinsam miteinander und auch gemeinsam mit den anderen nationalen Minderheiten an. Die gemeinsamen Forderungen der wei�russischen

6Bienkiewicz 1927:35 7vgl. B�rgener 1939:98 8Obrebski 1936a:439-441 9Elski 1931:pl.60f,dt.30, der den Stimmen-Schl�ssel der einzelnen Organisation bringt, meint dagegen, dieses Komitee sei am 23.-25.11.1923 entstanden 10Natio Nr.7/8:100f, zitiert in Engelhardt 1943:193; Bergman 1962:616

Organisationen lauteten: 1. Kostenlose �bergabe des Bodens an die Bauern, 2. Muttersprachlicher Schulunterricht, 3. Territoriale Autonomie.11 In der Wojewodschaft Polesien mit ihren hohen Prozents�tzen an Orthodoxen (79%) und Juden (13%) erhielt diese Liste von 235.165 Stimmen 84.156, also 35,8%12. Allerdings hatten bei �ber 800.000 Einwohnern nur weniger als die H�lfte der Erwachsenen vom Wahlrecht Gebrauch machen k�nnen oder wollen. F�r die polesischen Wahlkreise Brest und Pinsk zogen 4 Vertreter von der PPS, 2 f�r die damals mit einem radikalen Programm auftretende Bauernpartei Wyzwolenie, und 4 f�r den Minderheitenblock in den sejm.13 Die Wei�russen erhielten zusammen rund 10 sejm- und 2 Senatssitze14. Die wei�russischen Vertreter blieben aber im politischen Geschehen der jungen Republik au�en vor. Nachdem sich die Spannungen zwischen Polen und Wei�russen ausgeweitet und die wei�russischen Sejmabgeordneten f�r Wei�ru�land eine kulturelle Autonomie gefordert hatten15, die Premier Grabski ablehnte,16 begannen 1924 Repressionen gegen die wei�russische Minderheit. "Im gleichen Jahr wurden 300 wei�russische Volksschulen geschlossen und 240 Lehrer in das Krakauer Gebiet versetzt".17 Auch die Herausgabe von Zeitungen wurde jetzt beschnitten. Es lassen sich Spekulationen dar�ber anstellen, ob dies schon eine unangemessene Reaktion darauf war, da� die wei�russische Bewegung erstarkt war und sich nach B�ndnispartnern in Litauen und der CSR umsah. Und je autonomer die BSSR im Zuge der belorussizacija wurde, je mehr Nichtkommunisten aus dem Exil in die BSSR gingen, um so wohlgesonnner wurden auch die Wei�russen in Polen diesem Staat18, um so gef�hrlicher und unheimlicher wurde er aber vom polnischen Standpunkt aus.

Die wei�russische Sejmfraktion beschwerte sich meist ergebnislos im sejm �ber Amtsanma�ungen und Gesetzes�bertritte der lokalen und regionalen Verwaltung19. Nachdem es zwischen den wei�russischen Sozialrevolution�ren, Sozialdemokraten und Kommunisten verschiedene Spaltungen, Vereinigungen und Aufl�sungen ge

11Bergmanowa 1968:50 12absolute Werte nach Elski 1931:pl.59f,dt.29 13Ajnenkiel 1989:289+295+299 14Elski 1931:pl.60,dt.30; Horak 1961:172 spricht von 7 sejm-Abgeordneten und drei Senatoren. Engelhardt 1943:197 meint, zusammen mit den wei�russischen Vertretern polnischer Linksparteien habe es 16 wei�russische sejmabgeordnete gegeben 15Horak 1961:173; Vakar 1956:123 16im August 1924; vgl. Dokumenty IV,#227 17Horak 1961:173 18Hlybinny 1959:46 19vgl. Int�rp�ljacyi 1927

geben hatte20, sch�lte sich im Juli 192521 aus der sejm-Fraktion der Wei�russen [Belaruski Pasjol'ski Kljub] die Wei�russische Bauern- und Arbeitergemeinde [Belaruskaja Sjaljanska-Rabotnicka Hramada] heraus. Diese kurz Hramada genannte Organisation unter den sejm-Abgeordneten Taraskevic, Rak-Michajlo�ski, Valosyn und Mjatla war die einzige w�hrend der Zwischenkriegszeit, die einen breiten und auch in Polesien22 nicht nur oberfl�chlichen Kontakt zur Bauernschaft besa�, zu der ja nach wie vor 90% der Wei�russinnen und Wei�russen geh�rten. In k�rzester Zeit schrieben sich 100.000 Mitglieder, zuweilen jeweils die ganze Bev�lkerung eines Dorfes23 in die Hramada ein.24 Das nach dem Putsch vom Mai 1926 von Pilsudskis Anh�ngern gebildete Regierungslager griff im Januar 1927 hart gegen die Hramada durch. Es gab etliche Hausdurchsuchungen und Festnahmen, 56 F�hrer wurden ins Gef�ngnis gebracht und unter Anklage gestellt25, darunter auch die sejm-Abgeordneten, die ja eigentlich Immunit�t genossen. In Kosava (Wojewodschaft Polesien) protestierten am 3.2.1927 3000 Bauern gegen die Verhaftungen, die Polizei er�ffnete auf sie das Feuer.26 Der Hramada-Proze� endete mit empfindlichen Strafen: Am 22.5.1928 wurden die 4 sejm-Abgeordneten "zu je 12 Jahren Zuchthaus wegen Hochverrat in Tateinheit mit Spionage verurteilt"27, es erhielten 39 Personen zusammen 161 Jahre Gef�ngnis28. Die Angeklagten traten z.T. offen f�r eine unabh�ngige wei�russische Republik ein29. Im April 1930 kamen Rak-Michajlo�ski und Taraskevic pers�nlich wieder frei30, im Juni der sp�tere Nationalsozialist F.Akincic31. Die wei�russische Intelligenz des polnischen Staates sollte sich von diesem Schlag nicht mehr erholen, zumal es auch in der BSSR f�r "nationale" Kr�fte schwieriger wurde, Unterst�tzung zu geben; der Preis der Politik Pilsudskis war jedoch der, da� die Wei�russen nicht mehr zur Kooperation mit der polnischen Macht bereit waren, die D�rfer nur autorit�r regiert werden konnten.

20Engelhardt 1943:193 21Elski 1931:pl.62,dt.31; laut Horak 1961:230,Anm.134 im Juli 1926 gegr�ndet; laut Engelhardt 1943:195u am 24.6.1924 gegr�ndet; Bergman 1962:622 spricht vom 24.6.1925; �hnlich Jackson 1966:191; laut Interpeljacyi 1927 trat die Hramada am 3.7.1925 zum ersten Mal als Fraktion auf 22vgl. Bor'ba trudjasciesja I 1962:#288, S.396f 23Bergman 1972:265

24folgende Angaben �ber die Mitgliederzahl existierenen: nach Bor'ba trudjasciesja I 1962:554,#402 betrug sie im April 1926 950, im September 45.000, im November 68.000, am 1.2.1927 117.000; im Januar 1927 soll sie "mehrere 10000" [Elski 1931:dt.31,pl.63], "ann�hernd 100.000 [Engelhardt 1943:196] betragen haben 25Horak 1961:172; Engelhardt 1943:196 26Kosman 1979:330f 27Engelhardt 1943:197 28Horak1961:172; laut Engelhardt 1943:197 erhielten 37 Leute insgesamt 212 Jahre 29Horak 1961:172 30Naperad!, 7.5.30, S.1 31Naperad!, 19.6.30,Nr.21, S.1; wie stark die Kommunisten in der Hramada vertreten waren, kann nur eine genaue intensive Forschung in Archiven ergeben

Die polnische Exekutive griff aber - auch vor dem Mai 1926 - nicht nur gegen�ber Linksintellektuellen zu dem Mittel strenger Repression, sondern auch gegen�ber den Bauern (siehe auch unten) und dem orthodoxen Klerus. "Zu Beginn des Jahres besuchte der Abgeordnete Taraskevic Polesien: er konnte kein Dorf finden, wo es wenigstens einen Mann gab, der den unbarmherzigen polnischen Schl�gen entkommen war... die polnische Polizei bleibt nicht bei Schl�gen mit Gewehrkolben, Schlagringen oder der Faust stehen... Sie hat ein System ausgereifter Tortur entwickelt".32 Die Bev�lkerung zog es manchmal vor, in die W�lder zu fliehen.33 In der polnischen Presse dagegen h�rte sich das z.B. so an: "Im Dorf Surewicze, powiat Slonim wurde am 1.8. eine kommunistische Zelle aufgedeckt. Alle Anwesenden wurden hinter Schlo� und Riegel gebracht"34 - inwieweit es sich wirklich um Kommunisten handelte, ist nicht in Erfahrung zu bringen. Insbesondere die gehobenen Kreise in Vilnius wurden aber zun�chst noch in Ruhe gelassen.35 So wurden also solche Personen sanfter angefa�t, die eine Gegen�ffentlichkeit h�tten schaffen k�nnen.

Schlie�lich klagten die wei�russischen Organisationen ohne Erfolg - beim V�lkerbund die Minderheitenrechte ein36. Bei den Wahlen zu sejm und Senat von 1928 gewann der Regierungsblock BBWR 5 von 10 Abgeordnetensitzen in Polesien.37

Die Zersplitterung der wei�russisch-nationalen Kr�fte war nach der Zerschlagung der Hramada noch weiter gegangen. Einige Str�mungen seien vorgestellt: - Eine gr��ere Str�mung neben der Hramada blieb die Belaruskaja Chryscijanskaja Demakratyja (BChD)38 mit dem katholischen Pfarrer Adam Stankevic39 an ihrer Spitze. - Unabh�ngig von der Hramada wirkte auch der Sjaljanski Sajuz um F.Jaremic und B.Rahula (auch: Rahulja), der f�r eine radikale Agrarreform, aber gegen die BSSR auftrat.40 - �hnliches gilt f�r die teilweise aus Hramada-Mitgliedern hervorgegangene Gruppe um die Zeitschrift "Naperad!" unter Luckevic41, die - dem eigenwilligen Abgeordneten Jan Stankevic Vertretung der Kulakeninteressen vorwarf.

32Horak 1961:174; vgl. Vakar 1956:123 33Horak 1961:174 34Polesie 12.8.28, S.16; �hnlich Ziemia Pinska 26.1.1928 N�2,S.5 35Vakar 1956:128 36Die wei�russische V�lkerbundklage; in : Nation und Staat 3(1929/30):406-410; wieder abgedruckt in: Za dzjarda�nuju nezaleznasc' 1960:S.71 37ansonsten: PPS 1, Sel-Rob 1, Russische Liste 1, Ukrainische sozialistische Bauern- und Arbeitervereinigung 2; Ajnenkiel 1989:289,296,300f 38Tomaszewski 1985b:88; Engelhardt 1943:195 39Kipel 1988:352 40Bergman 1972:82 41Bor'ba trudjasciesja II 1972: #42, S.86

- Als eine Nachfolgeorganisation der Hramada verstand sich das von Kommunisten unterwanderte oder gegr�ndete "Zmahanne za intar�sy sjaljan i rabocych" ab 192842, w�hrend - die innerlich gespaltene43 KPZB selbst illegal operieren mu�te. - Auch der undurchsichtige F.Akincic und seine Partyja Belaruskich Nacyonal-Socyalista�,44 beriefen sich auf ihre fr�here Zugeh�rigkeit zur Hramada.

Angesichts dieser auch von Moskau nicht ungern gesehenen Zersplitterung45 fiel es Pilsudski und seinen Nachfolgern leicht, mit "unmodernen" und autorit�ren Mitteln in Westwei�ru�land zu herrschen. In den 1930, 1935 und 1938 gebildeten Parlamenten erlangte ein bzw. gar kein Wei�russe einen Sitz46, womit die 1.000.000 bis 2.000.000 Angeh�rigen dieser Nation ohne parlamentarische Vertretung blieben. In der wei�russisch-nationalen wie auch der kommunistischen Literatur wird dieser autorit�re ("gro�polnische", "faschistische") Regierungsstil daf�r verantwortlich gemacht, da� die polesischen und wei�russischen Bauern keine soziale und nationale Bewegung bilden konnten.

Aber inwieweit spielte das alles �berhaupt f�r die polesischen Bauern eine Rolle? Nahmen sie an den politischen Querelen denn teil oder nahmen sie wenigstens von ihnen Notiz? Ihre politischen Orientierungen waren schon f�r die Zeitgenossen nicht einfach zu ergr�nden, eine polnische Quelle spricht undeutlich von monarchistischen und bolschewistischen Kr�ften47. In Polesien waren die wei�russischen Organisationen stets bedeutend schw�cher vertreten als in den Wojewodschaften Vilnius und Navahrudak. Dies lag zumindest zum Teil daran, da� hier keine wei�russische Identit�t bestand. In den Kreisen Brest, Kobryn und Drahicyn hatte sogar eher die ukrainische Sel'Rob einen Einflu�, das Zmahan'ne verzichtete hier z.B. zugunsten dieser Partei 1928 auf eine eigene Kandidatur48.

�berhaupt waren ja nicht nur, wie oft betont wird, die unter Monarchien entstandenen politischen Parteien selbst noch nicht mit den Sitten der parlamentarischen Demokratie vertraut; auch die Bauern hatten sich noch nicht darauf eingestellt, was dieser neue Staat bedeutete und wie sie in der sich modernisierenden Gesellschaft ihre Interessen vertreten k�nnten. Das Verh�ltnis

42hierzu siehe Polujan 1978:58-103 43vgl. Ladyse� 1985,5:68-75, hier S.69; Polujan 1978:61+67 44Naperad! 21 (19.6.30); Engelhardt 1943:197 45Kipel 1985:67 spricht sogar von einer indirekten sowjetischen Hilfe f�r Polen 46Engelhardt 1943:197, Horak 1961:106f 47Ossendowski 178f 48Polujan 1978:66

zu politischen Parteien - auch zu Bauernparteien - dr�ckte sich z.B. in einer niedrigen Wahlbeteiligung aus. Da� es Bauernparteien aber gelingen konnte, ihre Klientel zu "B�rgern der Gesellschaft", zu "Teilen der �ffentlichkeit" zu machen, daf�r legt die hohe Mitgliederzahl der Hramada Zeugnis ab. Hramada und Sel'Rob wurden von den Poleschuken unterst�tzt, und zwar - nach Obrebski49 - eher aus sozialen als nationalen Motiven. Die Verbindung zwischen Bauern und Intelligencija war um so leichter zu schaffen, als viele von den letztgenannten aus b�uerlichen Familien stammten. Aber eine dauerhafte Verbindung gelang in der Praxis nicht, und die polnischen Regierungen wu�ten gut, da� es gerade auf die Verhinderung dieser Verbindungen ankam.

Die polesischen Bauern gingen, dies stellt Obrebski heraus, noch immer von einer vormodernen Vorstellung aus, nach der das Verh�ltnis zum Staat sich m�glichst auf einige Notwendigkeiten zu beschr�nken habe: Die Bauernschaft zahlt Steuern und stellt Soldaten - der Staat sorgt im Gegenzug f�r gewisse Sicherheiten, wobei den Bauern begreiflicherweise gerade beim polnischen Staat oft nicht klar war, ob er diesen Aufgaben gerecht werden k�nne.

Die Poleschuken untersch�tzten ihre politischen M�glichkeiten, im Grunde betraten sie die politische B�hne gar nicht. Sie verharrten in der Rolle der Betroffenen. Dennoch ist es schwer, diese These stichhaltig zu untermauern: zwar gibt es verschiedene Anhaltspunkte wie das Analphabetentum, die von anderen beobachtete Ehrfurcht und sogar Unterw�rfigkeit der Poleschuken, die geringe Wahlbeteiligung, das Akzeptieren polnischer Gemeindevorsteher und anderes. Andererseits aber f�hrten Bauern in Polesien bis etwa 1924 noch aussichtslose Partisanenk�mpfe50, eine Situation, wie wir sie von der BSSR schon kennen. Gleichwohl gab es auch solche Poleschuken, die in polnische Dienste traten.

7.3. Die kulturelle Infrastruktur: Kirche, Schule und Presse Die orthodoxe Kirche wurde noch weniger als die politischen Parteien zum Anwalt der b�uerlichen Interessen. Ohne rechten R�ckhalt aus Moskau, wollte oder vermochte es der orthodoxe Klerus nicht, kirchliche und sozialpolitische Ziele zu verkn�pfen. Die polnischen Regierungen und der Vatikan forcierten eine Trennung der orthodoxen Kirche vom Moskauer Patriarchat, und am 17.9.1925 wurde die Autokephalie erkl�rt, was den Bauern offensichtlich gleichg�ltig blieb51. Ein Gesetz [statut] von 1922 hatte schon eine H�chstgrenze an Landbesitz [holdings]

49Obrebski 1936a:442 50Bor'ba trudjasciesja I 1962:#216 u.v.a.m. 51Horak 1961:175

f�r orthodoxe Priester festgelegt52. W�hrend zun�chst die katholische Kirche in der Verfassung wie in der Wirklichkeit bevorzugt wurde, wurden ab 1935 regelrechte Feldz�ge gegen die Orthodoxie und gegen die - in Polesien allerdings unbedeutende unierte Kirche unternommen, bei denen 140 Kirchen zerst�rt wurden53. Es durfte nur noch in polnischer Sprache gepredigt werden.54

Genauso wie die Sowjetunion hatte auch Polen den Kampf gegen den Analphabetismus auf seine Fahnen geschrieben, und auch hier gab es gewisse Erfolge: W�hrend in der Wojewodschaft Polesien 1921 noch 60,6% der M�nner und 80,6% der Frauen weder lesen noch schreiben konnten, waren dies im Jahr 1931 nur noch 31,1% bzw 64,2% 55. Aber auf polnischem Gebiet sollten wei�russische Schulen keine dauerhafe Lebenschance haben. Schon im August 1921 protestierte der Chef des CIK der BSSR, Carvjaka�, bei Polens Au�enminister Skirmunt gegen die Nichterrichtung wei�russischer Schulen56. Diejenigen wei�russischen Schulen, die anfangs noch existierten, wurden aufgrund eines Gesetzes vom 31.7.192457 nach und nach in zweisprachige Schulen umgewandelt. Wer wei�russischen Unterricht f�r seine Kinder wollte, mu�te beim Notar eine Unterschrift hinterlegen58. Beh�rden verschleppten Antr�ge. Genehmigungen zur Indienstnahme wei�russischer Privatschulen wurden aus hygienischen Gr�nden nicht erteilt. Wei�russenische Lehrer wurden versetzt. Lehrerinnen und Lehrer, die heimlich wei�russenisch unterrichteten, wurden mit Geld und kleinen Arreststrafen belegt59, sie hatten Angst60.

1926 gab es schon in der Wojewodschaft Polesien gegen�ber 792 polnischen Schulen keine einzige wei�russische und nur eine ukrainische Schule.61 Im Schuljahr 1936/37 gab es in ganz Polen noch 8 allgemeinbildende wei�russische Schulen, 1937/38 �berhaupt keine mehr.62 Die Zahl wei�russischer Gymnasien schwankte zwischen 4 und null63. Um diesen Zust�nden abzuhelfen, versuchte die wei�russische Nationalbewegung, selbst ein Schulsystem auf die Beine zu stellen. Am 1.7.1921 hatte sich eine

52Horak 1961:174 53vgl Horak 1961:175; Ostland-Berichte, Reihe A, Nr.5/6, 1938:222-228 54Horak 1961:175 55RZW 1938:9 56Dokumenty IV #37,S.52f 57Engelhardt 1943:203; Gesetz zitiert in Za dzjarza�nuju 1960:74 und in Engelhardt 1943:357/58 58Engelhardt 1943:204u 59Engelhardt 1943:205f; vgl. Int�rp�ljacyi 1927:202 (10.2.1925) und andere 60Hepke 1934:16 61Bor'ba trudjasciesja I 1962:#57,S.97 = Rocznik Statystycny 5(1927):408 62Maly rocznik statystyczny 10(1939):319; vgl. Tomaszewski 1963:148f 63Za dzjarza�nuju 1960:74; Rhode 1941:77; Rappaport 1927:248 behauptet f�lschlicherweise, es habe �berhaupt kein wei�russisches Gymnasium gegeben

"Belaruskaja Skolnaja Rada", am 7.12.1921 das "Tovaryscestva Belaruskaj Skoly" (TBS) gegr�ndet; die beiden Organisationen vereinigten sich bald unter dem Namen der letzteren Organisation64. Bis 1926 trat die Organisation sehr gem��igt auf. Nach Neuwahlen von Vorstand und Kontrollrat am 8.9.1926 kam die Organisation unter die Leitung der Hramada-F�hrer Rak-Michajlouskij und Taraskevic.65 Interessanterweise existierte die Organisation eher auf dem Land als in der Stadt66. In den Jahren 1927 bis 1929 schwankte die Mitgliederzahl zwischen 10.000 und 20.000; sie waren in 350 bis 450 "Kreisen" organisiert.67

In ganz Polen zeigte das Schulsystem wenig Wirkung, aber in Polesien blieb die Analphabetenrate aus verschiedenen Gr�nden besonders stark. Erstens war - wie in Ostpolesien - bei der d�nnen Siedlungsdichte der durchschnittliche Schulweg f�r die Kinder viel l�nger als anderswo68. Zweitens waren manche Siedlungen ja in bestimmten Jahreszeiten von der Au�enwelt abgeschlossen, oder zumindest nicht f�r alle passierbar. Drittens war es f�r die Sch�ler ein Hindernis, da� der Unterricht auf polnisch gehalten wurde. Dieser dritte Punkt ist allerdings schwer zu bewerten. Zum einen war das Polnische f�r die Poleschuken - als Sprache der Herren - bekannt und einigerma�en zu verstehen; zudem gab es Eltern, die f�r ihre Kinder ausdr�cklich polnische Schulen forderten, da man mit polnisch eben im polnischen Staat und in der polnischen Gesellschaft weiter kam als mit wei�russisch oder ukrainisch.69 Der Wunsch, den Horizont der b�uerlichen Gesellschaft zu �berschreiten, war f�r nicht wenige das Motiv, eine Schule zu besuchen.70 Viele Eltern aber arbeiteten mit den Schulbeh�rden nicht zusammen71, sie hielten ihre Kinder zu Hause. 1937 gingen von den 236.000 Kindern im schulpflichtigen Alter nur 183.000 wirklich zur Schule72 (77,5%).

Auch das wei�russische Pressewesen konnte sich nicht entfalten. Da die verschiedenen Parteien versuchten, �ber eine eigene Presse die Bauern zu erreichen, wurden die betreffenden Organe oft verboten. Gr�nde zur Beschlagnahme von einzelnen Ausgaben oder zum Verbot ganzer Titel gab es immer wieder, war es doch verboten, von der Abtrennung der wei�russischen Gebiete von Polen zu sprechen. Neben der sowieso illegalen KPZB-Presse73 mu�ten alle kompromi�loseren Organisationen mit Beschlagnahmungen rechnen; die Titel der Zeitungen der

64Polujan 1978:103 65Polujan 1978:104 66Polujan 1978:106 67Polujan 1978:107 68Boyd 1936:390 69vgl. Tomaszewski 1963:63; Engelhardt 1943:207 70vgl. die Autobiographie eines polesischen Bauern bei Obrebski 1977:78-91 71Boyd 1936:390 72Dega 1986:12 73vgl. Kabjak 1978:84-93

Hramada �nderten sich im Lauf von 3 Jahren 11 mal.74 Die christdemokratische Zeitung Krynica wurde mehrmals konfisziert, zuerst im Juni 1924.75

7.4. Die soziale Entwicklung in Westpolesien Die �stlichen Wojewodschaften blieben als ehemals zaristische in Polen unterentwickelt, besonders gegen�ber den ehemals preu�ischen Gebieten. Da sich die Kluft zwischen den Regionen eher vertiefte als verringerte, f�hrte schlie�lich der damalige Vizepremier E.Kwiatkowski am 28.2.1936 die Begriffe "Polska A" und "Polska B" ein, die sofort in den Sprachgebrauch eingingen.76 Einen Urbanisierungsproze� hat es in der Wojewodschaft Polesien in der Zwischenkriegszeit nicht gegeben. Aus den Daten der Volksz�hlungen l��t sich errechnen, da� 1931 gegen�ber 1921 die Bev�lkerung insgesamt zwar um 51,1%, in den St�dten �ber 2000 Einwohnern aber nur um 8,9% zugenommen hatte77. Diese Nicht-Entwicklung verlief nicht in allen Regionen von Westpolesien gleichm��ig: in den �stlichen Kreisen, also den Randgebieten, gingen die Einwohnerzahlen mancher St�dte zur�ck, dagegen z�hlte im Westen 1931 allein die Stadt Brest 50.706 Einwohner, w�hrend sie 1921 noch zusammen mit 2 anderen St�dten des Kreises Brest nur 34.001 Einwohner hatte. In anderen gr��eren St�dten wie Pinsk, Pruzany, Bjaroza Kartuska hatte sich die Bev�lkerungszahl �berall um mindestens 20% erh�ht Dem geringen Urbanisierungsgrad entsprechend gaben bei der Volksz�hlung 1921 81,9% der Befragten an, von Landwirtschaft und Gartenbau zu leben - und 1931 waren es immer noch 81,3%78. In dieser Zeit war gleichwohl die Bev�lkerung um 51,1% gestiegen.

Die polesische Wirtschaft blieb im wesentlichen eine b�uerliche Wirtschaft, die soziale Welt blieb in eine l�ndliche und eine st�dtische getrennt. Am 31.12.1926 gab es in Polesien kein einziges Unternehmen mit mehr als 500 Besch�ftigten79 und nur 2000-3000 Arbeiter waren in Unternehmen mit �ber 20 Besch�ftigten t�tig. Dies blieb auch in den 30er Jahren so. Die Arbeiterschaft setzte sich vor allem aus Holzarbeitern (2646 Arbeitende) und M�hlenarbeitern (485 Arbeitende) zusammen.80

74Bergman 1962:Anm.87,97,99,101 75Int�rp�ljacyi 1927:89,144-147,159-161 bringt die zensierten Artikel 76Grodzicki 1937:20-22 77vgl. Tabelle #77 im Anhang, wo f�r 1921 noch der Wert vom Kreis Sarny abgezogen werden mu�, da dieser sp�ter ausgemeindet wurde 78RZW 1938:9 79Im einzelnen siehe Bor'ba trudjasciesja I 1962:#56,S.96 80Rzepecki 1937:23-40

In Westpolesien blieb mit der nationalen und wirtschaftlichen auch die gesellschaftliche Struktur erhalten. Weiterhin standen sich polnische Grundherren, zu denen sich nun auch aus Polen kommende polnische Verwaltungsangestellte, Lehrer, Rechtsanw�lte, Eisenbahner, Handwerker, Unternehmer, H�ndler, Techniker und �rzte81 gesellten, j�dische H�ndler und Handwerker und die �berw�ltigende Mehrheit der ostslavischorthodoxen Bauernschaft gegen�ber. Die zaristischen, meist gro�russischen Beamten, Lehrer usw. waren durch polnische ersetzt worden, was nicht ohne Auswirkungen auf das Verh�ltnis der Einheimischen zu den Polen und dem Polentum bleiben sollte. Die Juden waren die am st�rksten differenzierte Bev�lkerungsgruppe82, unter ihnen gab es Vertreter aller Schichten - von Reichen �ber Arbeiter im Kran-kenwesen83 bis zu Tagel�hnern. Die vormodernen nationalen und standesgem��en Berufs- und Mobilit�tsschranken konnten nur geringf�gig aufgehoben werden. Von den 168.975 Hofstellen des Jahres 1931 waren nur 967 oder 0,6% j�disch84. Beim Handwerk liegen Zahlen nur f�r 1929 vor: hier standen 4332 j�dische Handwerker 1013 nichtj�dischen gegen�ber.85

7.5. Die �ffentliche Hand in Westpolesien Angesichts dieser Struktur verwundert es nicht, da� die Bev�lkerung sich nicht mittels der schlecht ausgestatteten Organe der �rtlichen Selbstverwaltung gegen die von der Zentrale in Warschau bestimmten Verwaltung durchsetzen konnte. Der wiedererstandene polnische Staat besa� eine administrative Einteilung in 15 Wojewodschaften; diese waren in einzelne Kreise [powiat], die Kreise wiederum in Gemeinden [gmina] unterteilt; eine Gemeinde umfa�te dann in l�ndlichen Gebieten einige D�rfer. Grunds�tzlich wurde die politische Szene Polesiens von den polnischen und dem Polentum wohlgesonnenen Kr�ften beherrscht. In Pinsk wurden stets Industrielle, Gutsherren oder Milit�rs B�rgermeister86. Auf Kreis und Gemeindeebene wurden polnische Verwaltungsangestellte eingesetzt, allenfalls die unterste Ebene der Dorfvorsteher wurde von unten nach oben bestimmt87. Jaremic meint sogar: "Nicht einmal die Dorfvorsteher sind von der Bev�lkerung gew�hlt; sie werden alle ernannt".88 Wenn doch einmal ein Wei�russe gew�hlt wurde, wie z.B. 1926 im Kreis Pruzany vorgekommen, dann wurde er "umgedreht" und von der Obrigkeit kooptiert89.

81Bienkiewicz 1927:33+49; Mondalski 1927:230 82Tomaszewski 1963:46 83Rocznik Statystyki 7(1929):461f 84Bierzanel 1939:68 85Bierzanel 1939:70 86Netylkin 1961:39 87Korus-Kabacinska 1961:182 88Jeremicz 1927:22 89Sjaljanskaja Niva 5.5.1928:4

Die sejmiki, die eine regionale Selbstverwaltung und eine gr��ere Beachtung der regionalen landwirtschaftlichen Probleme h�tten erwirken k�nnen, nahmen von 1924/25 an ihre Arbeit auf90, und hatten weder Geld noch eine Organisationsstruktur. "Die Arbeit an der Entwicklung der Landwirtschaft begann tats�chlich erst im Jahr 1925" dank der Initiative Einzelner. Das Geld beschafften sie sich dann durch zus�tzliche Steuern, wodurch ein weiterer als fremd empfundener polnischer Verwaltungsk�rper finanziert wurde.91 Gerichtsstellen gab es nur in Brest und Pinsk92; das f�r Polesien zust�ndige Eichamt befand sich in Warschau.93

7.6. Die Grenze Wie durchl�ssig war eigentlich die Grenze zur UdSSR? Welche Rolle spielte sie? Von einem Dorf in Grenzn�he wird berichtet: "Das Dorf steht auf der Seite der Bolschewisten. [...] Es gibt viele, die freiwillig zur russischen Armee gehen und gegen Polen auftreten. Die Bewohner von Cudzin engagieren sich jedoch nicht in dieser Kampagne in dem Ma�e, wie das in den n�her oder weiter gelegenen anderen D�rfern geschah"; dort hatten bewaffnete Bauern kleine Abteilungen der polnischen Armee in Schwierigkeiten gebracht und nicht nur einmal das Stetl Hancewicy mit bewaffneter Hand eingenommen.94 Die polnische Presse schrieb, da� niemand wu�te, ob seine "bescheidene Habe bis zum n�chsten Tag erhalten bleibt": "Raub, Mord und Brandstiftung waren an der Tagesordnung".95 Solche Aktionen kamen nur in den fr�hen 20er Jahren vor, als die BSSR noch beliebter, die Grenze noch nicht endg�ltig international anerkannt und vor allem der polnische Staat noch nicht gefestigt war. Ger�chten zufolge sollen manche ihre kleinen Parzellen aufgegeben und in die BSSR emigriert sein, andere, besonders Jugendliche, f�r einen k�rzeren oder l�ngeren Aufenthalt dorthin gewandert sein.96 Aber auch auf der anderen Seite der Grenze war es keineswegs ruhiger, wie die Aufst�nde von Sluck 1920 und 1924 gezeigt hatten. Um die 1412 km lange gemeinsame Grenze mit der UdSSR besser unter Kontrolle zu bekommen, wurde in Polen am 17.10.1924 eigens der Grenzschutz KOP [Korpus Ochrony Pogranicza] in den Dienst genommen97, der f�r einen Grenzstreifen von 25 km Breite zust�ndig war. Dieser Grenzschutz hatte �brigens auch die Nebenaufgabe aufgetragen bekommen, auf die wei�russische und ukrainische Bev�lkerung durch landwirtschaftliche Aufkl�rung, katholische Missionierung

90Bienkiewicz 1927:39 91vgl. Za dzjarza�nuju 1960:72 92RZW 1938:258 93RZW 1938:261 94Tomaszewski 1963:137 95RZW 1935:278 96Tomaszewski 1963: 138 97Ostland-Berichte 1938,1:23ff, hier S.23

und Filmvorf�hrungen bis hin zu Flugzeugausstellungen "zivilisierend" einzuwirken98. Sowohl auf sowjetischer als auch auf polnischer Seite wurden h�lzerne Wachtt�rme errichtet, auf polnischer Seite alle 5 bis 6 km.99 Laut den "Ostland-Berichten" sollte in Polen mit den Wachen "gegen das Eindringen verschieden-artigster Elemente aus dem Osten, in Sowjetru�land gegen die eigenen fl�chtenden Bauern" vorgegangen werden100 - es ging um "Abwehr des Schmuggels und der Spionage".101 * Die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen trafen in Westpolesien auf ein eigentlich schon aus der Zarenzeit bekanntes politisches Spannungsfeld: auf der einen Seite ein Staat, dem seine Raison wichtiger war als seine Modernisierung und die Mitwirkung seiner B�rger, auf der anderen Seite eine Intelligenzschicht aus Radikalen und oppositionellen Geistlichen, die nur zeitweise zur Aktion f�hig war. Die Bauernschaft, die die �berw�ltigende Mehrheit ausmachte, und neben der es eine gesellschaftlich nicht integrierte kleinst�dtische, vorwiegend j�dische Handwerks- und H�ndlerschicht gab, interessierte sich weniger f�r die gro�en sozialen und nationalen Projekte und war f�r solche Ziele nur schwer mobilisierbar. Doch wenn es um ihre eigenen Interessen ging, sah das anders aus. Wie verhielten sie sich zum und im sie unmittelbar betreffenden Bereich der b�uerlichen Wirtschaft?

98Ostland-Berichte 1938,1:25 99ebd. 23 100ebd. 101ebd. 24

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8. DIE B�UERLICHE WIRTSCHAFT IN WESTPOLESIEN

8.1. Agrarpolitik und Agrarverfassung 8.1.1. Die Agrarreform Die Auseinandersetzungen um das Gesetz Im jungen Staat Polen gab es keinen radikalen Einschnitt in die Agrarverfassung wie in der BSSR. Nachdem der sejm am 10.Juli 1919 mit nur einer Stimme Mehrheit1 einen Grundsatzbeschlu� �ber die Agrarreform gefa�t hatte2, beschlo� er am 15.Juli 1920 unter dem Eindruck der erfolgreich in Richtung Warschau marschierenden Roten Armee hastig ein Gesetz zur Bodenreform. Danach sollten die Gro�grundbesitzer grunds�tzlich allen Besitz �ber 180 Hektar gegen eine angemessene Entsch�digung abtreten; falls jedoch wie in Polesien die Bodenfl�chen zu einem erheblichen Teil aus Wald best�nden, so war die Grenze auf 400 ha festzulegen.3 Was wurde als angemessene Entsch�digung betrachtet? Nach Ludwig wurden durchschnittlich nur ein Drittel des tats�chlichen Wertes als Entsch�digungsbetrag angesetzt.4 Die mit dem Projekt der Bodenreform befa�ten Stellen teilten die B�den in den Regionen Polens in 5 Wertstufen auf, wobei die B�den in Stufe I mit 300 Zl/ha, diejenigen in Stufe V mit 120 Zl/ha taxiert wurden.5 Stufe V war ausschlie�lich f�r die Wojewodschaft Polesien vorbehalten, mit Ausnahme des Kreises Brest (Stufe IV mit dem Wert 170 Zl/ha). Dadurch wurde der Boden in Polesien der billigste in ganz Polen. Die Entsch�digungsfrage wurde aber angesichts der Tatsache weniger bedeutend, da� nach dem "Wunder an der Weichsel" (16.8.20) und der Stabilisierung des polnischen Staates keine gro�z�gige Landaufteilung durchgef�hrt wurde. Vielmehr gab noch am Tag der Unterzeichnung des Waffenstillstands, am 12.10.1920, der Gebietsvorsteher [starosta] des Bezirks Hrodna (Grodno) in einer Verordnung bekannt, da� binnen 10 Tagen "alles fremde Eigentum [...] sowohl das von den Bolschewisten erhaltene, als auch das eigenm�chtig in Besitz gebrachte [...] den rechtm��igen Besitzern" zur�ckzugeben sei.6. Im Rahmen des Abkommens von Landskron verst�ndigten sich im Jahr 1923 das PSL Piast und die Nationaldemokratie auf eine Jahresquote von 200.000 zu parzellierenden Hektar f�r Polen. Aber selbst diese bescheidene Quote wurde

1Ludwig 1934:16 2Korus-Kabacinska 1961:171 3Korus-Kabacinska 1961:171; Ludwig 1934:17 4Ludwig 1934:23 5Ludkiewicz 1923:44 6Bor'ba trudjasciesja I 1962:#2, S.27; �bersetzung aus dem Polnischen �ber das Russische

sp�ter nicht erreicht.7 Wie in der ganzen Republik wurde auch in der Wojewodschaft Polesien die Agrarreform sehr zaghaft in die Tat umgesetzt. Am 28.12.1925 wurde noch einmal ein Reformgesetz beschlossen. Anders als im ersten Gesetz wurde nun die theoretische Obergrenze des nach einer Enteignung zu belassenden Bodens auf 300 ha herabgesetzt - allerdings wurden Wald- und Wassergebiete in diesen Rechnungen ausgeklammert8. Von 1919 bis 1933 waren in der Wojewodschaft 184.629,7 ha Land aufgeteilt und 26.700 H�fe geschaffen worden9. Dies ist angesichts von 118.880 insgesamt bestehenden Hofstellen im Jahre 1921 eine geringe Menge. Da die Einwohner- und Hofstellenzahl sehr rasch wuchs [s.u.], konnten die bescheidenen Reformma�-nahmen nicht einmal die Verkleinerung der Hofgr��en aufhalten.

In den einzelnen Jahren wurden den Kleinbesitzern folgende Fl�chen ver�u�ert:

Tabelle 40 Parzellierungen in der Wojewodschaft Polesien nach Jahren ����������������������������������������������������������ͻ [Bor'ba trudjasciesja I 1962:#76,S.125; Rocznik Statystyczny 1930:39] Jahr durch Boden�mter in % anderweitig in % 1921 1276 2 2640 4 1922 13309 19 5522 8 1923 12137 17 6936 10 1924 5333 8 3491 5 1925 9427 14 6539 9 1926 5193 7 4053 6 1927 9280 13 13069 19 1928 6987 10 16372 23 1929 6761 10 11829 17 1921-1929 69703 100 70451 100 [Laeuen 1934:18-21 nennt jedoch:] 1921-1933 65635 117313 [Maly Rocznik Statystycny 1939, S.70 :] 1938 10500 ha ungeachtet der Art ����������������������������������������������������������ͼ Es ergeben sich zwar widerspr�chliche Werte, eindeutig ist jedoch, da� nur unbedeutende Fl�chen aufgeteilt wurden. Wer aber den aufgeteilten Boden wirklich kaufte, ist schwer zu ermitteln, da die Statistiken nicht nach Nationalit�ten aufschl�sseln. Korus-Kabacinska10 behaup-tet, die Polen h�tten mehr Geld geboten als die Ortsans�ssigen. So sehr diese Vermutung angesichts der geringen Einbindung der ortsans�ssigen Bev�lkerung in die Geldwirtschaft auch einleuchtet, einen Beleg bringt sie nicht. Zugeteilt wurden den Antragstellern nach dem Gesetz bis zu 15 ha, in den Ostgebieten bis 45 ha.11

7Laeuen 1934:18 8Hoensch 1983:261; Korus-Kabacinska 1961:171 9Laeuen 1934:20 10Korus-Kabacinska 1961:172 11Ludwig 1934:23

Das den Grundherren abgekaufte Land bestand nur zum Teil aus Ackerland (sie besa�en vorwiegend Wald, s.u.), oft wechselten gerade die schlechtesten B�den die Besitzer12. Meist waren die Gro�grundbesitzer selbst mehr an einer "g�tigen" Regelung bei der Ver�u�erung von Land interessiert als die Beh�rden13. Die �bertragung des Bodens ging - gerade in den Ostgebieten - nicht nur durch beh�rdliche Vermittlung vonstatten.14 Selbst dann, wenn die Beh�rden eine tiefgreifende Umverteilung forciert h�tten, w�re sie durch die verfassungsm��ig garantierte Unverletzlichkeit des Eigentums und aufgrund anderer h�chstrichterlicher Entscheidungen nicht durchf�hrbar gewesen15. Parzellierung war, wenn der Adel Geld brauchte; das hatte sich seit der Zarenzeit nicht ge�ndert.

Da� allerdings die Agrarfrage ohne eine schnell greifende Bodenreform schlecht zu l�sen war, sahen sehr wohl auch polnische Politiker ein. 1924 �u�erte Premier Grabski weitreichende Vorstellungen zur Bodenreform in den Ostgebieten, vielleicht unter dem Eindruck anhaltender Partisanent�tigkeit. Er sah eine 100-km-Zone an der Grenze vor, in der den Gro�grundbesitzern der Boden enteignet werden sollte - die Entsch�digung sollte der Staat regeln, der Boden aber den Bauern �bergeben werden.16 Wincenty Witos, Chef der gr��ten Bauernpartei, des gem��igten PSL "Piast" und ebenfalls zeitweise Premier, hatte auf eine bescheidene Agrarreform gedr�ngt, konnte aber w�hrend der Koalition aus Piast und Endecja kein Reformgesetz durchbringen.17 Zudem hatte Witos bei der Reform seine haupts�chlich im S�den Polens beheimatete Klientel im Auge. Die Diskussion um die Agrarreform wurde unter Polen oft so gef�hrt, als seien die kresy nur nebenbei zum Staate geh�rig. Dort war die soziale und politische Macht der Gro�grundbesitzer ungebrochen. Polnische Reformer hatten es schwer, Geh�r zu finden. Sie beklagten, da� "das Gesetz �ber die Parzellierung [...] die private Parzellierung erschwert"18, die "gro�e Fortschritte h�tte bringen k�nnen". Was aber genau unter Fortschritt verstanden wurde, und welche Motive solche Autoren hatten, wird nicht ganz deutlich. Sicher ist, da� sie nicht im Sinn hatten, den Boden unter Marktwert oder gratis umzuverteilen. Bienkiewicz meinte immerhin: "Es unterliegt nicht dem geringsten Zweifel, da� die �rtlich verwurzelte Bev�lkerung das Recht auf Bevorzugung bei der Versorgung mit Boden haben mu�, und das mu� bei der Bodenreform ber�cksichtigt werden".19

12Korus-Kabacinska 1961:172 13Ludwig 1934:20 14Laeuen 1934:18-21; siehe obige Tabelle #40 15Ludwig 1934:25 16Tomaszewski 1963: 156f 17Roos �1961:107f 18Bienkiewicz 1927:48r 19Bienkiewicz 1927:49

Die wei�russischen politischen Str�mungen propagierten allesamt ein radikaleres Programm zur Agrarreform. Selbst die Christdemokraten [Belaruskaja Chryscijanskaja Demakracyja] traten seit 1926 f�r eine Boden�bertragung ohne Entsch�digung ein20. Die Zeitschrift "Naperad!" f�hrte die Forderung im Zeitungskopf, Jan Stankevic ging damit auf W�hlerfang. F�r die Hramada war die Enteignung des Gro�grundbesitzes eine Kernfrage21. Auch das Zmahan'ne f�hrte diese Losung22, verschwieg allerdings, da� es das Land nicht "nur" aufzuteilen, sondern kollektivieren wollte. Diese partei�bergreifende Einigkeit der wei�russischen Organisation in der Agrarfrage ist darauf zur�ckzuf�hren, da� sie das Kernst�ck dessen darstellte, was die �berw�ltigende Mehrheit der wei�russischen Bev�lkerung von der Politik erwartete.

Die Auswirkungen der Agrargesetze auf die Agrarverfassung in den "kresy" Die Agrargesetze verfuhren mit den einzelnen Elementen der zaristischen Agrarverfassung unterschiedlich. Das Privatland blieb unangetastet in den H�nden der alten Besitzer. Das private Anteilland wurden den Bauern zugeschrieben. Hier und da gab es H�fe, die besitzerlos geworden waren, vor allem dann, wenn sie vor 1914 russischen Adeligen geh�rt hatten. Das Staats-, Kron- und Kirchenland der orthodoxen Kirche sowie der Besitz der ehemaligen russischen Bauernbank aber ging zum gro�en Teil ins Eigentum des neuen Staates �ber: 384.000 ha oder 10% der Gesamtfl�che der Wojewodschaft geh�rten dem Staat.23 Komplizierter verhielt es sich bei B�den, auf die unter dem Zaren kollektive Rechte bestanden hatten. Die Allmende blieben als solche bestehen. Bis 1925 waren in ganz Polen nur 4624 ha Gemeinheiten aufgel�st worden.24 Einen st�ndigen Streitpunkt bildeten bis in den 30er Jahre hinein die Servitutenrechte. Nach der Z�hlung von 1921 gab es in der Wojewodschaft Polesien 22.007 H�fe, die von Servitutenrechten auf 148 Landg�tern Gebrauch machten, darunter nutzten 2.895 H�fe (13%) nur Wald, 14.995 (68%) nur Weiden, 4.089 (18%) sowohl Wald als auch Weiden und 28 (1%) sonstige B�den.25 Vom rechtsstaatlichen Denken her bedeutet die Aufl�sung der Servitute eine erw�nschte Entflechtung komplizierter rechtlicher Bindungen. Die Grundherren waren keinesfalls gewillt, auf den formal

20Polujan 1978:93 21Programm IV 8; Bor'ba trudjasciesja I #266, S.361; nach Jackson 1966:191 lag das Hramada-Programm auf der KomIntern-Linie 22Polujan 1978:73 23Grodzicki 1936a:36 24Ludwig 1934 25 25Absolute Angaben nach Bor'ba trudjasciesja I 1962: #12, S.45

ihnen geh�renden Bodenbesitz zu verzichten. Ein erstes Gesetz zur Abschaffung der Servitute vom 7.5.1920 wurde am 10.1.1922 ge�ndert; danach sollten die Bauernfamilien ein Drittel der Fl�che der Waldservitute und 15% der Weideservitute nach deren Aufl�sung erhalten.26 Bei brachgelassenen gemeinsamen Fl�chen von Grundherren und Bauern, die der Gesetzgeber "sogenannte talaka-Fl�chen" nannte, sollten die Bauern 25% erhalten.27 F�r die Bauern hingegen z�hlte das praktische Nutzungsrecht mehr als das formale Besitzrecht. Sie standen auf dem Standpunkt, die Gebiete geh�rten ihnen. Um ihren Anspr�chen Nachdruck zu verleihen, warfen sie Geldbetr�ge zur Finanzierung eines Anwalts zusammen oder zerst�rten Marksteine.28 Oft gab es wegen der Servitutenfrage Auseinandersetzungen mit der Polizei, wie die folgenden vier Beispiele zeigen: In dem Ort Hanna (Brest) wollte z.B. der Grundherr auf einem Servitut Wald abholzen lassen, aber die Bauern waren schneller, sie kamen ihm zuvor und schleppten das Holz weg.29 Der Pinsker Kreisvorsteher schrieb 1932 an die Wojewodschaftsverwaltung, da� es auf verschiedenen Landg�tern mit Servituten zu scharfen Konflikten komme, die zu "direkten Zusammenst��en mit der Verwaltung" f�hrten. Auf dem Landgut Bogdanowka (Kreis Luninec) hatte der Besitzer einen Teil des Bodens, der von den Dorfbewohnern als Servitut genutzt wurde, verkauft; der neue Besitzer wurde an der Nutzung des St�cks gehindert, erreichte sein Ziel aber mit Polizeischutz. Im Dorf Zahor'e machten die Bauern trotz eines Gerichtsentscheides weiter von einem Servitut Gebrauch. Der Kreisvorsteher berichtete, da� die Bauern den betreffenden Boden als ihnen geh�rig betrachteten.30 Auf Dauer sa�en die Bauern aber am k�rzeren Hebel. Zwar war die Aufl�sung der Servitute bis 1925 langsam vorangekommen; in diesem Jahr hatte es einen "Rekord" von 18.928 aufgel�sten Servituten in ganz Polen gegeben, bis 1929 waren aber in Westpolesien 51.228 ha, bis 1933 118.780 ha31 Servitutfl�chen liquidiert worden; hiervon waren 14.283 H�fe betroffen,32 also rund zwei Drittel aller H�fe, die �berhaupt Servitute genutzt hatten.

Auch hinsichtlich anderer Bereiche der Agrarverfassung kam es zu Konflikten. Parzellierung [parcelacja] war zu einem Begriff geworden, der sich f�r die polesische Bauernschaft mit negativem Inhalt f�llte. Zwar war sie nicht gegen Umverteilung von Boden zugunsten des Kleinbesitzes an sich - im Gegenteil, sie

26Bor'ba trudjasciesja I 1962:#14,S.46-50, hier S.47 27ebd.:49 28Polujan 1978:156 29Polujan 1978:157 30Alles Polujan 1978:157f 31Laeuen 1934: 20f 32Bor'ba trudjasciesja I 1962: #77, S.126

forderte sie ja; aber die Art, wie diese durchgef�hrt und mit der Flurbereinigung [komasacja] verquickt wurde, war f�r die ortsans�ssige ostslavische Landbev�lkerung meist ung�nstig, sie blieb nicht ohne Grund mi�trauisch. Die Bauern bef�rchteten n�mlich nicht nur, den schlechteren Boden zu bekommen.33 Sie waren oft auch schon allein deshalb die tats�chlichen Verlierer, weil eine Entflechtung der komplizierten rechtlichen Beziehungen bei den Bodenrechten den Boden zu leicht kaufbarem und verkaufbarem Kapital machte. Und da es nicht gerade wertvoll gehandeltes Kapital war, w�re es f�r Ortsfremde leicht m�glich gewesen, hier Boden zu erwerben. Hier ging es um einen der Grundkonflikte zwischen Bauerntum und eindringendem Kapitalismus: Die Angst der Bauern davor, gezwungen zu sein, den Boden unter den F��en zu verkaufen, war nur allzu berechtigt; was als r�ckst�ndig erscheint, und was von Obrebski34 psychologisiert wird, war eine ganz gew�hnliche Reaktion. Da waren den Bauern die bisherigen komplizierten "postfeudalen" Bindungen der Bodennutzung lieber. Au�erdem hatten die Bauern Angst vor einer Besteuerung. Solange ihnen der Boden nicht selbst geh�rte, war die Situation f�r die Bauern auch deshalb g�nstiger.

Eng mit der Aufl�sung der Servitute und der Parzellierung sind die �nderungen in der Flurverfassung, also die Flurbereinigungen, oder allgemeiner, die Zusammenlegungen von Grundst�cken [komasacja] verkn�pft. Die Beseitigung der Servitute stellt die Entflechtung von Rechtsanspr�chen verschiedener Parteien auf einem Flecken dar, die Flurbereinigung wiederum die Entflechtung verschiedener Parzellen eines Besitzers; aus aufgekl�rter Sicht war es daher g�nstig, beides in einem Gang zu erledigen. Schon allein diese Verkn�pfungen machten die Bauern auch hinsichtlich der Flurbereinigung argw�hnisch. Aber selbst die immer wieder genannten Vorteile der Flurbereinigung - weniger Flurzwang, gr��ere Anbaufl�che, k�rzere Wege - hatten f�r die Bauern negative Eigenschaften, da sie die Kapitalisierung des Bodens f�rderten. 9-13% der Haushalte konnten gar nicht genau ihren Grundbesitz angeben35. Oft waren die Grenzen der zugeh�rigen Parzellen nicht bekannt36. So erforderte eine Flurbereinigung zun�chst die Vermessung der Grundst�cke. Durch die Vermessung wurden aber gerade die geheimen Fl�chen erfa�t, die dann besteuert werden konnten.

33vgl Polujan 1978:160; vgl. Int�rp�ljacyi 1927:387 34Obrebski 1936a 35Grodzicki 1936a:3; vgl. Tomaszewski 1963:37 36B�rgener 1939:58

So gab es immer wieder Aktionen gegen Landvermessungen. In den D�rfern Kobyl'nik und in Kostomoloty (Kreis Brest) vernichteten die Bauern im Jahre 1931 Grenzmarkierungen, die Landvermesser zur Durchf�hrung der Grundst�ckszusammenlegung angefertigt hatten.37 In der Zeit von 1936 bis 1938 stellten sich die Bauern des Dorfes Podles'e, Gemeinde Cernavcic, Kreis Brest gegen die Zusammenlegung: als 1936 die Beh�rden zu diesem Zwecke eine Versammlung einberufen hatten, verlie�en die Bauern nach und nach die Versammlung. Auch ein zweiter Versuch zwei Jahre sp�ter hatte nicht mehr Erfolg. Daraufhin versuchten die Beh�rden, das Land unter Schutz zweier Polizisten zu vermessen. Als sich nun 150 B�uerinnen und Bauern dem weiterhin entgegenstellten, f�hrte die Polizei am n�chsten Tag eine Pazifizierungsaktion durch.38 Warum die Bauern sich gegen Flurbereinigung wandten, obwohl sie vom �konomischen Standpunkt aus nur Vorteile zu bieten schien, blieb den polnischen Modernisierern unklar, sie machten politische Beweggr�nde oder den Konservativismus der Bauern daf�r verantwortlich. Auch auf polnischer Seite beklagte man sich, die bestehenden Verordnungen seien, wie die Praxis zeige, so schwerf�llig und reich an Formalit�ten, "da� sie nur die Leute entmutigen".39 Bis 1933 waren in der Wojewodschaft Polesie aber immerhin 328.816,7 ha (etwa ein F�nftel der Fl�che der H�fe, die bis zu 50 ha besa�en) Grundst�cke zusammengelegt worden, wovon 29.736 Wirtschaften betroffen waren40.

Der Landhunger bestand jedoch weiterhin. Die Bauern erwarteten eine weitere Reform41. Sie nahmen lohnende Angebote neuen Bodens gerne an. Zuweilen konnten Betr�ger diese Situation des Landhungers ausnutzen. So fand sich z.B. am 18.4.1927 In der Gemeinde Pohost-Zahorodzka im Dorf Seliscy ["Sieliszcze"] ein junger Mann ein, der sich als Sekret�r der Bodenkommission von Pinsk ausgab. Nach Sichtwechsel mit dem Dorfschulthei� [soltys] machte er sich an die Arbeit. Ein als "ungl�cklich" bekannter Gutshof sollte parzelliert werden; die Bauern h�tten einen Betrag von 2 Zl. 50 an ihn oder die Gemeinde zu zahlen, um in den Segen einer neuen Parzelle zu gelangen. Nachdem schon 100 Leute zusammen 250 Zl bezahlt hatten, kam die Polizei...42

37Polujan 1978:160 38Polujan 1978:304 39Bienkiewicz 1927:40 40Laeuen 1934:18 41Obrebski 1936a:430 42Ziemia pinska 25.9.27,H.19-20,S.13; eine �hnliche Geschichte mit Beteiligung der Verwaltung in : Int�rp�ljacyi 1927:23f.

Das Verh�ltnis der polesischen Bauern zu Fragen der Agrarverfassung und des Eigentums Die Bauern Polesiens hatten eine eigene Vorstellung vom Bodenrecht. Obrebski gibt ihre Haltung folgenderma�en wieder: "Nur Boden, der st�ndig bearbeitet wird (also Acker und Heumahd), ist ein st�ndiger und ausschlie�licher Besitz des Nutzenden"43. Bei Wald, Sumpf und Wassergebieten dagegen kam es darauf an, wie es die Vorfahren geregelt hatten; aber auch hier gab es ungeschriebene Gesetze in Form von Kurzformeln wie: "Der Wald geh�rt dem Herren, das Futter den Bauern", anders gesagt, der Wald steht den Bauern zur Nutzung als Waldweide zur Verf�gung. Da die Grundherren neuerdings aber selbst ihre W�lder und Gew�sser nutzen wollten, verst�rkten sie die Kontrolle44, es konnte kein Nebeneinander mehr ohne Streit um die Rechtstitel geben.

Aber nicht immer berief sich die Bauernschaft auf alte Rechte, oft hackte sie Holz in fremden W�ldern; vor allem dann, wenn sie keine andere M�glichkeit zur Selbstversorgung sah, trieb sie das Vieh auf grundherrliche Wiesen. So geschehen im Juni 1931 in Rakitnica (Kobryn); als der Grundherr Malaszewski daraufhin einen Polizisten holte, wurden sie alle beide verjagt. Schlie�lich ging eine starke Polizeieinheit schroff vor: sie "schlug die Bauern, ri� D�cher von H�usern, zerbrach Ger�tschaften [utvar'], besch�digte Kleidung, sch�ttete Getreide und Mehl auf die Erde und �bergo�

mit Petroleum"45. Wie das heimliche Weidenlassen konnte auch das heimliche Holzhacken in grundherrlichen W�ldern schlecht entdeckt werden. Im Herbst 1931 und im Winter 1932 hackten die Bauern in der Gemeinde Vysoko (Kreis Brest) in einem grundherrlichen Wald, im Juni 1932 wurde in Orechov (Brest) dasselbe bei einem Wald entdeckt, der der Bodenbank von Vilnius geh�rte. Als der zust�ndige F�rster die Nachnamen der Betreffenden erfragen wollte, wurde er von den Bauern verjagt.46

Dieses aus dem Rechtsbewu�tsein der Bauern entspringende Verhalten hatte schon Tradition. W�hrend aber "ein, zwei, drei Generationen fr�her" die Grundherren ein Auge zudr�ckten, verteidigten sie nun in der Zwischenkriegszeit offensiv ihre aus der Agrarverfassung abgeleiteten Rechte.47

43Obrebski 1936a:429 44Obrebski 1936a:431 45Polujan 1978:158 46Polujan 1978:159 47Obrebski 1936a:429

Ein typisch vormodernes Mittel b�uerlicher Interessenvertretung blieb die Brandstiftung. Die Provinzzeitschriften der Wojewodschaft Polesien f�hrten immer wieder Brandf�lle an. Aller Aufkl�rungsarbeit zum Trotz gingen immer wieder H�user in Flammen auf. Beobachter, die die h�ufigen Br�nde nur auf die nach wie vor dieser Gefahr nicht vorbeugende Bauweise zur�ckf�hrten, waren da eher als gutwillig zu bezeichnen.48 B�rgener unterstellt, da� es den Bauern um das Kassieren von Versicherungssummen ging, eine Erkl�rung, die immerhin plausibel anmutet, da die Poleschuken ja oft in Bargeldn�ten steckten. Aber auch fremde H�user wurden angez�ndet, aus welchen Gr�nden, das bleibt im Einzelfall unaufgekl�rt, da die Brandstifter sich auch anonym nicht zu ihrer Tat bekannten. In den Jahren 1931 bis 1932 "waren allein im westlichen Teil der Wojewodschaft Polesien mehr als 20 F�lle von Brandstiftung an Gutsh�fen zu verzeichnen".49 * Zusammenfassend l��t sich sagen, da� die staatliche Politik, durch die die Agrarverfassung ja modernisiert, entflochten werden sollte, nicht die grunds�tzlichen Besonderheiten der Agrarverfassung der ehemaligen zaristischen Gebiete und auch nicht die aus den nat�rlichen Gegebenheiten von Polesien als Naturraum entspringenden Besonderheiten in ausreichendem Ma�e in Rechnung stellte. Gewi� war es keine leichte Aufgabe, aus den Agrarverfassungen der drei ehemaligen Teilgebiete Polens ein einheitliches System zu formen. Es entsteht jedoch der Eindruck, da� nicht der Versuch gemacht wurde, diese Besonderheiten zu erkennen, zu verstehen oder sie gar bei Erstellung des Gesetzeswerkes zu ber�cksichtigen. Es wurden einzig quantitative Unterscheidungen vorgenommen, die aus einer unterschiedlichen Beurteilung des Wertes des Bodens an sich entsprangen. Die Bauern achteten darauf, was ihnen die einzelnen �nderungen der Agrarverfassung konkret einbrachten. Sie waren bei der Verteidigung ihrer Interessen und ihrer Rechtsauffasssungen zwar nicht zimperlich, beschr�nkten sich jedoch auf althergebrachte Aktionsformen, die nun aber keinen Erfolg mehr einbrachten. Sie mu�ten sich auf defensive Strategien zur�ckziehen.

8.1.2. Agrarpolitik als monet�re Politik: Marktquote, Kreditvergabe, Steuerpolitik Da� eine Einbindung der Bauernwirtschaften in die Geldwirtschaft anzustreben sei, war in Polen theoretisch kein Thema. Aber es wurde keine Politik zur F�rderung der Einbindung in die Geldwirtschaft betrieben. Eine M�glichkeit h�tte in

48B�rgener 1939:53 49Polujan 1978:159

einem staatlichen Aufkauf der Nahrungsmittel zu h�heren als den Marktpreisen bestanden. Dieses Mittel wurde nicht angewandt, es w�re f�r den Staat auch zu kostspielig gewesen. In der Rezessionszeit bewirkten die niedrigen Agrarpreise, da� die Bauern dem Markt ganz fernblieben; dadurch wurden die strukturellen Voraussetzungen daf�r geschaffen, da� die Bauern weiterhin zu fast autarker Wirtschaftsweise tendierten.

Auch die Modernisierung des toten Inventars oder die Beg�nstigung des Kaufes von zus�tzlichem Land h�tte durch Subventionen oder zumindest durch die Gew�hrung von Krediten gef�rdert werden k�nnen. Aber "es fehlt an langfristigen Krediten f�r Landwirte"50. Auch auf dem Kreditsektor herrschten die freien Kr�fte des Marktes mit dem Ergebnis, da� die Bauern mangels anderer Gelegenheit Kredite quasi indirekt durch Nichtbezahlen von Steuern aufnahmen.

Bei einer KostenNutzen-Rechnung ergab sich f�r den Staat, da� die �stlichen Wojewodschaften, die kresy, sich nicht rentierten. Dies lag nicht an seinen hohen Ausgaben in diesen Gebieten, sondern an seinen geringen (Steuer-)Einnahmen. In den Jahren 1925 bis 1928 z.B. lag das Pro-Kopf-Aufkommen an direkten Steuern in den Wojewodschaften Navahrudak und Polesien ca. bei einem Drittel des Aufkommens in Polen51. Angesichts der geringen Einbindung der Bauernwirtschaften in die Geldwirtschaft wurden dennoch die Steuerbetr�ge als zu hoch empfunden. Im April 1924 wird �ber Unzufriedenheit angesichts von Steuererh�hungen im Kreis Pruzany berichtet52. Ende 1927 hatte der polnische Staat in Westpolesien 2.293.899 Zl und die Kommunen 1.209.470 Zl Grundsteuerau�enst�nde. Landwirtschaftliche Betriebe aller Gr��en waren verschuldet.53 Als der Fiskus keine anderen M�glichkeiten der Steuereintreibung mehr sah, befahl er die zwangsweise Abarbeitung von Verpflichtungen beim Br�cken- und Wegebau [szarwark].54 Die szarwark-Dienste waren den Bauernfamilien zuwider; daher gab es Verweigerungen, wie folgende drei Beispiele zeigen: - Im September 1929 wurden die Verpflichteten in Muravicy (Gemeinde Kostomel', Kreis Brest) f�r solch eine Verweigerung mit Strafgeldern belegt. Als aber die Strafgelder eingezogen werden sollten, verjagten die Bauern den Vollstreckungsbeamten [sekvetator] und die Polizei. Erst im n�chsten Anlauf besorgte dann eine verst�rkte Polizeieinheit die "Abrechnung"55.

50Bienkiewicz 1927:49 51Tomaszewski 1963:186 52Bor'ba trudjasciesja I 1962:#25, S.60 53Bor'ba trudjasciesja I 1962:#60, S.100 54Polujan 1978:21 55Cyrvony Sciah, laut Polujan 1978:101

- Ende April 1931 bestreikten in Hanna (Gemeinde Damaceva, Kreis Brest) die Bauern solch eine Arbeitsverpflichtung. Dem schlossen sich nach und nach die Bauern von Kuzae� (Gemeinde Damaceva, Kreis Brest), Zales'e, Volcyn und Vysoko-Litovsk an; schlie�lich waren 600 Leute beteiligt. Als die Polizei verschiedene R�delsf�hrer festnahm, bekam die Angelegenheit einen politischen Charakter56. - Auch im Juni 1932 gab es in Volcyn (Brest) und im Sommer 1932 in Poljaticy Andronovo, Mar'jany (Kobryn) solche Arbeitsverweigerungen.57 Es ist ebenso schwer, das Repr�sentative solcher Beispiele festzustellen, wie zu untersuchen, ob es bestimmte Perioden gab, in denen sich solche Verweigerungen h�uften.

Die szarwark-Dienste w�ren vielleicht nicht eingef�hrt worden, wenn eine geldliche Besteuerung mehr Erfolge zu verzeichnen gehabt h�tte. Aber besonders in der "Krisenzeit" von 1929 bis 1933, als die Preisschere zwischen billigen Agrar- und teuren Industrieprodukten am weitesten auseinanderklaffte und die Bauernschaft aufgrund der geringen Warenrate wenig Bargeld besa�, wurden die Steuern nicht bezahlt. In solchen F�llen wurden Zwangsvollstrecker und Polizei in die D�rfer geschickt, die die Befugnis hatten, b�uerliches Verm�gen zu beschlagnehmen. - Am 7.5.1930 lie�en die Bewohner von Vorotno (Pruzany) solch einen Zwangsvollstrecker abblitzen. Dieser kam am n�chsten Tag mit vier Polizisten ins Dorf zur�ck, woraufhin 300 bis 400 Bauern diese mit Steinen bewarfen. Nun r�ckte ein Aufgebot von Soldaten und Polizei heran und verhaftete einige Leute.58 - Auch in Nepli-Motykalski (Brest) wurde der mit dem Einziehen b�uerlichen Verm�gens Beauftragte zusammen mit zwei Polizisten zun�chst verjagt; die Bauern w�hlten ein Antisteuerkomitee und begr�ndeten ihre Verweigerung so: "Wir haben schon alles M�gliche zusammengesammelt, aber die letzte Kuh und das Geschirr werden wir nicht abgeben"59. �hnlich wie in der BSSR wurden die Bauern in dem Moment militant, in dem die Staatsgewalt sie unter das Existenzminimum dr�ngen wollte. - Komitees gegen die Steuerschraube wurden auch in anderen Gebieten Westpolesiens gegr�ndet60. In Kovaliki (Gemeinde Vysoko-Litovsk, Kreis Brest) hatten die Beh�rden wieder mal kein Gl�ck beim Einziehen der Steuern gehabt und von den

56Polujan 1978:163 57Polujan 1978:163 58Polujan 1978:164 59Polujan 1978:166 60Polujan 1978:166

Bewohnern eine Abfuhr erteilt bekommen: sie wurden gezwungen, "sich aus dem Dorf zu entfernen. Nach einigen Tagen, als viele von den M�nnern zum Basar gefahren waren, kam der Kreisvorsteher [w�jt] mit Polizisten zur�ck. Die Frauen und Jugendlichen bewarfen jene mit Steinen, jagten sie aus dem Dorf und nahmen den Wagen mit dem konfiszierten Verm�gen an sich. Erst, als sechzig Polizisten nach Kovaliki geschickt wurden, konnte die Exekutive den Widerstand niederschlagen"61. Viele wurden geschlagen, sieben Leute verhaftet. - Auch in Sosnovka (Pruzany) mu�ten der Zwangsvollstrecker dreimal und die Polizei zweimal erscheinen, ehe sie gegen die versammelte Bauernschaft nach Verhaftung von drei F�hrern etwas ausrichten konnten.62 - Am 25.7.1933 hinderte in Leplevka (Brest) eine Bauernmenge einen Steuereintreiber und drei Polizisten daran, einem Bauer eine Kuh wegzunehmen, um so die Besteuerung durchzuf�hren; sie warfen sich auf die vier. Der Rest ist bekannt: die Exekutive holte Verst�rkung und r�chte sich mit Zerst�rungen und Verhaftungen.63 Die sch�rfsten Auseinandersetzungen fanden in den Jahren 1931 bis 1932 in Damaceva (Brest), Malaryta (Brest), in Marianopol' (Gemeinde und Kreis Kobryn) sowie anderen Orten im Kreis Kobryn statt, in denen D�cher zerst�rt, Alte und Kinder geschlagen oder ganze D�rfer nach Steuerverweigerungen �bel zugerichtet wurden.64 Es handelte sich hierbei um D�rfer, die wahrscheinlich ohnehin nicht zur Zusammenarbeit mit den polnischen Beh�rden bereit gewesen waren; die �ffentliche Hand agierte bei der Steuereintreibung mit unmodernen Mitteln, und so eskalierten die Konflikte bis zu dem Punkt, an dem sich zeigte, wer der St�rkere war: die staatliche Exekutive. Der Staatsmacht blieb - wie in der BSSR - kein anderes Mittel zur Eintreibung b�uerlicher Abgaben als die "�berraschungstaktik". Im Gegensatz zur BSSR waren die bei einer Verweigerung durchgef�hrten Pazifizierungsaktionen nicht ideologiegeleitet, ihr Motiv war die Durchsetzung der Finanzhoheit und des Gewaltmonopols des Staates; dieser Unterschied spielte f�r die Bauern aber keine Rolle.

In den sp�ten 30er Jahren hingegen verweigerten - soweit das aus den Materialien ersichtlich ist - die Bauern in Polesien nicht mehr so oft die Steuern. Sie nahmen auch nicht am polnischen Bauernstreik im Jahr 1937 teil, zu dem die immer radikaler auftretende Bauernpartei [Stronnictwo Ludowe] aufgerufen hatte. Das wesentliche Kampfmittel dieses sogenannten Bauernstreikes (eigentlich war es

61Polujan 1978:166f 62Polujan 1978:168 63Macko 1963:113 64Polujan 1978:169

ein Embargo) stellte die Nichtbelieferung des Marktes mit landwirtschaftlichen Produkten dar; dieses konnte im ohnehin kaum f�r den Markt produzierenden Polesien kein wirksames Vorgehen sein. Aber die Auseinandersetzungen waren nicht beendet, im Oktober 1935 gab es Erhebungen gegen Steuerforderungen im Dorf Bul'ka (Kreis Pinsk).65

�brigens waren die Steuereintreiber durchaus nicht nur Vertreter einer anonymen Macht. Die Landwirtschaftskammern [Powiatowe Zwiazki Rolnicze] f�hrten auf Kreisebene dort, wo sie dies politisch durchsetzen konnten, einen Aufschlag zur Grundsteuer von 20 - 25% ein. Mit diesen Betr�gen wurde der Gemeindespeicher aufgeh�uft; von den so angeh�uften Vorr�ten wurde den Bauern in der Vorerntezeit, also dann, wenn die Nahrung knapp war, oder bei Naturkatastrophen Korn verliehen: Au�erdem wurden von den Betr�gen kostenlose Landwirtschafts- und Rechtsberatungen durchgef�hrt.66 Die Absichten, die mit der Erhebung solch einer Zusatzsteuer verbunden waren, waren keine negativen. Weil aber diese Institutionen von oben eingesetzt worden waren (und weil sie zudem polnisch waren), sahen die Poleschuken solche dezentralen Zusatzsteuern mit anderen Augen.

Zudem gab es noch die indirekten Steuern. Diese spielten f�r die polesische Landbev�lkerung aber keine bedeutende Rolle, da sie ohnehin nicht in gr��eren Mengen Waren gegen Geld kaufte. Nur das Salz war ein unverzichtbares Gut, das ausschlie�lich auf dem Markt erh�ltlich war.

8.1.3. Landwirtschaftliche Beratung und Agronomie Anders als in der BSSR, wo etwaige Unterschiede in den Zielen und Wegen der Agrarpolitiker nur begrenzt �ffentlich gemacht wurden, gab es in Polen nicht nur eine polnische gegen�ber einer wei�russischen und einer j�dischen Position, sondern auch innerhalb der polnischen und wei�russischen Organisationen Gegens�tze �ber Ziele und Wege der Agrarpolitik, die sehr plakativ vorgetragen wurden, um W�hlerstimmen zu erhalten. Hier soll aber die sich aus diesen Positionen ergebende Agitation nicht eingehend dargestellt werden; vielmehr sollen die Versuche der "Zust�ndigen" aus der Verwaltung geschildert werden, agronomische und andere f�r objektiv gehaltene Erkenntnisse unters Volk zu streuen. Das praktische Verhalten der in irgendeiner Weise im �ffentlichen Leben engagierten Polen entsprang dabei grunds�tzlich zwei - mehr oder weniger

65Polujan 1978:303 66alles Tomaszewski 1963:174f

pr�zise formulierten und nicht bestimmten politischen Richtungen zuzuordnenden - Grundeinstellungen zu der Frage, was mit den kresy geschehen solle. Die einen betonten die Wichtigkeit stabiler Ostgrenzen als "Grenzen Europas"67 und wollten die dortige Bev�lkerung m�glichst schnell polonisieren: es m�sse den Bauern gezeigt werden, da� "Polen f�r sie nicht eine Stiefmutter, sondern eine Mutter ist"68. In Westwei�ru�land, besonders aber in der Wojewodschaft Polesien sah man dies als am besten verwirklichbar an, da man hier ja ein leicht assimilierbares V�lkchen vor sich zu haben glaubte.69 Man gr�ndete die "Gesellschaft zur Entwicklung der Ostgebiete" [Towarzystwo Rozwoju Ziem Wschodnich], das die "zivilisierenden" T�tigkeiten koordinieren sollte. Immer wieder wurde gemahnt, die Zeit nicht unn�tz verstreichen zu lassen und moderne Methoden der Landwirtschaft zu propagieren. Und eine Garantierung des Existenzminimums sei "eine der sanftesten Formen der Kolonisierung Polesiens"71. Auch B�rgener als Ausl�nder glaubt, da� f�r Polen hier eine eigentlich leichte Aufgabe gelegen habe, die aber verspielt worden sei. Andererseits gab es, haupts�chlich in der Verwaltung die Ansicht, da� Geldbetr�ge und agronomische Aufkl�rungsarbeit f�r die kresy sinnlos ausgegeben w�rden: "Ach, dieses bolschewistische Dorf, dort wohnen die Kommunisten , und f�r die soll man arbeiten?" - so zitiert ein Artikelschreiber einen Verwaltungsangestellten.72 Aber auch in Warschau hatte man - z.B. mit dem Bau des Hafens in Gdingen und einer Eisenbahnlinie dorthin - eindeutig andere strukturpolitische Schwerpunkte gesetzt und verlachn�ssigte die Ostgebiete, was ja durchaus ein typisches Schicksal von Randgebieten ist. Die weite Verbreitung dieser zweiten Haltung war weniger programmatisch, sie wurde haupts�chlich durch die praktische Erfolglosigkeit der ersten gen�hrt. Diejenigen aber, die mit dem Ziel praktischer agronomischer Arbeit und Volksaufkl�rung landwirtschaftliche Kreise gr�ndeten und Kurse veranstalteten, sahen sich immer wieder im Stich gelassen und versuchten, �bergeordnete Stellen von der Sinnhaftigkeit und dem Polonisierungseffekt ihres Tuns zu �berzeugen. 1925 gab es 7 Kreis-Landwirtschaftsgesellschaften mit 40 einzelnen Zirkeln.73 Sie organisierten Ausstellungen landwirtschaftlichen Inventars und von Produkten der Hausindustrie, verbreiteten Zeitschriften; "energisch wurde mit Aufkl�rungsarbeit angefangen". Seit Anfang 1926 wurde die Arbeit intensiviert , als die sejmiki in der Mehrzahl f�r Zusammenarbeit eintraten. Aus Warschau wurde die Arbeit mit 50.000 Zl unterst�tzt, was als zuwenig angesehen wurde.74

67Ormicki 1929:7 68Bienkiewicz 1927:40 69vgl. ebd. 71Wochanka 1938:201 72Ziemia pinska 24.3.29, H.2, S.4 73Bienkiewicz 1927:39 74Bienkiewicz 1927:40; vgl. auch 45

Man schw�rmte - wie in der BSSR - von D�nemark, wo auf einem Gebiet, das "etwas gr��er als Polesien" ist, 60 Volksuniversit�ten existierten; solch eine "Melioration der Seelen" wollte man auch in Polesien durchf�hren.75 Ob, und wenn ja, wie solche Einrichtungen von der �rtlichen Bev�lkerung wahrgenommen wurden, ist nicht mit Bestimmtheit zu sagen. Manchmal muteten die Anliegen der Reformer weltfremd an, etwa, wenn der Grundsatz der Volkswirtschafstslehre "Zeit ist Geld" den Bauern nahegelegt werden sollte: "Jede verschenkte Minute ist f�r den Bauern sehr teuer".76

Allerdings wurden auch den Fachkreisen selbst die Grenzen der Propaganda klar: "Denn die hiesige Bev�lkerung, die dunklen, armen und mi�trauischen Bauern haben keinerlei Mittel und meiden jedwedes Risiko, und �berzeugen kann man sie nicht mit theoretischen Vortr�gen, sondern mit sinnf�lligen Beispielen"77. Ohne lebendiges Beispiel "wird die Tasche des armen Poleschuken stets geschlossen bleiben", wird er nicht investieren.78

Doch wie sah die Praxis agronomischer Hilfe denn aus? Handelte es sich nur um gutgemeinte Ratschl�ge, wenn die zeitgen�ssischen polnischsprachigen Zeitungen, Zeitschriften und Jahrb�cher voll von Anregungen und Tips zur Verbesserung der landwirtschaftlichen Produktion waren, bei denen es um Sch�dlingsbek�mpfung und Bienenzucht, Hygiene und neue Feldfr�chte ging und in denen erkl�rt wurde, was ein Wechsel ist?79 Es fragt sich, ob die b�uerliche Bev�lkerung �berhaupt willens und in der Lage war, Experimente zu machen; wahrscheinlich hat sie aber solche Periodika sowieso nur wenig gelesen: In einem Leitartikel des Wochenblatts Polesie wird den Kleinbauern versucht zu vermitteln, da� die Zeitschrift doch gerade f�r sie gedacht sei.80 Es wurde aber keine gezielte Agrarstrukturpolitik durchgef�hrt, die technische Verbesserungen f�rderte. Die Hilfe zur Selbsthilfe wurde vom Staat nicht gef�rdert, auch daher griffen die Kampagnen nicht. Au�er Samenkredit und Pferdeverleih unternahm die polnische Regierung nichts zur Entwicklung der Region.81

8.1.4. Agrarpolitik als Melioration Wie in Ostpolesien weckten auch in der Wojewodschaft Polesie die riesigen Sumpf- und �dlandfl�chen den Wunsch der Agrarpolitiker und zum Teil auch der

75Ziemia pinska 24.3.29, Heft 2, S.2 76Polesie 7.2.37,H.5,S.3 77Bienkiewicz 1927:40 78Bienkiewicz 1927:45 79Polesie 9.9.28,Heft 6,S.11 80Polesie 21.10.28, Heft 12, S.1 81Bienkiewicz 1927:39

Betroffenen nach Flu�regulierung und Melioration der Gebiete; sowohl die Acker- als auch die Weidefl�chen sollten dadurch vergr��ert werden. In der Wojewodschaft Polesien stellte sich diese Aufgabe in noch st�rkerem Ma�e als im okrug Mazyr, weil hier die Bev�lkerung in den Jahren 1921 bis 1924 stark gestiegen war (siehe unten), andererseits nicht die M�glichkeit bestand, den Landhunger durch Aufteilung der Gutsl�ndereien vor�bergehend teilweise zu befriedigen. Der lange Krieg hatte die ersten Ans�tze zur Melioration zerst�rt82. Grunds�tzlich lassen sich hier auf polnischer Seite wieder die zwei "Lager" der Aktions- und Integrationswilligen auf der einen und der Desinteressierten auf der anderen Seite erkennen, w�hrend die wei�russische Intelligenz wenig Kommentare zur Meliorationsfrage abgegeben hat. Die Hramada schrieb in ihrem Programm kurz, da� sie daf�r sei83. Erkundungen, wie eine Melioration sinnvoll durchgef�hrt werden k�nne, wurden schon fr�h angestellt. Die Fachleute liebten es, den potentiellen Fl�chenzuwachs an landwirtschaftlich nutzbarem Boden gro� herauszustellen. Niedzwiedz h�tte gerne 1.700.000 ha melioriert gesehen, immerhin 48% der gesamten Wojewodschaftsfl�che84. Es wurde sehr richtig erkannt, da� alle Meliorationsarbeiten nur auf der Basis eines einzigen Planes erfolgen k�nnten85. Tats�chlich wurde daher gem�� einer Verordnung vom 15.2.1928 das Biuro Projektu Melioracji Polesia in Brest eingerichtet.86 Internationale Fachleute wurden zu Rate gezogen. Die Arbeit war nicht einfach zu bewerkstelligen, da Karten nur im Ma�stab 1:100.000 (f�r das westliche Gebiet auch 1:25000) und nur ungenaue Triangulationspunkte aus der Zarenzeit zur Verf�gung standen. "Auch das Finden von Wohnungen und Versorgung mit Lebensmitteln st��t auf Schwierigkeiten".87 Neue Karten wurden mit Hilfe der "aerophotogrammetrischen Methode" angefertigt, auch die Triangulationsmessungen nach moderner Methode durchgef�hrt.88 Vor der Errichtung des B�ros hatte ein Ingenieur die Kosten mit 420 Millionen Zl errechnet, die sich wie folgt zusammensetzen w�rden:

Flu�regulierungen 75.000.000 Trockenlegungen 90.000.000 Einzelne Meliorationen 225.000.000 Allgemeine Kosten 30.000.00089

82Niezbrzycki 1930:302 83Bor'ba trudjasciesja I 1962: #266 S.362 84Niedzwiedz, Konstanty: Polesie a sprawa meljoracji in: Polesie 7.2.37,H.5,S.1 85Ludkiewicz 1927:215; Pruchnik 1932:303 86Tomaszewski 1963:168o; vgl. Pruchnik 1932:304 87Pruchnik 1932:303f 88Pruchnik 1932:305f 89Ludkiewicz 1927:214; etwas andere Zahlen bei Pruchnik 1932:307

Diese Summen schreckten Warschau zwar ab, aber man rechnete vor, da� die Kosten mit 280 Zl pro ha sehr gering seien90. Die dann vom B�ro selbst veranschlagten Kosten zur Verwirklichung eines umfassenden Meliorationsprojekts betrugen 470 Millionen Zl91; allein die Ausarbeitung des Projekts kostete 6.700.000 Zl92. Mit der UdSSR wurden Unterhandlungen wegen der Regulierung der Prypjac' und der Grenzfl�sse begonnen93. Das Wissenschaftliche Staatsinstitut f�r Agrikultur in Pulawy wurde mit einbezogen. Den Leitern der Arbeit standen Automobile zur Verf�gung94. Man war fest entschlossen; jedoch investierten die polnische Regierung und Staatsverwaltung vorrangig in anderen Regionen Polens. Au�er dem Staat kam aber f�r diese T�tigkeit niemand in Frage. Ludkiewicz favorisierte 1927 zwar eine gemeinsame Finanzierung durch den Staatshaushalt und die Nationale Staatsbank [Bank Gospodarstwa Krajowego]95 unter Beteiligung der PKO und der staatlichen Versicherung [Polska Dyrekcja Ubezpieczen' Wzajemnych] �ber Pfandbriefe. Eine Beteiligung der Gro�grundbesitzer hielt er aber f�r illusorisch: "auf der einen Seite die schwache Energie und Unternehmert�tigkeit [przedsiebiorczosc] der polnischen Grundherren, auf der anderen das Fehlen von Kapital in ihren H�nden" behindere dies.96 Au�erdem gab es die technischen Bedenken, ob nicht "eine Erniedrigung[!] des Flu�spiegels [...] der Landwirtschaft und den W�ldern zum Schaden gereichen w�rde"97; diese Bedenken wurden zum Teil zur�ckgewiesen98, zum Teil stellte man als ein ernsthaftes Problem in Rechnung, da� die Nutzung von k�nstlichen Wasserwegen, Fischteichen und M�hlen "bei einer unverantwortlichen Ausrichtung" durch die Melioration beeintr�chtigt werden k�nnte.99 Noch 1937 aber war kaum etwas passiert: die "Tr�gheitspartei" in Regierung und Verwaltung hatte "gesiegt". Aber auch die Ortsans�ssigen schienen gr��tenteils "unvern�nftig" zu bleiben: "Die Gesellschaft sollte bei der Meliorationst�tigkeit hilfreich sein, statt diese weitreichende Arbeit zu erschweren, wie dies gegenw�rtig geschieht."100 Gleichwohl war Besserung in Sicht: "Das zur Zeit bearbeitete Arbeitsdienstgesetz [ustawa szarwarkowa] [...] erlaubt die Erwirkung von Sanktionen gegen�ber widerstrebenden Personen, deren Menge in der letzten Zeit schon merklich zu steigen begann." Und in der letzten Zeit w�rden "immer mehr Bitten an die Meliorationsreferate von einzelnen polesischen D�rfern

90Ludkiewicz 1927:215 91Tomaszewski 1963:168 92Pruchnik 1932:306 93Pruchnik 1932:307 94Pruchnik 1932:317 95Ludkiewicz 1927:215 96Ludkiewicz 1927:216 97Pruchnik 1932:308 98Pruchnik 1932:314 99vgl. B�rgener 1939:87 100Niedzwiedz in Polesie 7.2.37, H.5,S.1

herangetragen, mit der Meliorationst�tigkeit auf ihren D�rfern zu beginnen".101 Anderer Meinung war ein Herr Zelen: "Die Presse beschr�nkt sich grunds�tzlich darauf, den Bedarf an Trockenlegung und Kultivierung [uzyznienie] einfach zu behaupten. Herr Niedzwiedz macht sich f�r den sogenannten Arbeitsdienst stark." Aber der Wegebau ginge mit solchen Arbeitskr�ften sehr langsam voran, und "der Bauer, nicht nur der Poleschuk" wolle solche Aktionen nicht.102 Die geringe Begeisterung der Bauern l��t sich als ein Teil ihrer passiven Strategie erkl�ren, der Verwaltung keinen �berblick �ber die b�uerliche Produktion oder �berhaupt die b�uerliche Lebenskunst zu geben.

8.1.5. Agrarpolitik als Siedlungspolitik Die Landwirtschaft sollte auch durch die polnische Siedlungspolitik verbessert werden. Man schickte Siedler [osadniki] polnischer Nationalit�t, die zum Teil f�r milit�rische Verdienste belohnt wurden, in die Ostwojewodschaften, ab 1923 versuchten manche auch auf eigene Faust hier ihr Gl�ck.103 Nicht erst der autorit�r regierende Pilsudski, auch die Regierungen, an denen zeitweise die polnischen Bauernparteien PSL Piast und PSL Wyzwolenie beteiligt waren, f�rderten diese Bewegung zun�chst.104 Am 12.1.1921 wurde ein Gesetz �ber Soldatensiedlungen angenommen105, dessen Grundgedanke es war, in den an Litauen und die Sowjetgebiete grenzenden Regionen wehrhafte Kr�fte anzusiedeln. Die Aktion hatte zudem den Hintergrund, da� ja erst ein Waffenstillstand und noch kein Friedensschlu� die Kampfhandlungen an Polens Ostfront beendet hatten; Soldaten hatten inzwischen "eigenm�chtig Bauernh�fe oder Landg�ter in Betrieb genommen"106. So wurden zur besseren Ordnung ab 1921 Kolonnen gebildet107, die sich auf Landg�tern offiziell ansiedelten. Nun sollten sie ganz offiziell bis zu 45 ha zugeteilt bekommen.108 Sp�ter war es manchen zu gem�chlich gegangen: Die Gesetze und Verordnungen m��ten neu geschrieben werden, um "den verschiedenen Kolonisten den Erwerb von Boden zu erleichtern".109 Die Neusiedler hatten, insofern sie Landwirtschaft betrieben, gegen verschiedene Widrigkeiten anzugehen. Es begann damit, da� sie "mit der M�glichkeit gek�dert wurden, auf einer gro�en Fl�che Land zu leben".110 Danach wurden beim Grunderwerb schon einige �bers Ohr gehauen: "Man mu� bekr�ftigen, da� aufgrund

101ebenda 102Polesie 28.2.37, H.8,S.4 103Bergman 1962:76 104Leblang 1977:300 105Dz.U.R.P.1921 Nr.4 Pos 17&18 , abgedruckt in Bor'ba trudjasciesja I #4, S.28-30; vgl. Tomaszewski 1963:158 ; Korus-Kabacinska behauptet 12.12.1920 106Korus-Kabacinska 1961:174 107Tomaszewski 1963:158 108Bor'ba trudjasciesja I 1962: #4,Par.5,S.29 109Bienkiewicz 1927:40 110Bienkiewicz 1927:34

der hiesigen Rechtsbeziehungen eine gewisse Menge von Kolonisten beim Bodenerwerb empfindlich betrogen wurde, weil u.a. illegal verkauft wurde"111. "Gewissenlose Bodenverk�ufer konnten das Vertrauen der Kolonialisten ausnutzen".112 Es sei Aufgabe der �ffentlichen Verwaltung, die Interessenten �ber B�den und Preise zu informieren.113 Kritiker, die sich �ber das k�nstliche Einpflanzen von Siedlern beschweren, sollten erst einmal bedenken, da� deren Einflu� noch gr��er w�re, wenn es nicht das Gesetz �ber die Agrarreform g�be; denn so sei der Gro�grundbesitz ja gezwungen, seine G�ter zu parzellieren und nicht en gros zu ver�u�ern.114 Da� das Gesetz allerdings �berhaupt nichts dar�ber aussagte, an wen zu verkaufen sei, zeigt aber, da� in dieser Argumentation zwei v�llig verschiedene Gesichtspunkte miteinander verkn�pft wurden: Gewi� w�rden Bodentransaktionen noch h�ufiger vorgenommen worden sein, wenn das Agrargesetz dies nicht behindert h�tte; das kann aber keine Begr�ndung f�r die Einsiedlung von Kriegsveteranen sein. Die Neusiedler wurden von der einheimischen Bev�lkerung meist feindlich aufgenommen115. Nur der �rtliche Kleinadel konnte mehr Sympathie aufbringen116. Es spielte auch eine Rolle, wie die Neusiedler sich auff�hrten: "Die �rtlich verwurzelte Bev�lkerung empfindet keine Abneigung zu denjenigen osadniki, die Boden gegen Geld erwerben."117 Und: "Die Beziehungen zwischen diesen Neusiedlern [przybyszami] und der �rtlichen Bev�lkerung, welche jene sehr ungern annimmt, fangen sich gegenw�rtig an auszugleichen"118. Oft hatten die Siedler keine Ahnung von Landwirtschaft: "Die Siedler waren vor allem politisch zuverl�ssige Legion�re, hatten jedoch oft keinen Begriff von der Arbeit auf dem Acker".119 Die Hauptwelle der Neusiedler schwappte in den fr�hen 20er Jahren in die "kresy": In den Wojewodschaften Wolhynien, Polesien, Navahrudak und in geringerem Ma�e auch in Vilnius und Bialystok waren bis 1925 schon 6754 Hofstellen mit 121.823,0 ha geschaffen worden, durchschnittlich besa� eine solche Stelle circa 18 ha. In Polesien waren bis 1933 1116 Stellen mit 27.565,5 ha, durchschnittlich also mit 24,7 ha geschaffen worden120, darunter allein in den Jahren 1921 und 1922 22.544 ha.121 Dies sind keine allzu hohen Zahlenwerte; allerdings handelte es sich hierbei nur um die staatlich �bereigneten Fl�chen und Stellen

111Bienkiewicz 1927:35 112Bienkiewicz 1927:49 113ebd. 114Bienkiewicz 1927:35 115Int�rp�ljacyi 1927:29; Ziemia Pinska 3(6.1.1928),N�1, S.1l; Niezbrzycki 1930:294; u.v.a.m. 116Tomaszewski 1963:145 117Bienkiewicz 1927 35+49l 118Bienkiewicz 1927:34 119Tomaszewski 1963: 145, 159 120absolute Werte nach Laeuen (1934/35):20f 121Tomaszewski 1963:159

f�r Soldatensiedler, nicht auch um Grund und Boden der auf eigene Faust ihr Gl�ck versuchenden Neusiedler. Bedenkt man zudem, da� hier vorwiegend Ackerland den Besitzer wechselte, erscheint die Menge nicht mehr ganz so gering.122 Dennoch ist es eher das Politikum als die wirkliche Beeintr�chtigung der Befriedigung des Landhungers der autochthonen Bev�lkerung gewesen, die die Konflikte zwischen ihnen und den osadniki, die mit einer anderen Sprache und einer anderen Religion in die bisher noch von St�nden gepr�gte Gesellschaft "eindrangen", heraufbeschwor.123 1926 wurde dann die programmatische Besiedlung Polesiens durch Polen abgebrochen; nur in kleinerem Umfang wurde noch Land an Neusiedler vergeben, so da� 86% der vergebenen Stellen wie der insgesamt an Neusiedler vergebenen Fl�che schon in den Jahren bis 1925 den Besitzer gewechselt hatten124. Inwieweit mittelbar die unwillige Haltung der einheimischen Bev�lkerung gegen�ber den Soldatensiedlern an Anteil an dieser �nderung hatte, ist schlecht zu ermessen. Im Vordergrund jedenfalls standen andere Argumente: die Siedler verst�nden nichts von Landwirtschaft, zum Teil w�rden sie aus diesem Grund ihre B�den wieder heimlich verkaufen - dies war nicht vorgesehen. * Das Dilemma der polnischen Agrarpolitik in Polesien als einem auch f�r polnische Verh�ltnisse unterentwickelten Gebiet lag darin, da� das Vertrauen der ortsans�ssigen Bev�lkerung nur gewonnen werden konnte, wenn ihr handfeste Vorteile geboten wurden. Da aber der junge polnische Staat aufgrund seiner nationalistischen Ausrichtung mit den Minderheiten nicht souver�n und moderat umgehen konnte, da er den Gro�grundbesitzern nicht weh tun wollte und da er selbst die Landwirtschaft eher als Einnahmequelle betrachtete, als da� er an das Wohl seiner Bauern dachte, konnten die politischen Voraussetzungen zu einem Aufbrechen der vormodernen Agrarstruktur nicht geschaffen werden. Die Voraussetzungen zur Erh�hung der Anbaufl�che (extensive Steigerung der Produktion) hatten in Gestalt der Flurbereinigung und der Aufl�sung der Servitute Erfolg, was aber von den Betroffenen anders beurteilt wurde. Die Parzellierung hielt sich in Grenzen. Melioration war beabsichtigt, aber die Aufgabe wuchs der m��ig interessierten polnischen Verwaltung �ber den Kopf. Die Funktion�re vor Ort m�hten sich vergeblich ab, die Einheimischen jedoch blieben der neuen Macht gegen�ber so mi�trauisch wie der alten. Erneuerungen der Agrarstruktur waren - ganz im Gegensatz zu den ostpolesischen Verh�ltnissen - weniger politisch als wirtschaftlich und sozial bedingt,

122vgl. B�rgener 1939:92 123vgl. Marquardt 1936:49 124vgl Tabelle #85 im Anhang

Modernisierungen im demographischen Verhalten, "Regeln" der Markt- und Geld-wirtschaft d�rften auf "unpolitische" Weise �ber Ver�nderungen der geographischen und sozialen Mobilit�t in die bisherige Produktion eingedrungen sein. Dies soll nun untersucht werden.

8.2. DIE AGRARSTRUKTUR IN WESTPOLESIEN 8.2.1. Die Bev�lkerung Der nat�rliche Bev�lkerungszuwachs auf 1000 Einwohner betrug in Westpolesien im Jahre 1923 noch 29,7 und sank bis 1935 wegen der Verringerung der Geburtenrate auf 17,7.125 Damit glichen sich die Werte f�r die Wojewodschaft denjenigen f�r Polen (18,2 im Jahre 1923; 12,1 im Jahre 1935) an. Allein dieser nat�rliche Zuwachs h�tte die Zahl der Bev�lkerung betr�chtlich erh�ht, denn sie stellte ihr Verhalten erst allm�hlich auf die neue Situation ein, da� mehr Kinder �berlebten und da� �berhaupt die Sterblichkeitsrate gesunken war. Die Geburtenrate (Geburten auf 1000 Einwohner) war in den �stlichen Wojewodschaften von 45,7 im Durchschnitt der Jahre 1882/83 �ber 35,3 (1909/12) auf 32,9 (1919/22) gesunken dann aber wieder auf 37,9 (1925/29) gestiegen. Die Todesrate (Tode auf 1000 Einwohner) fiel - wie �berall in Europa - rapide von 31,8 (1882/83) �ber 20,6 (1909/12) und 24,8 (1919/22, zum Teil handelt es sich um die Zeit des polnischsowjetischen Krieges!) auf 17,1 (1925/29).126 Nach diesen Werten h�tte allein der nat�rliche Bev�lkerungszuwachs von 1923 bis 1930 �hnlich wie in Ostpolesien 22,7% betragen m�ssen, bei einer Ausgangszahl von 749.506 Einwohnern (ohne Kreis Sarny) im Jahre 1921 h�tte sich die Bev�lkerung bis 1930 auf 919.703 Einwohner vermehrt. Tats�chlich wurden 1931 aber 1.131.939 Einwohner gez�hlt, �ber 212.000 B�rger mu�ten also, - bei einer konstant angenommenen Bev�lkerungszahl von 1921 bis 1923 - durch einen Einwanderungs�berschu� zustandegekommen sein.

Es ist wichtig herauszubekommen, wo diese 212.000 Einwohner herkamen, da es um diese Frage Auseinandersetzungen gab. Zu einer Einwanderung und schlie�lich einem Einwanderungs�berschu� in die Wojewodschaft Polesien f�hrten zwei Faktoren. Zum einen kehrten die Heimkehrer [repatrianci] in jene Gebiete zur�ck, aus denen sie w�hrend des ersten Weltkrieges evakuiert worden waren. In der polnischen Presse ist keine Textstelle zu finden, in der in Zweifel gezogen wird, da� die Betreffenden wirklich aus Westpolesien stammten. Ihre R�ckkehr wurde nicht in erster Linie damit in Zusammenhang gebracht, da� sie sich in Polen

125Tomaszewski 1963:100 126Rocznik Statystyczny 8(1930):16f

wohler oder freier als in der BSSR oder RSFSR gef�hlt h�tten. Es waren mehr Leute nach Ru�land gefahren als zur�ckkamen, viele waren an Typhus oder auf andere Weise im Krieg gestorben; es hie�, es handele sich um diejenige "Bev�lkerung, die 1915 ausgesiedelt wurde, und derer sich dann nach dem Friedensschlu� in Riga die sowjetische Regierung zu entledigen versuchte, namentlich in der Hungerzeit von 1921"; au�erdem sei im Sowjetgebiet die Hoffnung gehegt worden, da� die Wei�russen und Ukrainer f�r kommunistische Agitation zu gewinnen gewesen seien.127 Diese Hoffnung sei aber entt�uscht worden.128 Die Zahl der R�ckkehrer war nirgends so hoch wie in der Wojewodschaft Polesien: Vom 1.6. bis 31.12.1921 wurden 97.085, im Jahr 1922 noch einmal 60.066 R�cksiedler erfa�t.129 Besonders die westlichen, also die dichter besiedelten Kreise130 verzeichneten hohe Einwanderungsraten (Drahicyn, Pruzany, Brest).131 Die Hauptwelle der Heimkehrer fand sich in den Jahren 1921 bis 1922 ein; "Inoffiziellen Daten zufolge" kamen bis zum 1.1.1924, als 1.070.929 Bewohner registriert waren, insgesamt 190.000 Menschen in die Wojewodschaft, d.h. 21,6% mehr, als 1921 gez�hlt wurden.132

Nach 1924 wurde die Aktion f�r beendet erkl�rt.133 Ein Teil der zun�chst Obdachlosen wurde in Zelten untergebracht134. Von den oben rechnerisch ermittelten 212.000 Einwanderern waren also 160.000-190.000 R�ckkehrer; es bleibt somit ein Einwanderungs�berschu� von rund 45.000 bis 15.000 Menschen. Von diesen Einwanderern wurde nur die Milit�rsiedlung, nicht aber die "zivil" aus Polen gekommenen Neusiedler statistisch erfa�t: bis 1933 wurden 1100 Stellen f�r die osadniki eingerichtet. Geht man von je rund 5 Familienangeh�rigen aus, so wird klar, da� selbst dann die Einwanderung aus dem Osten bedeutender war. Dies spiegelt sich auch darin wider, da� 1931 in der Wojewodschaft nur 56.202 Katholiken mehr als 1921 gez�hlt wurden - und selbst dieser Zuwachs war zum Teil durch Konvertierung, nat�rlichen Zuwachs oder vielleicht auch F�lschung zustandegekommen.

Beide Einwanderungsbewegungen waren also 1926 nahezu abgeschlossen. Und

127Bienkiewicz 1927:32 128Bienkiewicz 1927:33 129Rocznik Statystyczny 2(1924):29; Bor'ba trudjasciesja I #17, S.52 130siehe Tabelle #77 im Anhang 131Alles Bienkiewicz 1927:32 132Niezbrzycki 1930:303, bezieht sich auf Bienkiewicz 1927 S.32; vgl. Ormicki 1929:77 133vgl. Rocznik statistyczny 8(1930):29; Maly rocznik statystyczny 10(1939):52 134Bild in Bienkiewicz 1927:34

1931 erst wurde in Westpolesien die Bev�lkerungsdichte von 1897 erreicht, die damals 33,6 Einwohner/V� betragen hatte - eine Tatsache, auf die in dem Schrifttum nicht hingewiesen wird. Die b�uerliche Wirtschaft Polesiens war also nicht aus diesem Grund einem st�ndig steigenden Druck ausgesetzt. Die Wojewodschaft war aber auch in Zukunft als ein Einwanderungsland vorgesehen, da die "agrarische �berbev�lkerung" in anderen Regionen Polens, insbesondere in Galizien, noch drastischer war. "500.000 Menschen k�nnen noch aufgenommen werden", wurde 1926135 verk�ndet. Die Ortsans�ssigen waren ob solcher Aussichten nicht begeistert. Auch hierdurch wurde vielleicht ein psychologisches Klima geschaffen, durch das die Bauernschaft gegen Flurbereinigung, Landvermessung und auch Melioration eingestellt war, vielleicht verfocht sie die uralte Strategie, das eigene Land (aus Angst vor Steuereintreibern und Kriegern) m�glichst unattraktiv auf andere wirken zu lassen.

Gab es auch Auswanderungen aus Polesien? Spektakul�re Berichte gibt es dar�ber nicht. Die Zahlen der offiziell aus der Wojewodschaft Polesien Ausgewanderten betrug: Jahr 1925 1926 1927 1928 1929 Auswanderer 2041 2907 3768 5142 5984136 Ein bedeutender Teil der Auswanderer - 1929 z.B. 1818 Menschen - war mosaischen Glaubens, also Bewohner von St�dten und Stetln. Wanderziel war bei den Orthodoxen - anders als bei den Polen aus Polen - fast ausschlie�lich �bersee, und zwar haupts�chlich Nord- und S�damerika (1929: 3836 von 3854 Auswanderern).137 In den 30er Jahren ging die Auswanderung aus Polen insgesamt wegen der Beschr�nkungen der Einwanderungsl�nder rapide zur�ck.138 In dieser Zeit blieb auch die Auswanderung aus Polesien ohne Bedeutung. Von 1927 bis 1938 wanderten insgesamt 29.200 Menschen aus der Wojewodschaft aus, darunter 18.200 in die L�nder Argentinien, Kanada und USA sowie 4.600 nach Pal�stina.139 Keine Zahlen gibt es jedoch �ber Wanderungen in andere zu Polen geh�rende Wojewodschaften. Die Auswanderung wird von Tomaszewski140 als logisches Ergebnis der l�ndlichen �berbev�lkerung nur behauptet, aber nicht belegt. Wenn jemand wegging, verkaufte er seinen Boden nicht, sondern �berlie� ihn Verwandten, besonders dann, wenn sie zu seinen Emigrationskosten (Schiffsreise) Geld beigesteuert hatten141. Die Rede ist zuweilen von R�ckkehrern aus Amerika: "Es

135Bienkiewicz 1927:49l 136Rocznik statystyczny 1930:33 137ebd. 138Landau 1986:115 139Maly rocznik statystyczny 10(1939):54 140Tomaszewski 1963:113 141Tomaszewski 1963:113

gibt wohl nicht ein Dorf, in dem es nicht einen Reemigrant aus Amerika gab, der nicht eine h�bsche, breite und hygienische H�tte aufgerichtet h�tte."142 Ungeachtet dessen, da� die 51,1%ige Erh�hung der Bev�lkerungszahl zwischen 1921 und 1931 nur den Vorkriegsstand wiederhergestellt hatte, stellte sich wieder das Problem, wie diese Menschen mit Nahrung, und das hie� mit Boden versorgt werden konnten.

8.2.2. Die Grundbesitzstruktur Zur Entwicklung der Struktur des Grundbesitzes in Westpolesien gibt es im wesentlichen Daten aus den Jahren 1921 und 1931. W�hrend f�r 1921 die Werte der Volksz�hlung entnommen sind, gibt es f�r 1931 au�er den aus dem Zensus gewonnenen Zahlen diejenigen einer Agrarstatistik [Statystyka Produkcji Rolnej; in dieser Arbeit als "rejestracja" gef�hrt] aus dem gleichen Jahre.143 Da es in Polen nicht einen solch tiefen Einschnitt in die Agrarstruktur gegeben hatte, konnten sich zun�chst die Vorkriegsverh�ltnisse behaupten. Der Gro�besitz verf�gte weiterhin �ber seine zum Teil riesigen Latifundien, die sich zum Gro�teil aus W�ldern und S�mpfen zusammensetzten144. Die allergr��ten L�ndereien in Westpolesien besa� Karol Radziwill: von seinem 142.250,38 Desjatinen gro�en Besitz galten allerdings nur 1481 Desjatinen als Ackerland, und auch zusammen mit Wiesen und Weiden machte es nur 7567 Desjatinen aus.145. Die Gutsherren wolten allerdings m�glichst viel Land als Wald und �dland ausweisen, damit es nicht bei der Landaufteilung in Rechnung gestellt w�rde. Den Gro�grundbesitzern ging es nicht immer pr�chtig. Radziwills Gut Agarkowa gelangte bei einem Zwangsverkauf f�r einen Spottpreis an die Wittgensteins.146 Aus einer Gegen�berstellung der Werte von 1921 und derjenignen von 1931 (Tabelle #41) lassen sich die Ver�nderungen der Grundbesitzstruktur ablesen.

142Marczak 1935:31; Tomaszewski 1963:113 143falls in diesem Jahre keine Daten erhoben werden konnten, wurde f�r die Agrarstatistik auf entsprechende Statistiken von 1930 oder 1934 zur�ckgegriffen [Grodzicki 1936a:4]; diese Statistik scheint mir die zuverl�ssigere f�r 1931 zu sein; in ihr ist die Vergleichbarkeit mit den Daten von 1921 hergestellt worden, indem die Ausgliederung des Kreises Sarny ber�cksichtigt, der st�dtische Grundbesitz ausgeklammert wurde u.�. Dennoch seien mehrere Angaben �ber die Grundbesitzstruktur nebeneinandergestellt, auch um zu zeigen, welch gro�e Unterschiede sich ergeben; vgl. aber auch Horak 1979:136, welche Gruppen wieviel Boden in Polesien besa�en 144Bienkiewicz 1927: 38;Grodzicki 1936a:18-20; vgl. vgl. Tabelle #81 im Anhang 145Bor'ba trudjasciesja I #39, S.76; Dokument vom 28.2.1925; vgl. B�rgener 1939:85 146Bienkiewicz 1927:38

Tabelle 41: Grundbesitzstruktur in Westpolesien, 1921 und 1931

������������������������������������������������������������������ �A. Die Grundbesitzstruktur in der Wojewodschaft Polesien 1921 �Spalte 2: nach Tomaszewski 1963:98; Mieszczankowski 1961:185 mit � Sarny ; �Spalte 3: Prozentualer Anteil an den H�fen bis 50 ha Landbesitz �Spalte 4: Prozentualer Anteil an allen H�fen �Spalte 5: dieselben Quellen; mit Sarny; Fl�che in ha �Spalte 6: Prozentualer Anteil an den H�fen bis 50 ha Landbesitz �Spalte 7: Prozentualer Anteil an allen H�fen �Spalte 8: Bor'ba I#13S.46f; Rocznik St. 1927:108f; Ludkiewicz 212 �Spalte 9: Prozentualer Anteil an den H�fen bis 50 ha Landbesitz � 1 2 3 4 5 6 7 8 9 �Hofgr��en H�fe % % Fl�che % % H�fe % � 0- 1 ha 6551 5,5 � 0- 2 ha 22209 2 0,70 0,0 � 1- 3 ha 22848 19,4 � 0- 3 ha 35790 25 25,27 0,0 � 2- 5 ha 165667 16 5,20 0,0 � 3- 5 ha 31980 23 22,58 26375 22,3 � 5- 10 ha 44475 32 31,40 320317 30 10,05 37260 31,6 � 10- 20 ha 21658 15 15,29 296859 28 9,31 18817 15,9 � 20- 50 ha 6703 5 4,73 192464 18 6,04 6190 5,2 �� 0- 50 ha 140606 100 99,27 997516 100 31,29 118041 100,0 � 50-100 ha 829 0,59 54892 1,72 � >100 ha 1027 0,73 2190226 68,71 �500-1000 ha 107 0,08 73000 2,29 � >1000 ha 250 0,18 1497000 46,96 �Summe 141633 100,00 3187742 100,00 �Ohne Angabe 619000 �Summe 3806742

�B. Die Grundbesitzstruktur in der Wojewodschaft Polesien 1931: �Spalte 2: spis Tomaszewski 1963:98; Mieszczankowski 1961:185 �Spalte 3: Prozentualer Anteil an den H�fen bis 50 ha Landbesitz �Spalte 4: rejestracja Grodzicki 1936a:15 mit St�dten �Spalte 5: Prozentualer Anteil an den H�fen bis 50 ha Landbesitz �Spalte 6: rejestracja Grodzicki 1936: S.17+33 ohne St�dte �Spalte 7: Prozentualer Anteil an den H�fen bis 50 ha Landbesitz �Spalte 8: Prozentualer Anteil an allen H�fen �Spalte 9: spis 1931 RZW 1938:11; Grodzicki 1936:16 �Spalte 10: Prozentualer Anteil an den H�fen bis 50 ha Landbesitz �Hofgr��en 2 3 4 5 6 7 8 9 10 � in ha H�fe in % H�fe in % H�fe in % in % H�fe in % � 0- 1 12238 6 8250 4 3,97 � 0- 2 22080 14 � 1- 3 42129 20 42651 21 20,52 � 0- 3 57364 25 � 2- 5 58216 38 � 3- 5 54234 24 48148 23 48489 23 23,33 � 5- 7 34475 17 16,59 � 7- 10 32093 15 15,44 � 5- 10 72918 32 65859 31 47592 31 � 10- 15 22277 11 10,72 14792 10 � 15- 20 9516 5 4,58 � 10- 20 34206 15 31299 15 � 20- 30 6643 3 3,20 � 30- 50 2932 1 1,41 � 20- 50 10109 4 9432 5 � 15- 50 10730 6 �unbekannt 15004 �� 0- 50 228831 100 209105 100 207326 100 99,75 168414 100 �� 0-100 208040 � >100 634 � > 50 633 � 100- 200 245 � 200- 500 215 0,10 � 500-1000 112 0,05 � 1000-2000 87 0,04 � 2000-5000 71 0,03 �5000-10000 28 0,01 � > 10000 16 0,01 ��������������������������������������������������������������ͼ

Die Gro�grundbesitzer hatten im Jahre 1931 folgende Fl�chen inne: Tabelle 42 ����������������������������������������������������������������ͻ [Grodzicki 1936a:33] Hofgr��e Anzahl der H�fe Fl�che in ha 100- 200 ha 245 34308 200- 500 ha 215 68662 500- 1000 ha 112 79093 1000- 2000 ha 87 119094 2000- 5000 ha 71 222204 5000-10000 ha 28 187502 > 10000 ha 16 613245 � > 100 ha 634 1371163 ����������������������������������������������������������������ͼ

Die 184.629,7 ha Land, die bis 1933 parzelliert worden waren, wirkten sich mit rund 5% der Gesamtfl�che der Wojewodschaft wenigstens signifikant auf die Grundbesitzverteilung aus. Die langsam durchgef�hrte Bodenreform konnte jedoch einer Verkleinerung der durchschnittlichen Hofgr��e nicht entgegen wir-ken, weil ja die Bev�lkerung der Wojewodschaft von 1921 bis 1931 von 770.000 auf 1.100.000 Einwohner angestiegen war, die auf 118.000 (1921) bzw. 212.800 (1933) H�fen lebten147. Wie schon in der Vorkriegszeit reichte eine Verkleinerung der Fl�chen des Gro�grundbesitzes nicht dazu aus, den Landhunger auch nur auf gleicher Stufe zu halten. Eine nach den geltenden Bestimmungen wirklich durchgef�hrte Umverteilung des Bodens h�tte die Besitzstruktur bedeutend verbessert. Anfang der 20er Jahre wurde z.B. folgende Rechnung aufgestellt: von den 3926.546 ha Land der Wojewodschaft seien 1136.546 ha bei einer Bodenreform zu ber�cksichtigen, von denen 470.487 ha Wiesen, Weiden und S�mpfe und 665.771 ha Ackerland seien. "Auf diese Fl�che haben ca. 145.000 H�fe Anrecht", von denen ein Teil noch Servitute nutzen k�nnte.148 So aber mu�ten die landarmen Bauern hart um ihr t�glich Brot k�mpfen. Diejenigen Bauernfamilien, die unter 10 ha Boden besa�en, hatten zwar z.T. genug Land: es handelte sich aber durchschnittlich nur um 50 - 60% Ackerland,149 und wenn man bedenkt, da� ein Teil des Ackerlands brachlag, so wird offensichtlich, da� die �rmere Bev�lkerung entweder hinzupachten mu�te oder wie seit eh und je Nebenbesch�ftigungen nachgehen mu�te.

Die Sitte der Realerbteilung wurde auch beibehalten, so da� nach den Parzellierungen im Erbgang in manchen Familien bald kaum Land �brigblieb. In dem Dorf Cudzin hatte sich z.B. von 1861 bis 1931 die Bev�lkerung vervierfacht, die Hofzahl war in diesem Zeitraum von 40 auf 248 gestiegen. Manche H�fe besa�en nur noch 1/48 des urspr�nglich 1861 erhaltenen Anteillands [nadel], d.h. unter 0,5 ha; 19 Familien waren landlos. Manche Familien konnten nur deshalb Getreide f�r die neue Saat behalten, weil sie sich haupts�chlich von Kartoffeln ern�hrten.150

Auch die Fl�chen der Landg�ter waren von 1921 bis 1931 kleiner geworden: 250 H�fe hatten 1921 noch �ber 1000 ha Land besessen und 47% der gesamten Fl�che der Wojewodschaft unter sich aufgeteilt; aufgrund von Verkauf und Parzellie

147Polujan 1978:22 148Bienkiewicz 1927:49r 149Grodzicki 1936a:18-20; vgl. Tabelle #81 im Anhang 150Tomaszewski 1963:97

rung hatten im Jahr 1931 aber 202 solcher H�fe nurmehr ein Drittel der Fl�che inne. Oder: 1921 besa�en unter 1% der H�fe (mit mehr als 50 ha) 68,7% der Fl�che, 1931 nur noch �40%. F�r die Bauernfamilien war dies jedoch kein Trost. Die Grundbesitzstruktur blieb milde gesagt "ungesund", dies wollte eigentlich niemand bestreiten. Auf dem Lande existierten zwei Schichten - eine d�nne Schicht von Grundherren und die breite Masse der Bauernschaft, deren Mehrheit unter 4 ha Ackerland plus 3 ha sonstigem Land besa�en, wovon sie sich schlecht oder nicht ern�hren konnten. Eine gro�b�uerliche Mittelschicht, eine Schicht von Kulaken im eigentlichen Sinne des Wortes hatte sich nicht herausgebildet. Selbst jene H�fe, die 15 - 50 ha besa�en, nahmen nur zu 11,6% Arbeitende auf ihrem Hofe an.151 Sie sind daher als mittelb�uerlich, nicht als gro�b�uerlich zu bezeichnen.152

Aus den Tabellen ergibt sich, da� die Grundbesitzstruktur sich nicht verbessert, aber auch nicht verschlechtert hatte. Nach wie vor nannten 25% der H�fe unter 3 ha ihr eigen und ca. 48% besa�en unter 5 ha. Bei steigender Hofzahl gab es eine Fl�che von rund 500.000 ha, die an die neuen Stellen nur vom Staat oder dem Gro�grundbesitz gekommen sein konnte.

Die Bauernfamilien verhielten sich durchaus traditionell, wenn sie den Mehrbedarf an Nahrung durch eine Vergr��erung der Besitz- (und Pacht)fl�che und damit bald auch der Anbaufl�che befriedigen wollten, statt zu intensivieren. Ebensowenig waren sie bereit, den neuen Mitb�rgern aus Ost und West etwas von ihrem sp�rlichen Land zu verkaufen. Wir werden allerdings herausarbeiten m�ssen, ob die stark gewachsene Fl�che, die vom Kleinbesitz gehalten wurde, auch entsprechend mehr bes�t wurde.

8.2.3. Genossenschaften Da eine Einzelfamilie in Bedr�ngnis kommen konnte und da viele H�fe verschuldet waren, liegt die Frage nahe, ob sich nicht Bauern zu Genossenschaften zusammenschlossen. Die Wei�russen oder die autochthone Bev�lkerung stellten nur in geringem Ma�e Genossenschaften auf die Beine153. Es gab nur wenige Anzeigen von Genossenschaften in wei�russischen Zeitschriften. Eine wei�russische Bienengenossenschaft gab es in Vilnius.154 Es ist schwer zu sagen, wie repressiv der polnische Staat gegen Versuche von Seiten der Wei�russen zur Gr�ndung

151Zahlen nach dem Zensus von 1931; vgl. RZW 1938,S.12 152Mieszczankowski 1961:186 153vgl. auch Horak 1979:152; im Rocznik Statystyczny bleiben sie unerw�hnt 154Naperad! 2(29.1.1930),N�3,S.4

von Genossenschaften vorging. Nach Kaval' wurde die Zentrale der wei�russischen Kooperativen in Polen 1923 zerschlagen.155 Einige Impulse gingen "von oben" aus: 1925 "verbanden sich die existierenden Landwirtschaftsgesellschaften und bildeten die Rada Wojew�dzka Towarzystw Rolnicznych mit Sitz in Brest"; das Landwirtschaftsministerium half. "Es wurden keinerlei Unterschiede zwischen Gro�- und Kleinbesitz gemacht"; es herrschte der "Grundsatz, da� es nur eine Landwirtschaft gibt und da� nur die vereinte Arbeit der Bauern und Grundherren" "das Niveau der Landwirtschaft heben kann"156. Zusammenschl�sse wurden immer wieder aus der Taufe gehoben, aber sie fanden keine gro�e Verbreitung. Ende 1928 gab es in Polesien 29 Molkerei- und Eier, 21 landwirtschaftliche Handels- und 2 weitere landwirtschaftliche Genossenschaften. �hnlich wie in der BSSR in den 20er Jahren beteiligte sich die Bev�lkerung fast ausschlie�lich an Kredit- (176) und Konsumgenossenschaften (56)157. 1932 wurde z.B. erneut ein Anlauf gemacht; es wurde eine Milchgenossenschaft in Motol und eine Meliorationsgenossenschaft in Brasevicy geschaffen. Hier sollte "gleicherma�en der kleine und der gro�e Grundbesitz, die Eingeborenen und die Neusiedler" mitwirken. Andere geplante Gesellschaften "wurden bedauerlicherweise aus Kapitalmangel nicht verwirklicht"158.

8.2.4. Die Einbindung in die Geldwirtschaft In der Zeit bis 1929 schuf die M�glichkeit, sich mit Gelegenheitsarbeiten Geld zu verdienen, f�r das polesische Dorf eine neue Situation. Es war geteilter Meinung, wie diese neue Situation zu bewerten sei. F�r die junge Generation war es faszinierend und verlockend, die Alten waren dagegen. Mit der Krise in den 30er Jahren verringerte sich wieder die M�glichkeit zur Lohnarbeit, und die alten Zust�nde traten wieder ein.159 Das Vertrauen der polesischen Bev�lkerung, die zum gro�en Teil noch nicht weit herumgekommen war, in die polnische W�hrung konnte in den ersten Jahren aufgrund der Inflation bestimmt nicht geweckt werden. Die Regierungen des polnischen Staates sahen seit seiner Entstehung in der Bedienung der Notenpresse eine M�glichkeit, den Staatshaushalt vor dem Bankrott zu bewahren. Die Papiergeldmenge war schon von Ende 1918 bis Ende 1921 auf das 229fache erh�ht worden und nahm bis 1923 kaum noch fa�bare Ausma�e an. Erst als Grabski stabilisierende Ma�nahmen ergriff und am 14.4.1924

155Kaval' 1953:48 156Bienkiewicz 1927:39 157Vierteljahrshefte f�r polnische Landwirtschaft 1929/30:83 158Marczak 1935:39 159Obrebski 1936:432

eine W�hrungsreform (1.800.000 Mark gegen 1 Zloty) durchgef�hrt wurde, stabilisierte sich die W�hrung.160 F�r Menschen wie die Poleschuken, die keine M�glichkeit hatten, erspartes Geld n�tigenfalls schnell und sinnvoll zu verwerten, wird der Schock der Inflation so tief gesessen haben, da� sie bis 1939 Vertrauen allenfalls in den Dollar161, aber eigentlich kaum mehr in irgendwelche Kreditw�hrung besa�en, so sehr die Deflationspolitik der Regierungen seit 1924 auch ihren Zweck erf�llt haben mag. Als kurzfristig umlaufendes Zahlungsmittel wurde der Zloty zwar unabwendbarerweise angenommen, als best�ndige Geldanlage akzeptierten die polesischen Bauern aber nur Kurantgeld, konkret: den Goldrubel162. Er kursierte weiter, seine Wechselkurse wurden in der Zeitschrift Polesie angegeben.163

Besser bewertbar erschienen den Einheimischen Tauschhandelsgesch�fte, und deshalb wurden sie auch die ganze Zwischenkriegsperiode hindurch in Polesien - haupts�chlich in den �stlichen Kreisen164 - praktiziert, sei es nun der Handel Ware gegen Ware, Ware gegen Dienstleistung oder Ware gegen Arbeit; konkret ging es bei gr��eren Transaktionen um Boden gegen Tiere oder Tiere gegen Tiere165. Die Jahrespacht f�r ein Haus galt als 5 pud Roggen gleichwertig166. So wurde z.B. das Abholzen von 1 m3 Baum mit 20 funt Hafer aufgewogen167. Wodka wurde f�r Pfl�gen "bezahlt". Es hatte sich eine Roggenw�hrung herausgebildet: alles wurde in das Grundma� 1 funt Roggen umgerechnet und dann bewertet. Gewi�, der Roggen unterlag damals noch starken jahreszeitlichen Preisschwankungen, aber der Hunger der Menschen schwankte nicht so stark: den polesischen Familien war es wichtiger zu wissen, wieviel sie f�r Arbeit, Dienstleistungen oder andere Waren an Nahrung bekamen, als wieviel Geld sie bekamen. Der polnische Staat hatte zwar ein gro�es Interesse sowohl an einer gr��eren Einbindung der Bauernfamilien in die Geldwirtschaft allgemein, als auch an einer Einbindung speziell in die Zloty-W�hrung; denn nur so war eine Besteuerung sinnvoll durchzuf�hren. Aber sie setzte sich, wie oben beschrieben, nicht durch. Selbst die �rtlichen staatlichen und halbstaatlichen Organe gingen manchmal auf Roggenw�hrung �ber: so warb ein Fortbildungsseminar f�r Landwirtschaft um Teilnahme an einem 1�j�hrigen Kurs; wer das angegliederte Internat nutzen

160Roos �1964:109f 161Bienkiewicz 1927:45 162vgl. Bienkiewicz 1927:45; Tomaszewski 1963:78 163Polesie, Jahrg�nge 1928 und 1929 164Mondalski 1927:219 165Bienkiewicz 1927:45 166Tomaszewski 1963:74 167Tomaszewski 1963:76

wollte, hatte als Kursgeb�hr "monatlich 100 kg (6 pud) Roggen bzw. den entsprechenden Wert" zu entrichten168,169. Die zweitwichtigste Naturalw�hrung nach dem Roggen wurde der Wodka. Denker und Schreiber bezeichneten dies als verwerflich und gef�hrlich, weil es den Alkoholismus f�rderte: "Die Trunksucht ist weit verbreitet, wozu in bedeutendem Ma�e die Tatsache beitr�gt, da� die die W�lder ausbeutenden Firmen und Industrieunternehmen die Bauern sehr oft mit Wodka auszahlen"171.

8.2.5. Siedlungsform und Flurverfassung In der Literatur �ber Westpolesien in der Zwischenkriegszeit sind zwei auf den ersten Blick widerspr�chliche �u�erungen zur Siedlungsform zu finden. Die einen betonen, da� die Hauptsiedlungsform das Stra�endorf sei, welches die Poleschuken ungern verlassen, auch wenn es eine wirtschaftlich unrationelle Dorfform sei; "Der polesische Bauer ist so stark mit seinem Stra�endorf verbunden, da� selbst die sporadischen Feuersbr�nste ihn nicht von dieser Form dicht beieinanderstehender H�user abschrecken"172. Auch Mondalski173 spricht von Stra�end�rfern; allerdings sollen sie nur n�rdlich der Prypjac' �berwogen haben, und die H�user sollen auch nicht dicht beieinander gestanden haben, sondern, ganz im Gegenteil, stark voneinander abgeschieden gewesen sein; im S�den sei �berhaupt keine vorwiegende Dorfform erkennbar174. Ossendowski erkennt keine Ordnung175. Andere meinen, die Chutorwirtschaft habe vorgeherrscht, was sich auf die b�uerlicher Psyche als Eigenbr�dlerei auswirke. Aus dem statistischen Material lassen sich die D�rfer nach Gr��enklassen zusammenfassen. Aus den Werten der Volksz�hlung von 1921 ergibt sich f�r den beispielhaft herausgegriffenen Kreis Pinsk (Tabelle #43) ergibt sich, da� zwar 26% der Orte nur bis zu 25 Einwohnern hatten (das entspricht rund f�nf Familien), da� aber in diesen Orten nur etwa 1.600 Menschen lebten (in Orten bis zu 50 Einwohnern insgesamt nur 5.000). �ber die H�lfte der Einwohner des Kreises wohnten in D�rfern mit 200 - 700 Einwohnern. Es l��t sich aus den Werten auch keine Dichotomie hier Chutor, dort gro�es Dorf ausmachen. Ehemalige Meierh�fe [folwark] hatten sich selten zu gr��eren Siedlungen entwickelt: von den 87 folwark-Siedlungspunkten wiesen nur 4 mehr als 9

168Ziemia pinska 2(25.9.1927) N� 19-20, S.16 1691923 wurde in Deutschland in Bankierkreisen diskutiert, der Inflation mit einer Roggenw�hrung Herr zu werden [vgl. Henning,: Das industrialisierte Deutschland 1914 bis 1978, 51979:77] 171Niezbrzycki 1930:296 172Boyd 1936:387; f�r Ostpolesien behauptet dies Titov 1983:139 173Mondalski 1927:214 174Zaborski in Ziemia laut Mondalski 1927:214 175Ossendowski 119f

Tabelle 43 Dorfgr��en im Kreis Pinsk, 1921 ����������������������������������������������������������������ͻ [Skorowidz VIII 1924, S.43-51] Einwohner Zahl der in % Einwohner Zahl der in % pro Ort Orte aller Orte pro Ort Orte aller Orte 1- 10 59 12,7 601- 700 17 3,7 11- 25 62 13,3 701- 800 12 2,6 26- 50 34 7,3 801- 900 6 1,3 51- 100 45 9,7 901-1000 4 0,9 101- 200 52 11,2 1000-1200 4 0,9 201- 300 66 14,2 1200-1400 0 0,0 301- 400 46 9,9 1400-1600 3 0,6 401- 500 36 7,7 Summe D�rfer 465 100,0 501- 600 19 4,1 �ber 1600 3 �ber 1600 Einwohner umfa�ten dann noch die Stetl Serniki (2837 Einwohner), Lohyszyn (2984) und Pinsk (23468) als Kreishauptstadt ����������������������������������������������������������������ͼ

Geb�ude auf176. Die Flurbereinigung wurde so durchgef�hrt, da� neue Chutorwirtschafen ent-standen.177 In den drei nord�stlichen Wojewodschaften Polesien, Navahrudak und Vilnius zusammen wurden dadurch von 1923-28 37.000 neue Einzelh�fe, von 1929-1938 222.000 Einzelh�fe geschaffen.178 Eine Chutorwirtschaft in Polesien zu f�hren, das hie� nach wie vor, auf sich allein gestellt zu sein: An zwei Seiten ein Flu�, an einer dritten ein Staatswald - "so ist unser chutor gelegen, der chutor Horeglad�w".179

Obwohl die Flurbereinigungen beachtliche Gebiete umfa�t hatten, blieben die Flure gr��tenteils in ihrer die Verwaltung unbefriedigenden ungeordneten Lage. "Einen Restbestand der Nach-Leibeigenschafts-Periode, als sich die Bauern Parzellen unter den grundherrlichen Hoffl�chen [obszar dworski] ausw�hlten, stellt das bei jedem Schritte anzutreffende Sich-Einschneiden von b�uerlichen �ckern in W�lder und grundherrliche Weiden dar, was wiederum einen negativen Einflu� auf die Wald- und Wiesenwirtschaft hat".180 Ein Drittel der H�fe hatte seine B�den in 6 bis 10 Parzellen verteilt, von denen manche �ber 10 km vom Hof entfernt lagen; bei einem Achtel der Wirtschaften verteilten sich die B�den sogar auf 11 bis 20 oder noch mehr Stellen. "Unter solchen Bedingungen ist es schwer, an eine ordentliche [prawidlowy] Fruchtfolge, starke D�ngung usw. �berhaupt nur zu denken."181

176Berechnet nach Skorowidz 1924: 43-51 177Marczak 1935:31f 178Polujan 1978:21 179Polesie 30.9.28, Heft 9, S.6 180Niezbrzycki 1930:309 181Rolnictwo na Polesiu In:Polesie 1(5.8.28),Nr.1, S.4

8.2.6. Die materielle Lage der Landbev�lkerung Die Armut dr�ckte sich in Polesien nicht wie sonst in Polen als Preisschere zwischen billigen Agrar- und teuren Industrieprodukten aus. Diese Schere war zwar im abseits liegenden Polesien wegen der hohen Frachtraten und der nicht vorhandenen Industrie besonders gro�. F�r die Bauernfamilien war dies aber insofern nicht so schlimm wie f�r die Bauernschaft anderer Gebiete des damaligen Polen, weil noch ein hohes Ma� an Autarkie bestand und durch die geringe Warenquote (Marktquote) die Abh�ngigkeit von der Geldwirtschaft gering geblieben war.

Aus der Grundbesitzstruktur l��t sich ersehen, da� die materielle Lage f�r die betr�chtliche Zahl der Ackerlandarmen nicht gerade rosig ausschaute. Der Wojewode W.Kostak-Biernacki, sonst nicht gerade zimperlich, beschrieb in einem vertraulichen Brief, durch den er bescheidene Subventionen f�r Polesien erbat, da� die Armen vor Ende Juli "gemahlene Rinde, Wurzeln und Peitzker" ��en. Und "jeder Zloty von staatlicher Seite ist eine polnische Propaganda", weil wenig Geld schon viel helfe.182

Nicht wenige Bauernfamilien hungerten, besonders in der Zeit von 1929-1935. "Der Hunger hilft den Bolschewiken", so schrieben diejenigen, die Polesien modernisieren wollten; daher m�sse der Staat den materiellen Standard der Bev�lkerung heben183. Die elende Armut184, die in den sp�ten 30er Jahren auch in anderen Teilen Polens herrschte, war allgegenw�rtig, aber es verhungerte kurzfristig niemand - jedenfalls ist dar�ber nichts zu lesen. Die Bettelei war gut organisiert und hatte schon eine lange Tradition185. * Die in Westwei�ru�land herrschende Gesellschaftsstruktur wurde einmal von Bronisla� Taraskevic im sejm als "Leibeigenschaft [panszczyzna] in der vollen Bedeutung dieses Wortes"186 bezeichnet; weiterhin verstand es der Magnat Radziwill, Dorfvorsteher nach seinem Willen einzusetzen. Wenn Taraskevic auch Elemente der Leibeigenschaft und der St�ndegesellschaft mit dieser selbst verwechselte, so zeigte doch eine unmoderne und ungesunde Agrarstruktur, Ausdruck einer unzureichend reformierten Agrarverfassung, ihre konservierende Wirkung auf Verfassung und Gesellschaft. Die Kreise schlossen sich. Dennoch konnten im 20. Jahrhundert durch solche Herrschaftsmethoden keine stabilen Verh�ltnisse mehr geschaffen werden.

182Tomaszewski 1963:95; vgl. Tomaszwewski 1985b:94 183Ziemia pinska 16.1.28, Heft 2, S.2 184vgl. Marczak 1935:35 185Tomaszewski 1963:109f 186Poslowie rewolucyjne 1961:285, #50, 16.11.1926

8.3. DIE B�UERLICHE PRODUKTION UND ARBEIT Was, wie und wieviel produzierten die B�uerinnen und Bauern angesichts dieser Verh�ltnisse? Betrachten wir zun�chst die einzelnen Bereiche der b�uerlichen Wirtschaft und dann allgemeine Ver�nderungen im Arbeitsleben.

8.3.1. Anteile einzelner Bodennutzungsarten Ob die Ackerbaufl�che ausgedehnt wurde, davon k�nnen die Statistiken nur ein ungef�hres Bild geben; denn die Statistiker waren auch in Westpolesien bei der Festlegung dessen, was z.B. "�dland" sei, ziemlich willk�rlich, wozu ihnen die schwer registrierbare Sumpflandschaft ja Gelegenheit genug bot. So wurde der �dlandanteil 1924 mit 556.518 ha von 42.286km� oder 13,2% beschrieben, 1930 sollen es viel mehr, n�mlich 786.000 ha von 39.580 km� oder 19,9% gewesen sein. Nicht ganz so unterschiedlich waren die Angaben dar�ber, wie gro� die Landbaufl�che war, sie schwankten zwischen 22 und 24%.187,188,189 Der Ackerbau reichte weiterhin nicht zur Selbstversorgung der Bev�lkerung aus. Um wenigstens ihre Versorgung mit Ackerbauprodukten sicherzustellen, mu�ten bei steigender Einwohner- und Hofzahl mehr Menschen mehr Fl�chen - haupts�chlich mit Getreide - bes�en. Dies wurde auch getan: wurden im Wirtschaftsjahr 1924/1925 in der Wojewodschaft 348.800 ha bes�t, so waren es 1932-1936 durchschnittlich 555.500 ha. Dies stellt einen noch gr��eren Anstieg der Anbaufl�che als der Bev�lkerung dar. Die Bev�lkerung zeigte also das typische Verhalten, bei einer Wahl zwischen Ausdehnung der Saatfl�che und Intensivierung der Wirtschaft die erste M�glichkeit zu w�hlen. Aber auch diese 555.500 ha Saatfl�che machten nur 68,2% der als Ackerbaufl�che ausgewiesenen B�den aus (die 22% aus den oben auf dieser Seite angef�hrten Statistiken entsprechen 806.696 ha im Jahr 1931). Dieser Wert verleitet dazu, von einer Verbreitung der klassischen Dreifelderwirtschaft mit Schwarzbrache auszugehen, bei der ja 66,7% der Fl�che bes�t sind. Fl�chenbesitz, der nicht zum Ackerbau geeignet war, wurde aber nicht etwa als geringwertig angesehen. Dies ergibt sich auch daraus, da� auch kleine Wirtschaften immerhin verh�ltnism��ig viel Wald besa�en. W�lder wurden als Reichtum angesehen. "Die Landwirtschaftsprodukte sind im allgemeinen nicht zur Ern�hrung der Bev�lkerung ausreichend,

187Bienkiewicz 1927:38 Niezbrzycki 1930:gibt 24% an, aus dem Rocznik statystyczny 1930 lassen sich 22,1% errechnen 188Vierteljahreshefte f�r polnische Landwirtschaft 19: sagen 27% 189vgl. Tabelle #80 im Anhang

Tabelle 44 Saatfl�che in der Wojewodschaft Polesien nach angebauten Pflanzen ����������������������������������������������������������������ͻ Spalte 2,4: Saatfl�che in ha, mit Sarny [Bienkiewicz 1927:52] Spalte 4: Saat dt/ha Spalten 3,6,8: in % Spalte 5: Saatfl�che in ha, mit Sarny [Rocznik Statystyczny 1930] Spalte 7: Saatfl�che in ha, ohne Sarny [RZW5(1939):13] 1 2 3 4� 5 6� 7 8 Getreideart 1924/25 % � 1929 % � 1938 % a) Roggen 184700 53,0 1,4� 329200 52,4� 286600 48,9 b) Weizen 7200 2,1 1,4� 17200 2,7� 24900 4,3 c) Gerste 23500 6,7 1,4� 45900 7,3� 37000 6,3 d) Hafer 74100 21,2 1,4� 78400 12,5� 96200 16,4 e) Kartoffeln 59300 17,0 16 � 157400 25,1�.141100 24,1 Summe 348800 100,0 � 628100 100,0� 585800 100,0 ������������������������������������������������������������������

so da� sie auch in der Zeit vor der Ernte st�ndig hungert, wenn sie nicht eine zus�tzliche Besch�ftigung bei der Ausbeutung des Waldes findet".190 Dennoch war das Ackerland f�r die Bauernschaft wichtiger.

8.3.2. Der Landbau Es gibt sehr widerspr�chliche Angaben dar�ber, welche Ger�te verwandt wurden, man verallgemeinerte schnell. "Der eigentliche Pflug wird heute fast �berall in Anspruch genommen, wo es geht"191. Dagegen steht die Aussage, da� die eisenbeschlagene socha immer noch zum Pfl�gen verwandt wurde192, "in manchen Gegenden ausschlie�lich"193. Auch die 25-zinkige Egge aus Weide wurde weiter verwandt.194

Boyd hat nie einen Ochsen als Zugtier vor Wagen und Pfl�gen gesehen195, aber da� der Ochse diese Funktion weiterhin aus�bte, macht schon das starke Ausma� seiner Haltung deutlich: Jeder 4. Ochse in der polnischen Republik war in Polesien zu Hause; auch Abbildungen zeigen immer wieder Ochsen als Zugtiere196. Mindestens genauso stark war aber auch das Pferd als Zugtier verbreitet. Es gab sehr viel mehr Perde (177.583 am 30.6.1929, 3 Jahre oder �lter)197 als Ochsen (43.290) in Westpolesien. Dagegen ist von Traktoren und motorbetriebenen M�hdreschern nirgends die Rede, was wohl kaum nur daran liegen d�rfte, da� ein m�glichst exotisches Bild von Polesien gezeichnet werden sollte.

190Grodzicki 1936b:250 191Bienkiewicz 1927:38 192Grodzicki 1936b:249; Ossendowski 122 193Mondalski 1927:216 194Ossendowski 122; Abbildung in Marczak 1935:39; sehr unsicher ist auch Regel 1942:145 195Boyd 1936:388 196z.B. Ossendowski 31 197Rocznik Statystyczny 8(1930):50

�ber die Entwicklung der Fruchtfolge gibt es seltsamerweise wenig Informationen. Oberfl�chlichere Betrachter konstatieren einfach, es g�be "bis heute die Dreifelderwirtschaft".198 Aber hatte sie je existiert? Da� bedeutend mehr Wintergetreide als Sommergetreide angebaut wurde, beweist das Gegenteil. Allerdings waren die prozentualen Anteile 1938 schon weit ausgeglichener. Andere sagen im Gegenteil, es g�be "fast �berhaupt kein Brachland mehr". Ist dies aber wirklich ein Zeichen dessen, da� der Kleinbesitz seine Wirtschaften intensivierte? Oder hing es vielleicht damit zusammen, da� die Repatriierten Land brauchten und daher notgedrungen Brachland bepflanzten? Oder wurde langj�hrige Brache als Weide bezeichnet? Was ist �berhaupt mit Brachland gemeint? Etwas genauere Beschreibungen gibt es aber dar�ber, wie neuer Ackerboden gewonnen wurde. Parzellierte St�cke und ehemalige Servitute wurden immer noch urbar gemacht, indem das Holz des Waldes nach seiner Rodung zum Hausbau benutzt und die St�mpfe verbrannt wurden. Sogar das einfache Abbrennen des Baumbestands (Brandrodung) wurde noch - wenn auch selten - beobachtet.199

Da wenige agronomische Kenntnisse angewandt und Hilfeleistungen gegeben (oder in Anspruch genommen) wurden, wurden schlechte Arten von Getreidesaatgut verwandt.200 Die Hektarertr�ge stagnierten die ganze Periode �ber bei Bruttoertr�gen zwischen 9 und 11 dt/ha beim Roggen, und zwischen 8 und 10 dt/ha bei Weizen, Gerste und Hafer, waren damit aber bedeutend h�her als in Ostpolesien.

Tabelle 45: Ernteertr�ge in der Wojewodschaft Polesien ����������������������������������������������������������������ͻ Spalte 2:Bienkiewicz 1927:52 Spalte 3:Rocznik Statystyczny 1930 Spalte 4:RZW 5(1939):13 1924/25 1929 1938 (?) dt/ha Roggen 10,80 9,52 8,63 dt/ha Weizen 9,40 10,17 7,93 dt/ha Gerste 8,30 9,14 6,42 dt/ha Hafer 8,30 9,57 7,18 dt/ha Kartoffeln 100,00 97,59 120,39 ����������������������������������������������������������������ͼ Das Hauptgetreide blieb der Roggen: "Er ist neben der Kartoffel das Grundnahrungsmittel der �rtlichen Bev�lkerung".201 Sommerroggen wurde wenig verwandt. Der Weizen wurde am wenigsten in den Kreisen Pinsk, Kosava und Pruzany ges�t, er stellte nur 1,7-2,0% der Getreideaussaat dar; am h�ufigsten wurde Weizen in Vysoko-Litovsk gesehen.202

198Niezbrzycki 1930:309; vgl.Bienkiewicz 1927:38 199Tomaszewski 1963:116 200Niezbrzycki 1930:309; Bienkiewicz 1927:39 201vgl. auch Bienkiewicz 1927:38; Niezbrzycki 1930:310f 202Bienkiewicz 1927:38

Das Getreide wurde "gew�hnlich in Garben aufbewahrt", und es wurde nur soviel gedroschen und gemahlen, wie es der Bedarf verlangte. "Gemahlen wird haupts�chlich in Windm�hlen, von denen es gew�hnlich 1 - 3 <st�ck> in gro�en D�rfern gibt"; die Mahlleistung betrug meist 240kg/Tag. "Dampfm�hlen befinden sich nur in gr��eren St�dten und Stetln"203. "An den Fl�ssen des wolhynischen Polesien gibt es viele Wasserm�hlen, sie sind ziemlich primitiv gebaut, und ihr Leistungsverm�gen ist bedeutend kleiner als das der Windm�hlen". Alte Mahlmethoden bestanden nebenher: "In den D�rfern wird oft grobes Mehl und kasza" "mit Handm�hlen (zarna) gemahlen".204

"Weizen ist nur in sehr fruchtbaren Gegenden anzutreffen, Kartoffeln hingegen �berall".205 Ganz eindeutig war der Anteil und erst recht die absolute Aussaat an Kartoffeln gestiegen. Waren es 1924/25 noch 59.300 ha, so stieg der Wert bis 1930 auf 157.400 ha bes�ter Fl�che.206

Im Norden der Wojewodschaft wurde eher Flachs, im S�den eher Hanf angebaut207. Die Leinpflanze "wird fast ausschlie�lich auf kleinen Parzellen gezogen, die sich in Privatbesitz befinden"208. Der Flachs aus den nord�stlichen Regionen Polens wurde am Markt schlecht notiert; "der Grund daf�r ist die Uneinheitlichkeit [niejednolitnosc] der Ware, die sich schon aus der Produktion der Ware selbst ergibt, welche ungeheuer zersplittert ist"209. Die Flachsproduktion blieb deshalb in der Hand der Bauern, weil sie billiger verkaufen konnte als eine Wirtschaft mit Lohnarbeit; sie mu�ten zu einem solch niedrigen Preis verkaufen, weil sie im Winter auf andere Art keine h�heren Einkommen erzielen konnten.210 Die Verarbeitung dieses Stoffes blieb aber nicht aus diesem Grund zersplittert - mechanische Verarbeitung zu Leinstoff w�re vielleicht sogar billiger gewesen - sondern deshalb, weil ein einheitlicheres Material, also eine mehr organisierte, zentralisierte und kontrollierte Produktion n�tig gewesen w�re.

Die Benutzung von Kunstd�nger war "wenig entwickelt", "und stellenweise ist er vollkommen unbekannt". "Zudem ist er

im Zusammenhang mit den Transportschwierigkeiten als teuer zu kalkulieren und nicht f�r alle erschwinglich".211

203ebd 204Alles Niezbrzycki 1930:313 205Niezbrzycki 1930:311 206siehe Tabellen #44, oben 207Orynzyna 1937:66 208Orynzyna 1937:71 209Baranski 1934:12 210N�here Er�rterung dieses Ph�nomens einige Seiten weiter unten 211alles Niezbrzycki 1930:309; vgl. auch Bienkiewicz 1927:38

</st�ck>

"Auch Gr�nd�nger wird wenig gebraucht"212. Vor allem in den Gutsh�fen wurden Klee, Seradellen und Lupinen angebaut. "So wird eine Menge bearbeiteten Bodens mit naturalem Dung <mist, d.s.=""> kultiviert, jedoch ist trotz einer verh�ltnism��ig hohen Viehzahl die Erde im allgemeinen in hohem Grade unzureichend". Folgende D�ngung "wird bis heute in vielen Orten verwandt": "Ein Feld, das zum Herbst gepfl�gt werden soll, dient [...] im Sommer hindurch als Weide [pastwisko], als sog. wygon f�r das Vieh".213 Wie wir unten noch sehen werden, war die Mistproduktion einer der Gr�nde f�r die Viehhaltung �berhaupt.

Gem�se wurde nur zum Eigenbedarf angebaut, und zwar "Kohl, R�ben, rote R�ben, Knoblauch, Gurken, Rettich, Mohn und verh�ltnism��ig wenig M�hren, Petersilie, Erbsen und Bohnen" und wohl auch Linsen.214 Mais, der nach Niezbrzycki im polesisch-wolhynischen �bergangsgebiet angebaut wurde,215 wurde laut Statistiken in Westpolesien �berhaupt nicht angebaut216. Es wurden auch fast �berhaupt keine Sonnenblumen und kein Hopfen gez�chtet. Raps wurde in der ganzen Wojewodschaft auf 1.400 ha, Zuckerr�ben nur auf 200 ha gezogen. Es findet sich auch Tabakbau f�r den Eigenbedarf.

Auch der - statistisch nicht erfa�te - Obstbau wurde in Polesien weniger betrieben als m�glich gewesen w�re. Es wurde festgestellt, da� "unsere Obstg�rten nicht richtig in ihrem Wert eingesch�tzt werden", obwohl gerade in der Krisenzeit der Obstbau wichtig sei.217 "Obstg�rten existieren ausschlie�lich in den Gutsh�fen des Gro�besitzes".218 Das polesiche Dorf sehe daher �rmlich aus (im Gegensatz zum ukrainischen). Selten waren an einem Hof Kirsch- oder wenigstens halb verwilderte Apfel- und Birnb�ume zu sehen.219 Die Tips der Obstkundekommision w�rden nicht richtig beachtet werden, das Obst werde ohne fachliche Begutachtung gez�chtet. Folge: "Im Winter ist es schwer, Obst zu kaufen und wenn doch, dann ist es sicherlich nicht aus Polesien selbst". Die Kleinlandwirte gingen deshalb davon aus, Obst lie�e sich nicht verkaufen; dies sei ob der schlechten Qualit�t allerdings kein Wunder220. Auch hier ist wieder zu erkennen, da� die Poleschuken den Landbau aus einer vormodernen Sicht betrachteten, da� sie zuerst auf die Eigenversorgung und erst in zweiter Linie auf Vermarktung Wert legten.

212Niezbrzycki 1930:309 213Alles Niezbrzycki 1930:309 214Niezbrzycki 1930:311+317 215Alles Niezbrycki 1930:317 216Rocznik Statystyczny 8(1930):46f 217Polesie, 7.2.37, H.5 ,S.3 218Niezbrzycki 1930: 317 219Niezbrzycki 1930:317 220Polesie, 7.2.37, H.5 ,S.3

</mist,>

8.3.3. Die Viehhaltung Heu gab es nach wie vor reichlich; jedenfalls sieht der aus milit�rischen Gr�nden an Polesien interessierte Niezbrzycki die Versorgung der Kavalleriepferde als gesichert an, obwohl zuwenig Hafer da sei. "Das Heu wird hier schlecht konserviert und getrocknet"221; das �bersumpfte und durchn��te Wiesenheu, das mit sauren Gr�sern �berwachsen ist, sei kein guter Weideplatz. "Der polesische Bauer unterscheidet verschiedene Heuarten" - Sumpfheu, Waldheu und Wiesenheu. Da die Pferde der Poleschuken dennoch das saure Heu fra�en, bekamen sie ganz dicke B�uche222. Nur das Wiesen- und Gartenheu, das ca. 22% des Heus ausmache, eigne sich zur Pferdeweide. Die Ernteertr�ge beliefen sich auf "701 - 1200 kg pro ha".223 Das polesische Heu war mit einem Preis von 4,75 Zl/dt das billigste in ganz Polen (durchschnittlich 6,73 Zl/dt). Die Heumahd fand haupts�chlich Mitte Juni bis Mitte Juli statt, aber je nach Umgebung und je nach Ausma� des Hochwassers auch fr�her oder sp�ter. In der Zeit der Heumahd fuhren alle, die dazu in der Lage waren, mit Booten oder Wagen hinaus, und weil die abzum�henden Parzellen oft weit ab vom Dorf lagen, blieben die Schnitter in dieser Zeit "in den Wiesen" [na luhach] und bauten sich dort provisorische H�tten.224 Das Heu wurde oft an Ort und Stelle getrocknet. Manche Heuschober standen auf Stelzen225. Im Winter erst wurde das Heu nach Hause [zagr�d] gef�hrt, weil dann wegen des Frostes die Transportm�glichkeiten besser waren.226 In sehr wasserreichen Gebieten wurde das Heu mit K�hnen oder auch speziell gebauten Fl��en transportiert227. Ansonsten wurde das Vieh weiterhin in den Wald getrieben.228 Heu ist auch der einzige Exportschlager Westpolesiens gewesen: 1922/23 wurden 15.000 Waggons Heu ausgef�hrt.229

Die Viehzucht war kein Bereich der b�uerlichen Wirtschaft, der mit zunehmender Bev�lkerungszahl eingeschr�nkt wurde. Besonders im Osten der Wojewodschaft wurde "haupts�chlich Viehzucht betrieben, wenn auch im allgemeinen sehr urt�mlich"230. Vor dem Krieg soll die Viehzucht noch mehr verbreitet gewesen sein, aber der Krieg habe hier einschneidend gewirkt. Im Osten der Wojewodschaft seien die Tiere besser versorgt gewesen, weil sie �fter in den Wald geschickt werden konnten.231

221Niezbrzycki 1930:313 222Pull� 1935:235 223Alles Niezbrzycki 1930:316; vgl. Librowicz 1923:375, der 820 kg/ha angibt; nach Trockenlegung von S�mpfen k�nnten es angeblich 6500 oder gar 12.000 kg/ha sein 224Alles Niezbrzycki 1930:316 225Abbildungen in Boyd 1936:388 und Ossendowski 22 226Niezbrzycki 1930:316f 227Niezbrzycki 1930:317 228Ossendowski 59 bildet K�he im Wald ab 229Bienkiewicz 1927:39: 230Bienkiewicz 1927:41 231Bienkiewicz 1927:41

Der Zustand des Nutzviehs wurde als beklagenswert bezeichnet. Dabei wurde leider wenig differenziert, weder nach Tierarten noch nach den unterschiedlichen Zwecken der Nutztierhaltung. Die Viehhaltung unterlag weiterhin den Bedingungen der nat�rlichen Vegetation232, Futterimport war unbezahlbar. Wir haben gesehen, da� die Viehhaltung aus unterschiedlichen Gr�nden durchgef�hrt wurde: um Nahrungsmittel und Kleidungsrohstoffe zu erhalten, als Zugvieh und als Dungproduzent. Viele Bauernfamilien nutzten das Vieh haupts�chlich als Dungproduzenten233, denn sonst h�tten sie nicht vor allem versucht, die St�ckzahl zu erh�hen, sondern sie h�tten die Fleischmenge und daher auch den Fleischanteil an einem St�ck Vieh erh�hen wollen. Die Viehhaltung, auch die Schweinehaltung war hier keine "Veredlungswirtschaft", die auf Kraftfutter basiert, das zumeist auch noch importiert werden mu�. Das Vieh wog in Polesien durchschnittlich 25% weniger als in Polen.234 Welche Verschiebungen lassen sich in dem Gef�ge der Viehhaltung erkennen? Wie ver�nderte sich die Zahl der zum Bauernbetrieb notwendigen Nutztiere gegen�ber den Tieren, bei denen es nur auf das Fleisch ankam? Die St�ckzahlentwicklung in der Wojewodschaft ist in Tabelle #46 abzulesen. Ein betr�chtlicher Teil wurde nicht erfa�t. In Wirklichkeit soll die St�ckzahl bei den Vieharten wohl "60% mehr als registriert" betragen haben. Z.B. gab es in der Stadt Brest offiziell 900 St�ck Vieh, aber allein die tier�rztliche Aufsicht "ermittelte dort �ber 2000".235 "Was wird dann erst auf den D�rfern los sein, wo die Bauern best�ndig den Viehbestand aus Angst vor Besteuerung verstecken?"236 Im Osten der Wojewodschaft gab es viele D�rfer, in denen "in einzelnen Bauernh�fen" 20, 30 oder sogar 40 St�ck Vieh pro Hof unterhalten wurden. "Solch eine Menge k�nnen die Bauern halten, weil sie die Servitute benutzen und sich das Heu in den gro�en Gutsl�ndereien holen, welche die Wiesen zum M�hen aus der H�lfte oder aus einem Drittel geben"237, also ein Drittel der Ernte von den Bauern als Pacht abgef�hrt bekommen. Westpolesien zeigte die ganze Periode hindurch noch das typische Verh�ltnis der einzelnen Nutztierarten, wie es vormoderne Wirtschaften aufweisen. Es gab - gegen�ber Polen - relativ viele Schafe und Ziegen, dagegen wenig Pferde und Schweine.

232vgl. Niezbrzycki 1930:320 233Tomaszewski 1963:119f 234ebd. 1963:120 235Bienkiewicz 1927:41 236Bienkiewicz 1927:41f 237Bienkiewicz 1927:41

Tabelle 46: Die Entwicklung des Viehbestands in der Wojewodschaft Polesien ��������������������������������������������������������������ͻ 1921 nach Niezbrzycki 1930:316/17; vgl. etwas andere Zahlen Bienkiewicz 1927:41 1924 nach Bienkiewicz 1927:41 1929 nach Rocznik statystyczny 8(1930):50 1938 nach Maly rocznik statystyczny 10(1939):91 1921 % pro 100 Einw pro km� Pferde 108339 13,3 12,3 2,6 Rindvieh 368192 45,2 41,8 8,9 Schafe 136048 16,7 15,4 3,3 Schweine 202535 24,8 23,0 4,9 Tiersumme 815114 100,0 92,5 19,7 ------------------------------------------------------------ 1924 % pro 100 Einw pro km� Pferde 146611 17,7 16,6 3,5 Rindvieh 351783 42,5 39,9 8,5 Schafe und Ziegen 136495 16,5 15,5 3,3 Schweine 193587 23,4 22,0 4,7 Tiersumme 828476 100,0 94,0 20,0 ------------------------------------------------------------- (Einw. 1931:) 30.6.29 % pro 100 Einw pro km� Pferde 204487 14,3 18,1 4,8 Rindvieh 563008 39,4 49,7 13,3 Schafe und Ziegen 384429 26,9 34,0 9,1 Schweine 276031 19,3 24,4 6,5 Tiersumme 1427955 100,0 126,2 23,7 -------------------------------------------------------------- (ohne Sarny) 1934 % pro 100 Einw pro km� Pferde 168000 12,5 14,8 4,6 Rindvieh 480000 35,7 42,5 13,3 Schafe 402000 29,9 35,5 11,2 Schweine 293000 21,8 25,9 8,1 Tiersumme 1343000 100,0 118,6 37,3 -------------------------------------------------------------- 1938 % pro km� Pferde 188000 11,5 5,2 Rindvieh 659000 40,2 18,3 Schafe 435000 26,5 12,1 Schweine 359000 21,9 10,0 Tiersumme 1641000 100,0 45,6 ��������������������������������������������������������������ͼ

Seltsamerweise war aber auch der Rinderanteil an den Tieren geringer als durchschnittlich in Polen.238 Die Viehzahl pro Kopf der Bev�lkerung lag bei allen Nutztierarten im nichtindustrialisierten Polesien h�her als im durchschnittlichen Polen; im Durchschnitt war Polesien zwar versorgt, angesichts der extensiven Wirtschaftsweise war die Entwicklung des Nutztierbestandes aber ganz und gar kein Zeichen f�r Wohlstand. Pro km� hatte das d�nn besiedelte Polesien einen geringeren Viehbestand als

238 siehe Tabelle #83 im Anhang

Polen im Durchschnitt. Dies zeigt, da� in Polesien die Viehwirtschaft noch extensiver h�tte betrieben werden k�nnen - ein wichtiger Hinderungsgrund blieb neben der Armut der Landbev�lkerung die Unwegsamkeit des Gel�ndes. Der Viehbestand stellte aus der Sicht von au�en "bedeutendes Kapital" dar, in Geld ausgedr�ckt 160.000 Zl.239

1921 entfielen noch 12,3 Pferde auf 100 Einwohner. Der Krieg hatte - wie in Ostpolesien - eine gro�e Dezimierung des Pferdebestands verursacht240. "Gro�en Schaden richteten auch die in den letzten Jahren grassierenden verschiedenen Tierkrankheiten an."241 Aber dies wirkte sich nicht auf die St�ckzahl aus; den Statistiken zufolge nahm die Pferdezahl erst zwischen 1929 und 1934 sehr rapide ab. "Gegenw�rtig befinden sich fast alle Pferde in Polesien in den H�nden der landwirtschaftlichen Kleinproduzenten", nur 20% geh�rten den Grundeigent�mern, Kolonisten und St�dtern [mieszczan].242 "Der hiesige Bauer dr�ngt dahin, das Pferd so fr�h wie m�glich zur Arbeit zu nutzen, was eine schnelle Verk�mmerung der Rasse" bewirkt haben soll243. Es hie�, der Staat helfe nicht, meist w�rden die Hengste der Bauern zur Nachwuchsproduktion benutzt. Die Kreuzungen w�rden demnach ohne jeden Plan durchgef�hrt, oft wurden schon zweij�hrige Stuten gedeckt.244 Die Weide wurde ohne jede Auswahl, eben so oft wie m�glich durchgef�hrt. Die St�lle waren "eng, niedrig, dreckig und stickig".245

Auch das Rindvieh geh�rte vor allem den Kleinlandwirten; es wurde als Nutz- und Arbeitstier verwandt, um die Zucht k�mmerte man sich wenig. Ziel der Rinderhaltung war vor allem der Verkauf des Viehs gegen Bargeld.246 Die Viehhaltung geschah "auf primitive Weise". Das Vieh wurde den ganzen Sommer �ber auf der Weide gelassen, und nur f�r einige Stunden wurden K�he zum Melken gef�hrt. Der Mist wurde nur einmal im Jahr, im Fr�hjahr herausgeholt, vielleicht ein zweites mal im Herbst.247 Die K�he gaben, besonders in den Ostprovinzen, wenig Milch; diese besa� allerdings einen hohen Fettgehalt von 4,5 - 5,5% oder maximal sogar 7,7% Fett.248 Das Rindvieh h�tte in seiner Qualit�t durch Einkreuzung anderer Rassen noch sehr verbessert werden k�nnen; dies war jedenfalls die einhellige Meinung der Fachkr�fte. Andererseits wurde aber hervorgehoben, da� sich importierte Rassen

239Bienkiewicz 1927:42 240Niezbrzycki 1930:320 241ebd. 242Niezbrzycki 1930:320 243Niezbrzycki 1930:320f 244ebd.; vgl auch Bienkiewicz 1927:42 245Niezbrzycki 1930:321 246Niezbrzycki 1930:321 247ebd. 248Bienkiewicz 1927:45

nicht an die neue Umgebung gew�hnen w�rden.249 Das Vieh wurde "seit Hunderten von Jahren auf den Mooren gehalten, wo es oft bis zum Bauch im Wasser stehend weiden und den Flu� durchwaten mu�, und im Winter hungert es nicht selten in kalten und h��lichen St�llen; es ist im Kampf sehr entartet".250 Die Bauern hielten sich im Sommer so viel Rindvieh wie m�glich, egal ob sie es durch den Winter bringen konnten oder nicht; dies soll zwar das Ergebnis dessen gewesen sein, da� die Bauern haupts�chlich auf Mist aus gewesen seien - bei schlechter F�tterung wurde aber auch dieses Ziel nicht erreicht.251 Auch andere waren an der schlechten Entwicklung der Viehwirtschaft Schuld: Es hie�, die Bol'seviki h�tten 1920 die Rinderpest mit eingeschleppt. Trotz des Einsatzes von Tier�rzten in den Jahren 1921-1923 sei das Vieh noch [1926] nicht wieder auf der vollen H�he.253 Davon, da� Ochsen weiterhin als Zugtiere eingesetzt wurden, war oben schon die Rede. Auch die Zahl der Rinder sank in der Krisenzeit. Insgesamt war 1934 wieder der Stand von 1921 mit 42-43 St�ck Rindvieh pro 100 Einwohner erreicht.

Aus den Statistiken ist errechenbar, da� hier 34,0 Schafe auf 100 Einwohner kamen (in Polen nur 9,3) und mit 9,1 Schafen/km� sogar das dreimal so dicht besiedelte Polen �berfl�gelt wird.254 Schafe wurden also, ganz im Gegensatz zu den Verh�ltnissen in Ostpolesien, wegen der Wolle und des Schafspelzes in gro�er St�ckzahl gehalten. Das Fleisch galt jedoch stets als nebens�chlich.255 Tats�chlich erwies sich die Schafhaltung als die einzige und wesentliche Neuerung in der polesischen Viehhaltung: ohne da� dieser Trend den Zeitgenossen aufgefallen w�re, steigerte sich die Schafzahl sogar in der Krisenzeit. Allerdings entfiel auf eine Familie durchschnittlich nur ein Schaf, die Schafhaltung h�tte sogar noch ausgedehnt werden k�nnen - sie erreichte in den Jahren 1934 bis 1936 erst wieder das Niveau von 1897 (Schafe pro 100 Einwohner). Die Ursache f�r diesen Trend lag wohl unter anderem darin, da� die kleinb�uerlichen Familien sich die Schafe hielten, wenn eine Kuh zu halten aufgrund der materiellen Lage nicht mehr m�glich war. Da die Schafe kleinere, billigere, leichter

249Bienkiewicz 1927:42 250Bienkiewicz 1927:42 251Bienkiewicz 1927:43; manchmal konnten die Bauern ihren Beschreiber schier zur Verzweiflung bringen: er h�rte, da� die Deutschen, die im Krieg Butter requiriert hatten, sich im Kreis Kamjanec-Kasyrsk besser nicht blicken lassen sollten; denn dort hatte man nichts vergessen und rechnete vor, "da� die Deutschen die K�he f�ttern m�ssen". [Bienkiewicz 1927:44] 253Bienkiewicz 1927: 41 254Siehe Tabelle #83 im Anhang; nach Rocznik Statystyki 1930 255Niezbrzycki 1930:322; Bienkiewicz 1927:42

zu transportierende und weniger fressende Tiere als Rinder sind, waren sie auch leichter kauf- und verkaufbar, besser "portionierbar". Besonders g�nstig war die Schafhaltung ja in Polesien mit seinen verstreuten, versteckten und schwer zug�nglichen, kleinen Parzellen. Dies kann aber noch nicht der ganze Grund f�r die zunehmende Schafhaltung der Poleschuken gewesen sein. Die in Westpolesien verbreitete Schafrasse wurde als recht vorteilhaft beschrieben, da sie den �rtlichen Bedingungen angepa�t sei und gutes Fleisch biete.256 Die einzige Gro�schafzucht gab es bei Moraceva im Bezirk Pruzany.257 Ziegen f�hrten die Deutschen im ersten Weltkrieg mit. Sie verbreiteten sich deshalb, weil sie viel Milch gaben.258 Schweine wurden in Westpolesien nicht in allen Gebieten in gleichem Umfang gehalten. Sie befanden sich in halb wildem Zustand.259 Die am meisten verbreitete Rasse hatte lange Ohren und war einst importiert worden.260 Die in den �stlichen Bezirken vorkommenden Schweine sollen sehr klein und sp�treif, aber gut kreuzbar gewesen sein und �hnlich wie Wildschweine gro�e Borsten gehabt haben. Das Fleisch schmeckte dem Beschreiber.261 Auch die Daten �ber die Schweinehaltung sind zu l�ckenhaft, als da� die Hypothesen belegt werden k�nnten: die St�ckzahl dieses vorwiegend wegen des Fleischertrages gehaltenen Nutztieres ging bis 1924 sogar zur�ck, wohl weil viele Esser hinzugekommen waren. In der Zeit von 1924-1930 stieg sie an, hielt sich dann, um nach 1934 erneut anzusteigen.

Trotz des allgemein "traurigen Zustands" konnten oder mu�ten aus der Viehhaltung noch Geldeink�nfte erzielt werden. Sowohl lebendige Tiere (1921: 189 Pferde, 12.677 Rinder, 2000 K�lber, 110 Schafe, 5197 Schweine) als auch Fleisch, Haut, Knochen, Talg, Borsten und Pferdehaare hatten einen Export�berschu� zu verzeichnen262. G�nse und H�hner wurden auch auf dem Markt verkauft.263

Die Verwaltung versuchte durch verschiedene Vorhaben und Bauten die Verarbeitung von Tierprodukten anzukurbeln. Sehr wichtig sei die Entwicklung der Milchwirtschaft, "welche zur Zeit fast �berhaupt nicht existiert"; es gebe nur einige K�sereien und Buttereien bei Gutsh�fen und Juden. Die Stadt Brest importiere die Butter aus Wolhynien oder anderswoher. In den D�rfern g�be es Hunderte oder Tausende St�ck Vieh, aber

256Bienkiewicz 1927:42 257ebd. 258Bienkiewicz 1927:43 259Niezbrzycki 1930:322 260Bienkiewicz 1927:43 261Bienkiewicz 1927:43 262Bienkiewicz 1927:44 263Boyd 1936:394

keine Butterei. Eine Verbesserung dieses Zustands w�rde den Bauern "Bargeld bringen"; der Bauer w�re dann auch darum bem�ht, die Milchmenge der K�he zu erh�hen.264 Immer wieder wurde auch das Fehlen von Schlachth�usern bem�ngelt. Der Fleischhandel habe gro�e Chancen. 1926 beklagte man sich, da� in Luninec seit zwei Jahren ein Schlachthof geplant sei; es geschehe aber nichts.265 Dieses Schlachthaus scheint 1938 fertiggestellt worden zu sein. Zudem befanden sich in Brest, Drahicyn, Kobryn, Kamjanec-Kasyrsk Schlachth�user in der Planung oder im Bau.266 Au�erdem wurde die Verbesserung des Veterin�rwesens gefordert, "welches zur Zeit keine M�glichkeit hat, dem Z�chter zu garantieren, da� er vor der n�chstbesten Epidemie bewahrt".267

8.3.4. B�uerlicher Fischfang �ber den Fischfang gibt es widerspr�chliche Aussagen. Polesien blieb reich an Fischen, in den Seen handelte es sich jedoch zum gr��ten Teil um weniger wertvolle kleine Fische wie Pl�tzen, Barsche und Alande. Gr��ere Fische wie Hecht, Blei, Schleie und Karausche wurden bedeutend seltener gefangen.268 Es gab ca. 40 verschiedene Fischsorten269. Eine bedeutende Rolle spielte der Schlammpeitzker, der in gro�en Mengen gefangen wurde; gerade die �rmsten mu�ten auf diese Nahrung zur�ckgreifen.270 Sogar Krebse waren im Prypjac'-Becken zu Hause271, sie wurden das Schock f�r 1 Zl verkauft.272 Fischwirtschaften gab es sehr wenige, und diese ausschlie�lich in staatlichen Seen sowie auf gr��eren Privatg�tern. "Ein k�nstliches Aussetzen von Fischbrut wurde wenig durchgef�hrt, und infolge der unsystematischen Wirtschaft wird die Zahl der Fische st�ndig vermindert"273. Die Wirtschaften waren mit wenig Kapital ausgestattet. Es waren 100-400 pud Fisch pro ha zu "ernten".274 Ob f�r manche Einzelfamilien das Fischen die Hauptbesch�ftigung wurde, ist schwer zu sagen. Boyd275 behauptet dies, hat aber den Blickwinkel der St�dterin und zudem Ausl�nderin. Einer anderen Quelle zufolge "betrachtet nur ein kleiner Teil von ihnen den Fischfang als Hauptbesch�ftigung"276. Seit 1926 gab es eine Fischabteilung in der Landwirtschaftsfachschule in Duboi (Pinsk), die auch eigene Fischteiche unterhielt. Doch haupts�chlich kam es weiterhin auf F�higkeiten an, die nicht in einer Fachschule erlernt werden konnten. Es galt, durch die oft schier undurchdring-

264Alles Bienkiewicz 1927:45 265Bienkiewicz 1927:46 266Wochanka 1938:203 267Bienkiewicz 1927:46 268Niezbrzycki 1930:323; vgl. Wantowski in Brodacki 1936:34 269Wantowski 1936:34 270Wantowski 1936:34 271Bienkiewicz 1927:46 272Hepke 1934:15 273alles Niezbrzycki 1930:323 274Bienkiewicz 1927:46 275Boyd 1936:382 276Niezbrzycki 1930:324

liche Sumpfvegetation mit den flachb�digen Booten zu staken und ohne Kompa� oder Bojen zu navigieren277. "Die Poleschuken sind in ihrer Mehrzahl mit dem Wasser so verbunden wie die Fische selbst, und deshalb sind sie geborene Fischer".278 In der Literatur wird immer wieder betont, da� die Polesier verschiedene Netze zum Fischen besa�en279. "Die polesischen Fischer gebrauchen f�r ihre Industrie eine riesige Menge von Ger�ten, die verschiedene Namen tragen, "oft einen ausschlie�lich in einer bestimmten Gegend. Manche Netze waren 1,20 m bis 1,60 m lang und kegelf�rmig - zum Ende hin verj�ngte sich das Netz, in dem die Fische gefangen wurden. Andere waren rechteckig, mit Innenfallen280. In den sp�ten 30er Jahren wurden in Davidharadok auch baumwollene ausl�ndische Netze meist deutscher Herkunft gehandelt, die die einheimischen leinenen zu verdr�ngen drohten281. Die besten F�nge, n�mlich bis zu 600 kg aufs Mal, konnten im Dezember bis Februar erzielt werden,282 also in einer Zeit, in der im Landbau nichts zu tun war.

Ein Gro�teil der Fischerei wurde in �berfamili�rer Gemeinschaftsarbeit durchgef�hrt. In Sommern�chten fuhr man zu dritt zum Fischen hinaus283. Aber es gab auch kompliziertere Arbeitsgemeinschaften: "Ber�hmt sind die Fischer-Artele, die auf der Prypjac', dem Horyn usw. operieren, sie sind vollkommen mit dem Gegenstand vertraut und von gro�er innerer Disziplin"284. Im Sommer wurden h�ufig "R�uchereien" gebaut; "manchmal stoppeln sich die Fischer, die sich eine l�ngere Zeit lang au�er Haus aufhalten, provisorische H�tten auf bewohnten Fl��en zusammen".285 "Um die Fische im Fr�hjahr in den flie�enden Gew�ssern (auf)zuhalten, werden sogenannte "Fischwehre aus St�ben gebaut".

Rund 1.700 t/Jahr wurden in der Wojewodschaft gefangen286. Um so mehr wurde aber bedauert, da� der Fischfang keine moderneren Formen annahm. Staatliche wie private Seen wurden meist an "j�dische Unternehmer und �rtliche Bauern" vermietet. Bei dieser sogenannten Pacht handelte es sich aber in Wirklichkeit um eine Art Vorkaufsrecht der "P�chter": sie fischten nicht selbst, organisierten auch nicht den Fischfang, sondern besa�en durch die Pachtzahlung das Recht, als einzige

277Boyd 1936:382f 278Bienkiewicz 1927:46 279Bild bei Ossendowski 60 280Boyd 1936:382 281Wantowski 1936:36 282Niezbrzycki 1930:324 283Ossendowski 79f 284Bienkiewicz 1927:46 285Niezbrzycki 1930:324 286Wantowski 1936:34

die von der verpachtenden Bauerngemeinde gefangenen Fische zu kaufen. Der Handel hatte also auch im Bereich Fischfang noch nicht von der Produktionssph�re Besitz ergriffen. Es hatte sich aber ein Verlagssystem herausgebildet: die Bauern bekamen Fischereiwerkzeuge von den H�ndlern als Kredit und mu�ten diesen in Fischen abzahlen.287 Boyd steht mit ihrer Behauptung alleine, da� die gefangenen Fische frisch und vor Ort verzehrt und weder getrocknet, noch gesalzen, nicht einmal mit Birkenholz ger�uchert wurden288. "Die gefangenen Fische werden meist beim Abtransport getrocknet, wobei die Ausfuhr bedeutend durch die Transportbedingungen, das Fehlen geeigneter Waggons, K�hlh�user usw. behindert wird".289 "Der Fischhandel konzentriert sich in Westpolesien auf zwei wichtige Handelszentren, Pinsk und Davidharadok, und befindet sich vor allem in j�dischen H�nden". Dies wurmte die polnischen Beschreiber, die vorrechneten, da� "im allgemeinen der Fischer f�r ein kg Fisch nicht mehr als 30 groszy, ausnahmsweise h�chstens 60 groszy erh�lt, w�hrend der Konsument das vier- oder f�nffache bezahlt".290 Auch die St�dter verstanden sich auf Fischfang, Netz- und Bootsbau291. Aber "den Fischfang betreiben vor allem alle Einwohner der an den Fl�ssen und Seen gelegenen D�rfer".292

8.3.5. Andere b�uerliche Gewerbe �ber die Bienenzucht brachte die Zeitschrift Polesie fast regelm��ig Artikel. Die Bienenzucht wurde in Westpolesien "kein getrennter Wirtschaftszweig"293. Nahezu alle D�rfer und Einzelh�fe [futor] hielten sich Bienenst�cke. Am seltensten waren Bienenst�cke in Kosava, am h�ufigsten in Sarny und Luninec verbreitet. Durchschnittlich gab es 1 Stock/km�, also rund 40.000 St�cke, die meist auf Kiefernst�mmen gehalten wurden. Ein Bienenstock gab j�hrlich 3 - 5 kg Honig, im Einzelfall konnten es, falls sich Obstg�rten oder honigtragende Pflanzen in Waldn�he befanden, bis zu 12 kg sein.294 Die Poleschuken sollen die St�cke mit Liebe, aber sehr urt�mlich gepflegt haben.

In der Wojewodschaft gab es 1.275.814 ha (etwa 1/3 der Gesamtfl�che) Wald295. Die Waldbest�nde waren zu 23,3% staatlich, zu 71,6% privat. Die Waldfl�chen hatten sich zwar trotz Kolonisierung und Siedlerei nicht verringert, aber der

287Tomaszewski 1963:106f 288Boyd 1936:383 289Niezbrzycki 1930:324 290Niezbrzycki 1930:324; Wantowski 1936:35 291Wantowski 1936:34 292Niezbrzycki 1930:324 293Niezbrzycki 1930:323 294Niezbrzycki 1930:323 295Niezbrzycki 1930:324

Holzbestand unterlag bedeutenden �nderungen nach unten.296 "Ein ernsthafter Zweig der Dorfwirtschaft" blieb nicht zuletzt dank der nat�rlichen Umgebung das Sammeln von Wildfr�chten298. Es fanden sich verschiedene Graspflanzen (haupts�chlich Sauerampfer, Brennesseln, Kalmus und Hopfen) und Beeren. Au�erdem wurden Eichenbl�tter und von wilden Fr�chten Birnen, �pfel und N�sse sowie Eicheln gesammelt.299 "Echtes" Sammeln begann aber erst in der Pilzzeit; hieran "nehmen alle Bewohner des Dorfes ohne Ausnahme teil."300 Au�er den e�baren Pilzen wurden auch einige giftige zu Heilzwecken gesammelt301. Getrocknete Pilze wurden von philantrophischen Organisationen bis nach Amerika exportiert302. Die Wildfr�chte blieben eine ernstzunehmende Nahrungsmittelquelle. "Im Lauf der Zeit erhielt das Sammeln den Charakter einer Art Volksfeierlichkeit"; es bildeten sich gewisse Rituale heraus, und es entstand sogar "eine gewisse Art Gewohnheitsrecht am Sammeln von Wildfr�chten".303

B�uerliche Jagd lohnte sich durchaus noch. Noch in der Zwischenkriegszeit soll es neben F�chsen, Wildschweinen und Rehen auch W�lfe gegeben haben304, sogar B�ren sind noch gesehen worden. Die Biber hinterlie�en �berall die Spuren ihres Werks. Geradezu ein Markenzeichen von Polesien stellten die "Milliarden von" Wildenten dar.305 Auch ein Hobbyj�ger von ausw�rts konnte auf seine Kosten kommen, er mu�te allerdings ein wirkliches Risiko eingehen und auf Komfort verzichten306; daf�r wurden ihm "viel mehr Emotionen als in Afrika" versprochen, "wohin unsere wohlhabenden J�ger fahren"307. �ber die Jagd in Polesien konnten Legenden erz�hlt werden308. Die Jagd hatte aber kein gro�e Bedeutung "f�r die breiten Massen", sie war f�r die Bauernschaft keine Hauptbesch�ftigung. Jedoch betrachteten die Bauern und Stetlbewohner [mieszczanie] die Jagd als Nebenbesch�ftigung. "Die Wilddieberei wurde in Polesien stets allgemein betrieben, und nach dem Krieg nahm sie in einigen Gegenden geradezu erschreckende Ausma�e an".309 "Die Wilddieberei, das Fehlen eines organisierten Schutzes f�r die Wildtiere, eine

296Niezbrzycki 1930:325; die Kiefer bildete mit 60%, die Eiche mit 3% und andere Laubb�ume (Birke, Erle) mit 37% den Bestand, Rottannen gab es hier nicht. Neben der Eiche gab die Erle das wertvollste, festeste und schwerste Holz, es wurde "polnisches Mahagony" genannt. [ebd.] 298Niezbrzycki 1930:317 299ebd.:317 300Niezbrzycki 1930:317; vgl. auch Ossendowski 125 301Niezbrzycki 1930:317 302Bienkiewicz 1927:47 303Niezbrzycki 1930:320 304Niezbrzycki 1930:322; Bienkiewicz 1927:47 305Alles Bienkiewicz 1927:48 306ebd. 47 307ebd. 48 308Mondalski 1927:215 309Niezbrzycki 1930:322

chaotische ungeplante Forstwirtschaft - das alles zusammen bewirkt, da� der Wildtierbestand [...] sich von Jahr zu Jahr verringert"; einige Arten w�rden schon in naher Zukunft ausgerottet sein.310 Das �kosystem geriet also nicht nur durch Einwirkungen "von au�en" ins Wanken; allein die steigende Bev�lkerungszahl sorgte schon f�r ein Ungleichgewicht.

Im Wald gab es fast nichts, was nicht verwertet werden konnte. Selbst Schilf konnte in Geld umgesetzt werden, wenn auch 60 Bund nur 7 Zl einbrachten311. Dazu mu�te erst einmal das Schilf geschnitten, im Winter aussortiert, zurechtgeschnitten, geb�ndelt und zur Stadt gebracht werden. All diese T�tigkeiten waren aber nicht kommerzialisierbar, sei es mangels Nachfrage, sei es aufgrund von Verboten.

Nicht so das Holzgewerbe. "Das Holzgewerbe ist nach der Landwirtschaft die Hauptbesch�ftigung der einheimischen Bev�lkerung, wenn auch hier die W�lder haupts�chlich teils staatlich, teils - auf dem westpolesischen Gebiet - in Gro�grundbesitz befindlich sind."312 Hier wird wieder angedeutet, da� es die Poleschuken mit dem Eigentum nicht so genau nahmen. Im Krieg wurde der Baumbestand "abgebrannt und abgeholzt".313 Die Deutschen hatten viel Holz weggef�hrt oder als Bauholz verwandt314. Wie bedeutend der Verlust in der Okkupationszeit war, lie� sich aber nicht genau ermitteln. Die Waldwirtschaft stand auf "einem sehr niedrigen Niveau"315. Rechtm��iges und fachgem��es Abholzen geschehe angesichts der sehr schwierigen Anfahrt (weit abgelegen von Siedlung, defekte Kan�le und Fl�sse) nur in einigen Teilgebieten Westpolesiens, "aber die gro�e Nachfrage nach Holz ruft Mi�brauch hervor".316 Ohne forstwirtschaftliche Gesichtspunkte zu beachten, wurde einfach das dem Dorf oder der Ladestation am n�chsten gelegene Holz gelegt. Mangels eines Gesetzeswerks zur Walderhaltung wurden besonders die b�uerlichen und gemeindlichen W�lder schonungslos gepl�ndert.317 Machtlos und mit wenigen Arbeitskr�ften und Geldern ausgestattet, hatte die Staatliche Waldaufsicht [Panstwowa Ochrana Las�w] keine M�glichkeiten, dagegen vorzugehen.318 Hier zeigt sich wieder das typisch vormoderne Dilemma staatlicher Aufsicht: Die Bewachungskosten lagen h�her als der Betrag des Schadens, den sie begrenzen sollten. Im besten Zustand waren noch die staatlichen W�ldereien319, deren Verwaltung

310Niezbrzycki 1930:322f 311Hepke 1934:15 312Niezbrzycki 1930:302 313Niezbrzycki 1930:326 314Bienkiewicz 1927:46 315Niezbrzycki 1930:326 316ebd. 317Niezbrzycki 1930:326 318Bienkiewicz 1927:46 319ebd. 1927:46

nicht effektiv war. Es wurde gefordert, da� wenigstens das Waldamt von Brest nach Pinsk verlegt werden sollte, um n�her am Geschehen arbeiten zu k�nnen. Daraus wurde jedoch nichts.320

Wer aber baute denn das Holz ab? Die Waldwirtschaft war der eigentliche Punkt, an dem die Modernisierung l�ndlicher Wirtschaft begann; und hier gab es folgerichtig auch Konflikte, die mit den Auseinandersetzungen um die Servitute zusammenhingen. Die Gutsbesitzer brauchten Bargeld321 und pl�nderten die W�lder wie die Bauernschaft nicht nur ohne jegliche Ber�cksichtigung forstwirtschaftlicher Grunds�tze, sondern betrieben dies auch im Gegensatz zu den Bauern in betriebswirtschaftlicher Rationalit�t - sie pl�nderten systematisch. Die meisten Betriebe, die in Westpolesien existierten, waren holzverarbeitende, sie unterhielten 2646 offiziell Besch�ftigte322. Die Ausbeutung staatlicher und gro�er privater W�lder erfolgte vor allem durch nationale und internationale Aktiengesellschaften, und nur zu 20% durch die Staatsverwaltung (hier besonders f�r Milit�r- und Eisenbahnzwecke). Denn mit dem Holzverkauf lie�en sich nach wie vor "ziemlich betr�chtliche Eink�nfte" erzielen. Die Bauernschaft wurde durch diesen Abbau im Gro�ma�stab vom Verbraucher abgeschnitten; aber weiterhin wurde das Holz als Flo� dem H�ndler n�her herangef�hrt. Und immer noch standen Leute auf dem Markt herum, die einige Bretter loswerden wollten. Der Holzhandel hatte jedoch sein Hauptabsatzgebiet, die holzarme Ukraine, verloren. Zudem scheiterte der Transport hier in ganz besonderem Ma�e an den fehlenden und schlechten Wegen.323 Hinzu kamen zun�chst (1924 und 1925) hohe Eisenbahntransportkosten.324 Daher wurde auch in der Zwischenkriegszeit noch soviel Holz wie m�glich direkt an Ort und Stelle verarbeitet. Womit wir beim n�chsten Kapitel w�ren.

Wir stellten eben fest, da� die landwirtschaftliche Produktion im engeren Sinne im wesentlichen keiner Modernisierung unterlag, die Bauernschaft "innerberuflich" nicht aufsteigen konnte. Aber dr�ngte sie vielleicht - durch Spezialisierung auf ihre angestammten Nebengewerbe - ins Handwerk? Es gibt einen Anhaltspunkt daf�r, da� einige Familien von der Hausindustrie zum Gewerbe �bergingen. So beschwerte sich die Verwaltung, da� "fast keiner der Handwerker sich hat registrieren lassen"; nun w�rden Strafen

320Polesie 14.2.37, H.6, S.7 321Bienkiewicz 1927:46 322Rzepecki 1937:23-40 323Bienkiewicz 1927:46; Niezbrzycki 1930:326 324Bienkiewicz 1927:47

verh�ngt325. Ob es zu diesen Strafen kam, bleibt unklar; jedenfalls wird auch 1937 noch �ber "die Plage des illegalen Handwerks" geklagt326. Die Statistik der "industriellen" [przemysl] Betriebe weist eine �u�erst geringe Besch�ftigtenzahl auf327. Mit anderen Worten: selbst wenn einige Teile der b�uerlichen Bev�lkerung begonnen haben sollten, ihre Hauptbesch�ftigung von landwirtschaftlicher T�tigkeit auf die Verarbeitung von Stoffen zu verlagern, so �bten sie diese T�tigkeit unterhalb der offiziellen Ebene aus, um der Besteuerung zu entgehen; an eine etwas kompliziertere Produktion war also nicht zu denken.328

Die Holzbearbeitung war der erste Produktionszweig, der schon aus der b�uerlichen Wirtschaft ausgegliedert und zu einem handwerklichen und industriellen Gewerbe geworden war. In Polesien gab es Anfang der 20er Jahre 50 S�gewerke mit einer Tagesproduktion von 2700 m3. Die Holzbearbeitung wurde aber von den Bauern nicht verlernt. Einerseits verstand es sich von selbst, da� jede Familie mit Holz umgehen k�nnen mu�te, andererseits gab "es D�rfer, die sich traditionell damit befassen"329. Das fing schon bei dem Hausbau an: in abseits gelegenen Gebieten, "wo die Waldarbeit angesichts des �berwiegens von �dland und der Unzul�nglichkeit der Landwirtschaft" oft die Grundexistenz ist, wurden H�user nicht nur f�r den Eigenbedarf gebaut: "Die Behausungen wurden denkbar gro� gebaut, um dann die H�lfte weiterverkaufen zu k�nnen" (Hier finden wir einen Anhaltspunkt daf�r, da� zuweilen zwei Familien in einem Haus lebten330). Oder sie wurden an den Wegen gebaut, "um sie leicht �berf�hren zu k�nnen". Die H�user waren also gro� und wurden solide gebaut; Ausnahmen gab es in in sumpfigen und waldlosen Gegenden gelegenen D�rflein; nach dem Krieg waren viele H�user nur provisorisch errichtet worden.331 Beim Hausbau nutzten die Poleschuken die nat�rliche Gestalt der �ste, Wurzeln und St�mme. �hnliches gilt f�r den Wagenbau: Wagen wurden zuweilen noch ganz aus Holz, ohne Eisen gebaut.332 Auch Schlitten, Boote und andere Transportmittel333 wurden selbst gefertigt.

325Polesie 7.10.28,H.11,S.13 326Polesie 7.2.37,H.5,S."3" (eigentlich S.6) 327RZW 1937,S.23-40 328In den St�dten und Stetln waren also weiterhin wenig Handwerks- und Industriebetriebe angesiedelt. Dies ist ja auch der Grund daf�r, da� mehrere, besonders deutsche Autoren von Pseudost�dten sprechen - f�r sie geh�rt zu einer echten Stadt das Handwerk dazu.; vgl. B�rgener 1939:63f 329Orynzyna 1937:78 330vgl. Obscestvennyj 1987:13 331Alles Niezbrzycki 1930:295 332Grodzicki 1936b:248 333Boyd 1936:381

Ein anderes holzverarbeitendes Dorfhandwerk, die B�ttcherei, steckte dagegen in der Krise: Kohlf�sser wurden zwar noch ben�tigt, die Brauereien hatten jedoch keinen Bedarf an Holzf�ssern.334 Es scheint, da� Holzindustrie und b�uerliches Holzgewerbe deshalb nebeneinan-der her leben konnten, weil die Bauern sich selbst als Kunden hatten, die Unternehmen hingegen au�erpolesische oder st�dtische Abnehmer.

Die Kleidung fertigten die Bauernhaushalte selbst. "Die Be- und Verarbeitung von Flachs findet fast ausschlie�lich (90%) in b�uerlichen H�fen statt". Es wurden die alten primitiven Ger�te verwendet. Ein Leinenhemd wurde "soroczka" genannt, weil es 40 Arbeiten enthielt.335 Wolle wurde mit der Hand geschnitten und gewaschen. Da ein zweimaliges Waschen der Wolle selten durchgef�hrt wurde, wies die Wolle einen unangenehmen Geruch auf.336 Das Spinnen blieb Frauenarbeit; es wurde auf zum Teil sehr alten Spinnr�dern durchgef�hrt. Da dies eine sehr anstrengende Arbeit ist, gaben jene Frauen, die es sich leisten konnten, das Material gerne in die Spinnerei. Mechanische Spinnger�te waren eine sehr teure Investition, es wurde grunds�tzlich manuell gesponnen.337 Das Weben wurde zwar auch in Nebenbesch�ftigung, aber nicht in allen D�rfern durchgef�hrt. Die Breite des Webeblatts betrug im Allgemeinen 65-80 cm. Als Werkstatt diente das Wohnhaus. Das Weben konnte bei der Nachbarin beinah f�r die H�lfte des Marktpreises besorgt werden. "Eine echte Weberin schafft 5 m am Tag"338. Diese schwere Arbeit wurde aber schlecht bezahlt. Mehr Verdienst war f�r dekorative Webereiarbeiten zu erhalten.339 So blieben Wolle und Leinen die Grundmaterialien, aus denen die Hosen der M�nner und die R�cke und Sch�rzen der Frauen hergestellt wurden. Socken und Str�mpfe blieben ungebr�uchlich. Viele liefen barfu� herum, oder man verwandte die traditionellen Fu�lappen, um die Bastschuhe mit Schn�ren gezogen wurden.340 Auch das Schuhwerk wurde autark hergestellt: "Statt Schuhen benutzen sie vorwiegend Bastschuhe aus Rinde, die sich zum Begehen des Terrains besonders eignen, da sie kein Wasser einziehen und leicht trocknen"341. Wohlhabendere M�nner trugen Lederstiefel, die z.B. auf dem Pinsker Markt zu erwerben waren342. Die Bauernschaft scheint selbst keine Stiefel hergestellt zu haben.

334Orynzyna 1937:78; vgl. auch Bienkiewicz 1927:47 335Orynzyna 1937:71 336ebd. 337Orynzyna 1937:72 338ebd. 339Orynzyna 1937:73 340Boyd 1936:394 341Grodzicki 1936b:248 342Boyd 1936:394

Eines der verbreitetesten Gewerbe in Davidharadok war das Schuhmachergewerbe343. Die Eigenproduktion von Kleidung war ein Ausdruck der mangelnden Einbindung in die Geldwirtschaft. Sie hielt sich aber auch deshalb aufrecht, weil die �rtliche Bev�lkerung ihre eigenen Bed�rfnisse am besten kannte, und wu�te, wie man sie befriedigen konnte. Gewaschen wurde die Kleidung, wie es eben ging. B�swillige Beobachter reden davon, da� die Poleschuken ihre Kleidung nie wechselten und daher stanken.344 Boyd beobachtete, wie Frauen die Kleidung in den kalten Gew�ssern wuschen345 und sie mit einem Holzpaddel auf flache Steine schlugen346.

Die Polesische Gesellschaft f�r Dorfindustrie [Poleskie Towarzystwo Przemyslu Ludowego] bem�hte sich darum, den Absatz von Stickereien zu f�rdern; einen Markt gab es dabei nur f�r Touristen. Die �berproduktion an dem wenig nachgefragten Stickwerk trieb die Preise in den Keller347, und dieser Umstand wirkte sich verschlechternd auf die Qualit�t aus. Accessoires wurden selten verkauft; runde und ovale Strohh�te wurden f�r den eigenen Bedarf geflochten, ebenso Weidenk�rbe aus Korbweide und Kiefernwurzeln348.

Etwas spezialisierter war das T�pfereigewerbe; die sich hiermit Besch�ftigenden betrieben den Landbau meist nur als Zuerwerb vor allem in den Gebieten Horodno und Pruzany. Ganze Familien besch�ftigten sich mit dem Drehen und dem Brennen des Tons349. Gew�hnlich wurde in einem normalen Brotofen gebrannt, aber immer h�ufiger waren Eisen- und Emaille�fen anzutreffen. Geschirr, Vasen, Urnen und dergleichen wurden zwar immer gebraucht, aber das T�pfereiwesen war ein sterbendes Gewerbe, der Absatz war unbefriedigend. Absetzbar wurden die T�pfereiprodukte immer mehr als Kunsthandwerks- und weniger als Gebrauchsgegenst�nde.350 * Die ersten Fabriken, so bef�rchtet Orynzyna,351 w�rden das Dorfhandwerk zerst�ren. Zur St�tzung handwerklicher Nebent�tigkeiten der b�uerlichen Bev�lkerung sollten Basare eingerichtet, Kollektionen gesammelt und Subventionen von der Regierung bereitgestellt werden352. Die Frage, wie das Dorfhandwerk erhalten werde k�nne, stellt sich f�r Orynzyna aber eher aus einem kulturellen,

343Wantowski 1936:32f 344B�rgener 1939:53 spricht von "halbj�hrigem Tragen" 345vgl. Bild bei Ossendowski 127 346Boyd 1936:389 347Orynzyna 1937:73 348ebd.:80 349Orynzyna 1937:77 350ebd.:78 351Orynzyna 1937:81 352Orynzyna 1937:82f

fast touristischen als einem �konomischen Blickwinkel. Die b�uerliche Arbeit im Bereich Hausindustrie steckte in allen Zweigen in einem typisch vormodernen Dilemma, welches f�r Deutschland anhand des Verlagswesens im 18.Jahrhundert aufgezeigt wurde: die Bauernfamilien haben genug Zeit, um sich dieser und jener T�tigkeit hinzugeben - besonders im Winter - und auf ein Zubrot zu hoffen. Da sich aber alle Bauernfamilien in derselben Situation befinden, wird das Warenangebot im Verh�ltnis zur Nachfrage gro� und der Preis niedrig. Die Familien k�nnen dabei sogar einen derma�en niedrigen "Arbeitslohn" veranschlagen, der, w�rden sie die T�tigkeit als einzige Besch�ftigung durchf�hren, nicht einmal zum �berleben reichen w�rde. Nur deshalb, weil sie haupts�chlich von der Landwirtschaft leben und weil sie sonst - aus der Sicht der �konomen - "nichts zu tun" haben, lohnt diese T�tigkeit �berhaupt.353 Dieser Mechanismus verhinderte sowohl eine st�rkere Industrialisierung als auch die Bereitschaft von Eltern, ihre Kinder in die Schule zu schicken. Ersteres f�llt auch Orynzyna auf; sie h�lt es aber f�r besser, die Industrialisierung zur�ckzustellen, damit die Bev�lkerung aus Polen B �berleben k�nne. So pl�diert sie daf�r, da� Krankenh�user, Haftanstalten und die Schutzinstitutionen [ochrona] den Bedarf an Leinenbekleidung bei der Dorfindustrie befriedigen sollten.354

Die Wojewodschaft Polesien war die am meisten versumpfte Polens, wies somit die gr��ten Torfvorkommen auf.355 �hnlich wie in Ostpolesien wurde der Torf als Rohstoff und Energietr�gerquelle erst entdeckt. Die Poleschuken konnten Torf weiterhin nur in begrenztem Ma�e einsetzen: "Zudem kannte die Bev�lkerung selbst nicht die Wirtschaftlichkeit und Eigent�mlichkeiten [wlasciwosci] der Torfb�den, sie konnte sie nicht wirtschaftlich nutzen, interessierte sich nicht f�r die durchgef�hrten Arbeiten".356 Die "Er�ffnung" eines neuen Produkt- und Produktionszweiges konnte nicht so schnell in Angriff genommen werden, da die wissenschaftlichen Vorarbeiten noch nicht durchgef�hrt worden waren: Die Torfnutzung konnte ja nur im Zusammenhang mit Flu�regulierungen und Meliorationen projektiert werden. Es wurde zwischen Niedrig-, �bergangs- und Hoch(=Sphagnum)-Mooren unterschieden, wovon letztere schlecht in der Landwirtschaft als D�nger einsetzbar, aber gut entz�ndbar sind.357 Andere Forscher unterschieden f�nf Torfgruppen.358

353vgl. Medick 1977, besonders S.104-108 354Orynzyna 1937:75 355Dabowska 1939:92 356Sobolewski 1935:212 357Dabowska 1939:87 358Sobolewski 1935:213f

Zur industriellen Ausbeutung der polesischen Torfvorkommen waren die Bedingungen jedoch ung�nstig, da die Torfe schlechte Qualit�t und eine geringe Tiefe aufwiesen.359 So ergab sich auch von dieser Seite her kein Einschnitt in die b�uerliche Produktions- und Lebensweise.

8.3.6. Transport und Handel als b�uerliche Arbeit Die in der Zarenzeit nicht gewarteten und in Krieg und B�rgerkrieg z.T. zerst�rten Kan�le wurden nicht richtig renoviert, z.T. existierten sie nur noch auf der Landkarte360. Der Oginski-Kanal, der dem "Gro�besitz geh�rte",361 verschlammte in der Zwischenkriegszeit. Der K�nigskanal (Dnepr-Bug-Kanal) mu�te dringend modernisiert werden, da auf ihm nur relativ kleine Frachtschiffe fahren konnten und dabei 19 Schleusen zwischen Prypjac' und Bug passieren mu�ten. Es gab viele Pl�ne:362 u.a. sollte der K�nigskanal auf elf Schleusen reduziert werden, Querverbindungen zum Njeman und nach Wolhynien verbessert bzw. geschaffen werden. Es wurde aber nichts daraus. Aus dem Bereich des Wassertransportes interessiert in Rahmen dieser Arbeit die Fl��erei, die von den Bauern als Nebenerwerb betrieben wurde. F�r diesen Wirtschaftszweig existierte bez�glich Westpolesien seit 1921 eine Statistik. Danach wurden 1923 und 1924 in der Wojewodschaft 120.000 t Holz gefl��t. 1925 und 1926 lag die Fl��erei mit 60.000 bis 80.000 t j�hrlich darnieder, weil in Deutschland der Holzmarkt eine Depression zu verzeichen hatte.363 1928 war wiederum ein Rekordjahr mit 200.000 t gefl��tem Holz. Die Depression 1930 bis 1932 (je 30.000t) wirkte sich scharf aus, 1935 wurde wieder die 200.000-t-Marke erreicht364. �hnlich wie die Menge des gefl��ten Holzes entwickelten sich auch die Preise f�r dieses zur Ware gewordene Naturgut. Die Fl��erei wurde nach wie vor als konjunkturabh�ngiges Gelegenheitsgewerbe betrieben, einen st�ndigen Ein-Mann-Betrieb (es fl��ten nur M�nner) konnte man daraus nicht machen, da die Fl��erei ja nur zu bestimmten Jahreszeiten m�glich war (�berflutung, Vereisung). Die Grenze zu BSSR und USSR soll ein gro�er Hemmschuh f�r den Holzabsatz und damit f�r Holztransport und Holzproduktion gewesen sein. "Ru�land, Ru�land, murmeln die Holzh�ndler, das ist der Schl�ssel". Die St�dter w�nschten sich eine Belebung des Absatzes. "Von den sieben S�gewerken, die Pinsk besitzt, arbeiten eins oder zwei"365. Das Transportgewerbe florierte nicht, und es gab somit keine M�glichkeit f�r die Bauern, aus einem Transport ihrer eigenen Produkte ins Transportgewerbe hin�berzuwachsen.

359Dabowska 1939:92 360Sobolewski 1935:212 361Sobolewski 1935: 215 362Ausbaupl�ne 1937:14-17 363Alles nach Tochtermann 1936:13 364ebd. 365alles Hepke 1934:19

Aber bis die Ware erst einmal auf einem gr��eren Schiff geladen werden konnte, mu�te sie erstmal dort hingekommen sein. Und dazu - wie auch zum "innerbetrieblichen Transport" - wurden die von alters her verwendeten kleinen B�tchen benutzt, auf denen Pferde366, Ochsen, K�he, Pfl�ge, Heu, kurz alles transportiert wurde. Sogar die Polizei benutzte sie f�r ihre Patrouillen. Die Bauernschaft mu�te selbst f�r den Transport von G�tern und Personen sorgen, sie baute auch selbst die Boote, Wagen und Schlitten. Auch zu Lande beschr�nkte sich die b�uerliche Transportt�tigkeit auf Fuhren in eigener Sache und auf Gelegenheitsauftr�ge. Die Wege waren nicht verbessert, neue Eisenbahnen nicht gebaut worden, so da� die b�uerliche Wirtschaft in diesem Bereich keinen �nderungen unterlag.

B�uerlicher Handel setzt nicht nur entsprechende �u�ere Bedingungen, sondern auch die M�glichkeit und den Willen der Bauern zu handeln voraus. Einen �berschu� an Grundnahrungsmitteln und damit eine M�glichkeit zur Ausfuhr im gr��eren Ma�stab gab es aber allenfalls bei gr��eren Landg�tern367. Ein gro�es "Hindernis" f�r das Hineinwachsen der Bauernfamilien in die Geldwirtschaft wurde darin gesehen, da� sie ihre Produkte nicht selbst vermarkteten. Es gibt allerdings unterschiedliche Angaben dar�ber, wo sich der orthodoxe Bauer und der zumeist j�dische H�ndler begegneten. Einerseits gingen die Bauern selbst auf den Markt (Boyd beobachtete den Markt in Pinsk am 3.10.1934), und zwar oft von 30 km weit her, nur um z.B. Holz zu verkaufen und daf�r etwas Petroleum zu erwerben. Anl��lich eines Jahrmarktes kamen die B�uerinnnen und Bauern nicht nur f�r einen Tag nach Pinsk, sondern �bernachteten in ihren Booten368. Andererseits fuhren die j�dischen H�ndler auf dem Land umher. "Der ganze Handel befindet sich in der Hand von Juden, sie kaufen das Vieh in den D�rfern und Gutsh�fen vor Ort"; in den �stlichen Kreisen habe sich "die Bev�lkerung in einem Ausma� an diese Form des Handels gew�hnt, da� sie nicht einmal die Jahrm�rkte benutzt"369. Die j�dischen H�ndler zahlten einen willk�rlichen Preis, da sie die Bedingungen kennten. Wie beim Viehhandel wird auch in der Fischbranche den Juden vorgeworfen, sie w�rden einen geregelten Handel unm�glich machten, ganz so, als w�re ihr Handel gar kein Handel, ihr Produkteinkauf kein Produkteinkauf und als h�tten nur

366Abb. b Boyd; auch mit Wagen bei Ossendowski 42/43 367Niezbrzycki 1930:313 368Boyd 1936:391 369Bienkiewicz 1927:45

Polen und polnische Firmen Transportkosten. Zudem wurde erw�hnt, da� die Transportkosten zu hoch seien und absurderweise die Waggons leer aus Polesien abfuhren.370 Auch das Einkaufen war f�r die polesische Landbev�lkerung nicht einfach: "Mit Bedauern mu� festgestellt werden, da� es auf den D�rfern keine L�den gibt, in denen die Bauern Artikel des t�glichen Bedarfs wie Zigaretten, Petroleum, Nadeln, Nieten usw. erwerben k�nnten"371. Als Grund wird angegeben, da� "die Gemeinder�te" "sie gedankenlos mit Steuern knebeln".372

8.3.7. Familienstruktur, Arbeitsorganisation und Arbeitsteilung Obrebski beobachtet eine "R�ckbildung der Institutionen der gesellschaftlichen Selbsthilfe, solcher wie der gewohnheitsrechtlichen talaka, der gegenseitigen nachbarschaftlichen Hilfe, der Hilfe der Reichen f�r die Armen, der Selbsthilfe der Stammesgenossen". Als Ursache hierf�r sieht er nicht nur eine Verdinglichung [orzeczowienie] "oder, genauer gesagt, eine Kommerzialisierung der innerd�rflichen Beziehungen"; auch verursache eine allgemeine Verarmung des Dorfes "eine Verunm�glichung der Anwendung traditioneller Br�uche der Hilfe".373 Obrebski geht also davon aus, da� gegenseitige Hilfe ein Luxus ist, den sich jemand nur dann leistet, wenn er selbst versorgt ist, und nicht weil der Brauch es zwingend vorschreibt, eine f�r einen Ethnologen (besonders f�r einen Sch�ler B.Malinowskis) ungew�hnliche Sicht.

Die grunds�tzlich herrschende Lebensform und Grundeinheit der Arbeitsorganisation in Westpolesien blieb weiterhin die Kleinfamilie. Dies war jetzt f�r die Forscher durch eigene Anschauung verifizierbar; Obrebski, der sich f�r die massenpsychologischen Seiten des Wandlungsprozesses im Leben der westpolesischen Bauernschaft interessierte, schlo� daraus, da� die fr�her existierende Gro�familie "zerfallen" sei und baut auf dieser These einige weitere Thesen auf374. Die Familien hatten zumeist ein eigenes Haus. Diese These ergibt sich - genauso wie f�r Ostpolesien - daraus, da� nach der Z�hlung von 1921 auf die 730.638 nichtst�dtischen Einwohner 126.251 Wohngeb�ude entfielen, durchschnittlich 5,6 Personen je Wohngeb�ude375. Auf Kreisebene schwanken die durchschittlichen Zahlen der Hausbewohner zwischen 5,2 (Pruzany) und 6,7(Brest).

370Bienkiewicz 1927:46 371Polesie 26.8.28,Heft 4, S.8 372ebd. 373Alles Obrebski 1936a:419 374Obrebski 1936a:418; �berhaupt hat sich ja erst in letzter Zeit die Erkenntnis durchgesetzt, da� die Rede von der b�uerlichen Gro�familie eher eine Legende war 375absolute Angaben nach Skorowidz X; vgl. Tabelle #84 im Anhang

Aus der Familiengr��e oder, was ja nicht immer dasselbe ist, aus der Anzahl der Hausbewohner darf jedoch nicht schematisch auf die Organisation der b�uerlichen Wirtschaft geschlossen werden. Die Familie blieb zwar die Einheit, in der besprochen wurde, wie die Arbeit zu organisieren sei. Die Arbeitsteilung und die Zusammenarbeit im Dorf bedurfte aber nicht des Zusammenwohnens in einem Haus, da ja alle Dorfbewohner st�ndig erreichbar und Absprachen �ber die Organisation der Arbeit m�glich waren.

Wenn Zeitgenossen der 20er und 30er Jahre ihre Gegenwart beschrieben, so suchten sie die Ursachen f�r die Arbeitseinstellung der Poleschuken nicht in aktuellen Arbeits- und Lebensbedingungen, sondern unhistorisch in der Tradition b�uerlicher Lebenskunst. Geradezu unheimlich wirkt hierbei der deterministische Biologismus der Sch�delformvermesser376, aber auch der einfache Hinweis auf die "spezifischen Terrainbedingungen" bleibt unbegr�ndet: die "schwere, ertragsarme Arbeit" f�hre zu "Melancholie" und "Konservatismus"; "Ausdauer und Widerstandskraft kollidieren hier ziemlich merkw�rdig mit einer geradezu unbegrenzten Faulheit und Tr�gheit"377. Aber da� harte Arbeit den Wunsch nach Faulheit hervorruft, ist nichts spezifisch polesisches. Die steigende Bev�lkerungsziffer war es vielmehr, die - unter Aufrechterhaltung vormoderner Schranken der Mobilit�t - das Verharren in einer extensiven Wirtschaftsweise erzwang; von einem modernen Blickwinkel wurde das Prinzip Subsistenzwirtschaft nun aber als Faulheit ausgelegt, weil eine Marktproduktion als gesellschaftlich n�tzlich angesehen wurde.

376Mydlarski 1939 377alles Niezbrzycki 1930:294

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9. VERGLEICH UND SCHLUSS Eine stark sinkende Sterberate hatte seit der Zarenzeit in den Gesellschaften Ost- wie Westpolesiens eine Bev�lkerungsexplosion hervorgerufen, die in der Zwischenkriegszeit anhielt und nun zu einer sowohl extensiveren als auch intensiveren Wirtschaftweise zwang. Denn obwohl die Region weiterhin d�nn besiedelt war, gab es wegen des geringen Anteils der landwirtschaftlichen Nutzfl�che an der Gesamtfl�che Landhunger bzw. - in Begriffen der Verwaltung monarchistischer, kapitalistischer oder sozialistischer Staaten gesprochen - l�ndliche �berbev�lkerung. Ost- und Westpolesien geh�rten - seit 1920 vertraglich abgesichert - zwei unterschiedlichen Staaten an, in denen unterschiedliche Agrarverfassungssysteme herrschten. W�hrend in der BSSR das komplizierte sp�tzaristische Bodenrecht durch die Revolution mit einem Schlag beseitigt worden war und die Bauern (nach staatswirtschaftlichen Experimenten in den Jahren 1919 und 1920) zus�tzliche Weide- und Ackerb�den zur st�ndigen Nutzung erhalten hatten, blieben in Polen alte Rechte geltend; die Nutzung der Wald- und Weideservitute blieb dort ein langj�hriger Streitpunkt zwischen Bauern und Gro�grundbesitz, die Durchf�hrung einer Landaufteilung in geringem Ausma� und gegen Entsch�digung blieb vom guten Willen der polnisch-katholischen Gro�grundbesitzer abh�ngig. W�hrend in Ostpolesien die Kapitalisierung des Bodens gesetzlich verboten war und die Bauernfamilien nur in der Verwaltung und in anderen Bauernfamilien einen Gegner sahen, konnte in Westpolesien die Bauernschaft froh sein, da� ihr Boden f�r Ortsfremde uninteressant blieb. Allerdings konnte in der BSSR allein die Landaufteilung, die dort pro Hof durchschnittlich 1,3 ha einbrachte, den Landhunger nicht befriedigen; vielmehr ergriffen die Beh�rden unter dem Volkskommissar f�r Landwirtschaft, Zmitrok Pryscepa�, Ma�nahmen zur Aussiedlung in entfernte Gebiete und vor allem zur Umsiedlung innerhalb der heimischen Gegenden, es wurden neue Kleinsiedlungen - auch f�r ehemals nichtb�uerliche Juden - geschaffen. So konnte nicht nur altes grundherrliches und neues Land eingerichtet werden, es konnten auch die in Polesien langen "innerbetrieblichen" Transportwege verkleinert werden. Diese Gesundung der Siedlungsstruktur wurde gegen Ende der 30er Jahre wieder um der besseren Kontrollierbarkeit der H�fe willen zur�ckgenommen: mit Gewalt wurden Einzelh�fe in D�rfer verpflanzt. In Westpolesien hingegen wurde die ungesunde Siedlungsstruktur nicht nur konserviert, es wurden auch milit�risch verdiente Kr�fte als Neusiedler in die Wojewodschaft Polesien geschickt und mit reichlich Land ausgestattet; dieses osadnictwo stellte aber keinen wirtschaftlichen Faktor dar, die Angelegenheit war eher ein Politikum. Durch eine hohe Zahl von Familien, die im 1. Weltkrieg ins Innere des Russischen Reiches geschickt worden waren und nun nach Westpolesien heimkehrten, wurde die alte Bev�lkerungsdichte von 1897 im Jahre 1931 wieder erreicht; der Landhunger wurde durch die Heimkehrer verst�rkt. * So sind denn in beiden Teilen Polesiens die Ma�nahmen der Regierungen und Verwaltungen im Bereich der Steuer- und Kreditpolitik, der agronomischen Beratung und der Sumpfmelioration allesamt als Absicht deutbar, den Landhunger zu stillen. In der BSSR sollten die b�uerlichen Einzelh�fe durch eine niedrige landwirtschaftliche Direktsteuer, einen hohen Anteil der staatlichen Ausgaben f�r Landwirtschaft und eine Versorgung mit Krediten auf dem Wege der Errichtung eines fl�chendeckenden Netzes von Kreditgenossenschaften in die Geldwirtschaft hineinwachsen. Jedoch gelang dies ebensowenig wie in Polen, da die Bauern hier wie dort kein Interesse an einer Erh�hung der Warenrate hatten - in Ostpolesien freuten sie sich �ber niedrige Steuern, Kredite nahmen sie aber nur auf, um Schulden zu bezahlen oder Konsumg�ter zu erwerben. In Westpolesien gerieten die Bauern, da sie keine Kredite bekamen oder aufnehmen wollten, in Steuerschuld und wurden vom Staat zur Abarbeitung der Steuern gezwungen. In Ostpolesien ging die Staatsverwaltung zuerst zu einer Zwangsabgabe ("Kontrahierung"), dann zu einer grunds�tzlichen und ideologisch begr�ndeten Befehlswirtschaft �ber, um die Austauschverbindungen zwischen Dorf und Staat in ihrem Sinne zu gestalten: mit der Zwangskollektivierung ab 1929 wurde der Hang der Familienwirtschaften zur Subsistenzproduktion, den ausgerechnet lediglich die zum Feind erkl�rte mittelb�uerliche sogenannte Kulakenschicht �berwunden hatte, durch wirtschaftliche, finanzielle und paramilit�rische Gewalt aufgebrochen und durch staatlich bewertete Lohnarbeit ersetzt - ein Proze�, der im sumpfigen Polesien erst 1939 abgeschlossen war. Eine Einbindung der Bauernwirtschaften in die Geldwirtschaft und einen Anreiz zur st�rkeren Marktproduktion h�tten die staatlichen Verwaltungen nur durch eine F�rderung des Absatzes der Produkte der b�uerlichen Wirtschaft, also durch einen Aufkauf dieser Produkte zu �berh�hten Preisen oder durch andere Arten der Subventionierung bewirken k�nnen. In den 20er Jahren war dies in der BSSR Ziel der Landwirtschaftspolitik. Aber sowohl Polen als auch die BSSR h�tten sich solch eine Politik aus finanziellen Gr�nden nicht leisten k�nnen. Zudem wurden in der BSSR sp�testens seit 1929 im Gegenteil niedrige Preise f�r landwirtschaftliche G�ter als der Arbeiter- und Bauernmacht dienlich angesehen, eine Idee, auf die auch arme Bauern nicht kamen. Den Bauernfamilien war es

egal, ob ein "Hungerpreis" f�r ihre Waren von den Gesetzen des Marktes oder der Willk�r der Staatsverwaltung (des sogenannten Planes) diktiert wurde.

Die Bauernfamilien waren sozial immobil geblieben: im Westen aufgrund ihrer weiterhin fast autarken Produktion, im Osten ab 1930 auch noch wegen eines von oben verordneten Verbots zur freien Bewegung f�r Kolchosangeh�rige. Der Urbanisierungsgrad, der in der gesamten BSSR 1939 25% (in Ostpolesien also weniger) und in der Wojewodschaft Polesie 18% (1931) betragen hatte, blieb gering und konnte den Landhunger nicht verringern. Beide Teile Polesiens hatten mit dem Erbe des Russischen Reiches zu k�mpfen, in dem die geographische und berufliche Mobilit�t der die Stetl [mjastecki] bewohnenden Juden stark eingeschr�nkt war, wodurch nun in der Zwischenkriegszeit die soziale Mobilit�t der Bauernschaft in Richtung Handel und Handwerk verhindert wurde. In beiden Teilen Polesiens wurde aber auch das Wasserstra�en-, Eisenbahn- und Wegenetz kaum gewartet oder gar verbessert, es wies einen k�mmerlichen Zustand auf,1 auch ein Kanalisations- und Elektrizit�tsnetz wurde nicht geschaffen.

Auch mit technischen und agronomischen Mitteln wurde das Landproblem weder in Ost- noch in Westpolesien gel�st. Es wurden zwar hier wie dort Anstrengungen unternommen, nach d�nischem und niederl�ndischem Vorbild die Anbau- und Weidefl�chen durch Flu�regulierungen und Sumpftrockenlegungen zu erh�hen und die Boden- und Viehnutzung durch institutionell gest�tzte Ma�nahmen zu intensivieren, doch blieben ebenso in beiden Teilen diese modernen Ziele staatlicher Planung nicht nur mangels Personal, Geld und knowhow d�rftig und unbefriedigend, sondern auch aufgrund der Einstellung der Bauernfamilien. In der Wojewodschaft Polesie stie� die agronomische Beratung auch aufgrund nationaler Gegens�tze und einer Nichtber�cksichtigung �rtlicher Besonderheiten auf Hindernisse; in beiden Regionen konnte die agronomische Organisation keinen Fu� fassen. In der Sowjetunion wurden in den 30er Jahren vollkommen absurde Ma�nahmen wie das Schweinedekret, die Zerst�rung von Handm�hlen und die Versendung von Traktoren in Sumpfgebiete ergriffen.

In Westpolesien wurde allm�hlich die Weiterverarbeitung land- und fischwirtschaftlicher Produkte in K�hl- und Schlachth�usern sowie die Verbesserung der veterin�ren Aufsicht organisiert, doch die Klagen, da� dies allein die Struktur und Organisation der b�uerlichen Wirtschaft nicht aufbrechen k�nne, blieben un�berh�rbar.

1vgl. die Klagen in Milit�rgeographische Angaben 1941:54,56,59

* Schon im B�rgerkrieg hatte die ortsans�ssige Bev�lkerung einen negativen Eindruck von den offiziellen und selbsternannten Vertretern des polnischen wie auch des sowjetischen Staates bekommen. Hatte sich dieses negative Verh�ltnis stabilisiert, so verfolgten die Bauernfamilien die alte Strategie, sich von den Staatsverwaltungen m�glichst wenig in die Karten schauen zu lassen, eine Strategie, die im polesischen Natur- und Infrastrukturraum erfolgversprechend war. Dasjenige, was den modernen und zivilisierten Au�enstehenden als "urgesellschaftliche Elemente enthaltend" und "steinzeitlich" erschien, l��t sich als folgerichtiges Handeln deuten. Die Poleschuken wollten nicht preisgeben, wieviel Land und was f�r Land sie besa�en, und verhielten sich daher negativ gegen�ber Landvermessern und anderen Landeinrichtern - egal, ob sie aufgrund der Vermessungsergebnisse bef�rchteten, gem�� einer in Minsk oder Moskau ausgebr�teten Norm als Kulaken abgestempelt zu werden (Ostpolesien), oder ob sie bef�rchteten, der Boden w�rde durch seine Vermessung zu Kapital (Westpolesien). Sie wollten keine regelrechte Fruchtfolge einf�hren, damit die Beh�rden keine regelm��igen Steuerpflichten berechnen konnten. Sie wollten nicht preisgeben, wieviel Vieh sie besa�en und versuchten, es zu verstecken - egal, ob sie der Besteuerung oder der Beschlagnahmung (beides kam in beiden Gebieten vor) entgehen wollten. Sie z�gerten, die Kinder zur Schule zu schicken, Kredite aufzunehmen, in echte und falsche Genossenschaften einzutreten, um der Staatsverwaltung keine M�glichkeit zur Beeinflussung ihrer Sph�re zu gew�hren. Sie wollten - unter den jeweiligen �u�eren Bedingungen - selbst entscheiden, wann, wo und wie sich der G�teraustausch vollziehen sollte; und falls ihnen diese Bedingungen nicht zusagten, tauschten sie ihre Produkte eben in geringerem Ma�e aus. Daher bauten sie m�glichst solche Produkte an, die sie auch selbst gebrauchen konnten. Kurz, sie verfolgten jene f�r sie typischen Strategien, die Spittler unter dem Stichwort Passivit�t beschreibt, und an der sich die Verwaltungen die Z�hne ausbissen. Als letzte M�glichkeit sahen die Bauern an, mit der Geste der Verzweiflung gegen�ber den Staatsgewalten militant vorzugehen. In beiden Teilen verwandten sie dabei traditionelle Methoden wie Mord und Brandstiftung, riskierten sie den Konflikt mit der Exekutive. Solche Aktionen waren jedoch nie von dauerhaftem Erfolg. * Nachdem reformerische Kr�fte, die in beiden Republiken von Anfang an einen schweren Stand hatten (dies war in Westwei�ru�land auch eine Nationalit�tenfrage), in Polen ab 1926, als Pilsudski sich mit Radziwill kurzschlo�2, und in der BSSR ab 1929, als die sogenannten Nationaldemokraten inkriminiert wurden, keinen Platz mehr zur Verwirklichung ihrer Ideen hatten, reagierte die jeweilige �ffentliche Hand auf diese alte b�uerliche Strategie mit alten Methoden. Als eine Aufweichung der fast autarken Wirtschaftsweise und eine Modernisierung nicht gelungen war, wurden in West- wie in Ostpolesien wie zu Zarens Zeiten kleine Strafen verh�ngt oder gr��ere Pazifizierungsaktionen durchgef�hrt. W�hrend aber in Polen und in den 20er Jahren auch in der BSSR solche schubweisen und letztlich von Hilflosigkeit zeugenden Ma�nahmen zur Erreichung eines bestimmten Zweckes betrieben wurden, verselbst�ndigte sich die stalinistische Maschinerie, die anfangs in dem nachvollziehbaren - aber nicht zu billigenden - Auftrag in Gang gesetzt worden war, mit der Gewalt des St�rkeren die Kontrolle der Staatsverwaltung �ber die geschlossene Familien- und Dorfwirtschaft zu erringen, in K�rze zu einer irrational erscheinenden Terrorherrschaft. Nicht die Tatsache, da� die Exekutive den Bauern gegen�ber spontane und unberechenbare Gewalt entfesselte, war an der Kollektivwirtschaft neu, sondern die Tatsache, da� sie auch f�r den Staat offensichtlich kontraproduktiv war. * Selbst die Entwicklung der Bev�lkerungszahl wurde durch diese Entwicklungen beeinflu�t. Die nat�rliche Bev�lkerungszunahme lag in den 20er Jahren in Ost- wie in Westpolesien noch �u�erst hoch bei 22 Promille. W�hrend sie in der Wojewodschaft Polesie in den 30er Jahren wegen der nun doch sinkenden Geburtenrate abnahm, sind f�r Ostpolesien keine Daten zu erhalten; in der gesamten BSSR nahm die Bev�lkerung nur noch geringf�gig zu, unter anderem deshalb, weil es Hunger- und Lagertote gegeben hatte. * Bei steigender Bev�lkerungs- und damit Konsumentenzahl hatte nicht nur die noch nach St�ndegegens�tzen differenzierte Grundbesitzstruktur Westpolesiens, sondern auch die nivellierte Struktur Ostpolesiens eine stabilisierende Wirkung auf die traditionell vielseitige b�uerliche Wirtschaftsweise. Denn da selbst nach den Landumverteilungen den Poleschuken im Osten noch nicht genug Land zum Bes�en zur Verf�gung stand und beide Teile Polesiens Getreidezufuhrgebiete blieben, mu�ten die Bauernfamilien weiterhin ihre F�higkeiten in Viehhaltung, Bootsbau, Wagenbau, Hausbau, Spinnen, Weben, Fischen, Jagen und Sammeln un

2vgl. Poslwowie rewoljucyjne1961:285

ter Beweis stellen. Die b�uerliche Wirtschaftsweise blieb in Westpolesien und in den 20er Jahren auch in Ostpolesien mit all ihren Aspekten stark festgelegter famili�rer, aber geringer innerd�rflicher Arbeitsteilung, ausgepr�gter gegenseitiger d�rflicher Hilfe und Zusammenarbeit [talaka] und einer l�ndlichen Produktion in verschiedensten Bereichen erhalten. Geld wurde nur f�r Steuern, Salz und Naphta ben�tigt. Nur die Gutsh�fe und grundherrlichen Wirtschaften (Westpolesien) bzw. Sovchose (Ostpolesien) sowie die Holzwirtschaft (in beiden Teilen) wurden zu Sektoren der l�ndlichen polesischen Volkswirtschaft, in denen die Bauernfamilien nicht in Gestalt von Produzenten f�r den Eigenbedarf oder von kleinen Warenproduzenten, sondern als Lohnarbeiterinnen und Lohnarbeiter beteiligt waren. Letzteres �nderte sich in der Kolchoswirtschaft, es fehlen aber leider konkrete Informationen dar�ber, was auf welche Weise in den Kolchosen produziert wurde. * Doch blieben die einzelnen Faktoren der l�ndlichen Produktion Polesiens nicht unver�ndert starr. Die Saatfl�che vergr��erte sich in Westpolesien stetig, w�hrend sie in Ostpolesien bis 1932 stieg, f�r die Zeit danach jedoch niedrigere Werte angegeben wurden. F�r beide Teile Polesiens lassen die hohen Anteile der mit Roggen bes�ten Fl�chen darauf schlie�en, da� - aus gutem Grund - eine verbesserte Dreifelderwirtschaft nicht eingef�hrt wurde; nur die Kolchose schienen damit begonnen zu haben. Schnellreifende Sommergetreide wie Buchweizen und Gerste blieben in Gebrauch. In Ostpolesien konnte die Kommandowirtschaft eine Erh�hung der Anbaurate von technischen Kulturen wie Hanf und Kok-saghys bewirken, was �ber den Markt und die Subsistenzproduktion - siehe Westpolesien - nicht funktioniert h�tte. Der Anbau von Futterpflanzen als Gr�nbrache oder auch im Rahmen einer Fruchtwechselwirtschaft ergab in Polesien wenig Sinn, da es betr�chtliche nat�rliche Heuschl�ge gab. In Ostpolesien wie in Westpolesien lagen die Heuertr�ge bei rund 1200 kg/ha. Die Brutto-Ernteertr�ge f�r Getreide lagen in Westpolesien - laut Statistiken - mit 6-11 dt/ha stets h�her als in Ostpolesien (6-8 dt/ha). Der Pflug hatte auf den Bauernh�fen neben dem Hakenpflug [socha, sacha] einen Stammplatz erhalten. Als Zugkraft wurde der Ochse, in Westpolesien immer h�ufiger das Pferd eingesetzt, w�hrend in Ostpolesien die Ochsen, obwohl sie offensichtlich an die nat�rlichen Gegebenheiten gut angepa�t waren, schon ab 1925 verdr�ngt werden sollten. In der Kollektivierungszeit kontrollierte die Staatsverwaltung den b�uerlichen Ackerbau durch die Konzentration in MTS und durch die Aufstellung spezieller Traktoristenbrigaden auch �ber den "Hebel Zugkraft"; dies wirkte sich katastrophal auf die Produktion aus. Die Verwendung von Kunstd�nger erfolgte ausschlie�lich durch die Kolchose.

Im Bereich Viehhaltung gab es in West- wie auch anfangs in Ostpolesien eine Steigerung sowohl der absoluten St�ckzahl des Viehs wie auch der St�ckzahl pro Einwohner. Nach 1930 ging - wie in der Sowjetunion �berhaupt - die St�ckzahl der Tiere durch Notschlachtungen dramatisch zur�ck. Besonders betraf dies die Schafhaltung. Ganz im Gegensatz dazu konnte die Versorgung mit Schafen und auch mit Schweinen pro Kopf der Gesamtbev�lkerung in der Wojewodschaft Polesie sogar verbessert werden. Grob die H�lfte der Nutztiere blieb in Ostpolesien auch in den 30er Jahren in privater Nutzung au�erhalb und vor allem innerhalb der Kolchose. Dennoch brachte die Zwangskollektivierung einen Einschnitt in die b�uerliche Wirtschaftsweise, wie ihn weder Revolution noch Stolypinreform erwirkt hatten. Jetzt wurde angebaut, was die Beh�rde bzw. die Kolchosleitung befahl, und dabei wurde der jahreszeitliche Rhythmus, die �kologische Balance der Produktion und der Organisation der produktiven und unproduktiven b�uerlichen T�tigkeiten zerschlagen. * Die Statistiken weisen also f�r Westpolesien - auch f�r die Jahre 1930 bis 1934, die in Polen wie in der BSSR als Jahre der Nahrungsmittelkrise galten - bessere Werte auf. Allerdings handelt es sich nur um Durchschnittswerte. W�hrend in Ostpolesien nach der Zwangskollektivierung alle gleich arm waren, gab es auch in Westpolesien hungernde Familien, die sich wie ihre �stlichen Nachbarn von Peitzkern, Spelz, Wurzeln, Rinden und Gr�sern ern�hren mu�ten. Ein Vergleich der materiellen Lage der l�ndlichen Bev�lkerung Ost- und Westpolesiens sollte nicht anhand des leicht manipulierbaren statistischen und nichtstatistischen Materials �ber die b�uerliche Produktion und des b�uerlichen Konsums erfolgen, zumal f�r das Wohlbefinden die materielle Lage nicht das einzige Kriterium ist, wiewohl die Vermeidung von Hunger zum Hauptziel des Lebens der �rmeren Bev�lkerung wurde. Das Augenmerk sollte vielmehr auch darauf gerichtet werden, wie die Poleschuken selbst die unterschiedliche Situation in West- und Ostpolesien beurteilten. Da ihnen die sprachliche, schulische, politische und religi�se Bet�tigung nicht nur von oben beschr�nkt wurde, sondern Bauernfamilien auch von sich aus keinen rechten Bezug zur b�rgerlichen �ffentlichkeit (Presse, Memoiren) hatten, kann die Bewertung der Poleschuken ihrer eigenen Lage am ehesten durch ihr Abstimmungsverhalten "mit den F��en" bewertet werden: * In dem Anfang der 20er Jahre von beiden Staaten geduldeten Schmuggelhandel �ber die noch unbefestigte Grenze mit Waren des t�glichen und besonderen Bedarfs wurde Getreide nach Polen, hingegen Salz, Petroleum und landwirtschaft liche Ger�te in die BSSR geschmuggelt3. Als dieser Handel gr��eren Umfang annahm und seit 1922 von polnischer Seite aus legalisiert worden war, wurden auch Kerzen, Werkzeuge, Haushaltsgegenst�nde, Textilien, Farben und Schuhwerk in die BSSR geschafft; die H�ndler vertauschten daf�r "Gold, Platin, Schmuck, Pelzwaren und Bodenprodukte"4. Die terms of trade waren also so beschaffen, da� sie zu einem Nahrungsmittelexport aus Wei�ru�land f�hrten. Sp�ter wurde der Handel institutionalisiert und die Grenze befestigt. Diese Struktur des G�teraustausches bestand zwischen Wei�ru�land und Polen (ethnische Grenzen) in etwa auch schon 1913/14, als aus Wei�ru�land Wald-, Acker- und Viehprodukte, aus Polen landwirtschaftliche Ger�te, Steinkohle, Erd�l, Zucker, Phosphor und Seide exportiert wurden.5 In den 20er Jahren war die BSSR bei der ostslavischen Bev�lkerung beliebter als das zu Polen geh�rende Westwei�ru�land. Hlybinny spricht von "Massen-Grenz�berg�ngen der wei�ruthenischen Jugend in �stlicher Richtung".6 Es fragt sich allerdings, ob es sich nur um Menschen aus der d�nnen Intelligenzschicht oder auch um Bauern handelte. In den �stlichen Kreisen der Wojewodschaft Polesien waren in den 20er Jahren ganze D�rfer prosowjetisch7, w�hrend auf der anderen Seite der Grenze Aktivit�ten gegen die Sowjetmacht in Gang gebracht wurden. Es ist aber nicht m�glich, diese Aktivit�ten genau zu beurteilen. Nach der Zwangskollektivierung flohen Menschen in die umgekehrte Richtung - von Ost nach West. Laut Elski (=Laniewski) sollen einige tausend Wei�russen aus der BSSR nach Polen geflohen sein.8 Im Jahr 1932 ist in der Provinzzeitschrift Polesie �ber die gro�e Hungersnot in der Sowjetunion zu lesen. Im Vergleich mit der Lage in Westpolesien f�hrt das Blatt an: "Auch bei uns gibt es Hunger auf dem Dorf, besonders in den Kreisen Luninec und Stolin. Aber hier tun die Regierung und der BBWR alles, um diesen Leuten zu Hilfe zu eilen".9 Wie jedoch diese Hilfe aussah, wurde nirgends beschrieben. Die Grenze wurde von beiden Seiten befestigt und von Spezialeinheiten des NKVD bzw. der KOP bewacht. Mit Genugtuung werden in der Zeitschrift Polesie10 die Preise f�r verschiedene Nahrungsmittel in der Sowjetunion und in Polen verglichen (es wurden 100 Rubel als 30 Zloty bewertet). Danach kostete dunkles Roggenbrot in der Sowjetunion 4 bis 6 mal so viel wie in Polen, Kartoffeln das 10fache, Eier das 3fache. Dies veranschaulicht einerseits gut, da� durch das administrative Wirtschaftssystem der Sowjetunion das Warenangebot auf den M�rkten knapp und die Preise entsprechend hoch waren. Andererseits scheint der Autor, der diese Tabelle in

3Jena 1980:141f 4Schlesischer Kurier N� 36 vom 3.5.1922, zitiert in Jena 1980:146f 5Junggerc 1926:66 6Hlybinny 1959:47 7Tomaszewski 1963:138 8Elski 1931:pl.105,dt.539 9Polesie 5(17.3.1932,N�2,S.1 10Polesie 31.1.1937,H.4,S.6; ausf�hrliche Tabelle #85 im Anhang

der Absicht erstellt hat, den Vorzug der polnischen Landwirtschaft zu begr�nden, gar nicht zu merken, da� seine Perspektive eine andere als die der Lebensmittelproduzenten, also der Bauernfamilien ist: jene k�nnen sich �ber niedrige Preise gewi� nicht freuen. * Trotz der Fluchtbewegung hatte die BSSR sich in Westwei�ru�land noch nicht einen so schlechten Ruf erworben, da� sich auch die nichtpolnische Bev�lkerung der Wojewodschaft Polesie 1939 gegen die im Zuge des Hitler-Stalin-Paktes einr�ckende Rote Armee gewandt h�tte. Die Haltung der Bauernschaft in Westpolesien wurde durch die Zeitschrift Belaruski Front charakterisiert, die neben drei politischen Str�mungen eine vierte, unpolitische kannte: "The fourth group consists of the mass of peasantry whose philosophy is "say nothing, know nothing, do nothing". These, countless in numbers, are like cattle. They can be driven anywhere by a capable leader speaking with authority... Hungry, destitute, illiterate farmers, they are not interested in politics or social ideas of any sort. They are used to obeying the ecclesiastical and secular authorities, but they would enthusiatically follow anyone who promises them bread, and more land to produce bread."11 Gewi�, manche Jubelfeier zur Begr��ung der Rotarmisten im September 1939 wurde nur aus opportunistischen Gr�nden abgehalten; andere hatten geglaubt, da� die Rote Armee gegen Hitlers Truppen k�mpfen wolle12; und die Wahlen zum Anschlu� an die BSSR waren in Westpolesien genauso wie in anderen Regionen ein groteskes Trauerspiel13, aber viele Bauernfamilien sahen in der Roten Armee wirklich ihre Befreier, w�hrend die Gutsbesitzer es vorzogen, in den von den Deutschen besetzten Gebieten Zuflucht zu suchen. So mu�te sich ein Gro�grundbesitzer (4500 ha) von seinem F�rster empfehlen lassen: "�Ich bin der letzte, der hier wegwill, aber ich meine, da� in jedem Falle Sie dann nicht l�nger bleiben k�nnen. Die Bauern aus der Umgebung k�nnten gef�hrlich werden!�"14, worauf der Gutsherr zu sich selbst sprach: "Und du tr�gst die Schuld daran! Du mit deinen st�ndigen Berichten �ber Wilddiebe und Holzdiebstahl"15. Und als voriges Jahr die "f�nfzigj�hrige Ung�ltigkeit" des Hitler-Stalin-Paktes begangen wurde, fanden Kundgebungen im Baltikum und in Lemberg statt, die auf das geheime Zusatzprotokoll aufmerksam machten - nicht aber in Wei�ru�land.

11Belaruski front, 1.2.39, ins Englische �bersetzt in Vakar 1956:136 12Gross 1988:34f 13Gross 1988:71-103 14Orwid-Bulicz 1967:17 15ebd.

ANHANG 12.1. WICHTIGE ABK�RZUNGEN UND GLOSSAR

artel' 1. allgemein: Genossenschaft, oft mit konkreter gemeinschaftlicher Arbeit 2. im Sprachgebrauch der fr�hen Sowjet union: Genossenschaften, die au�er den Eigenschaften der TOZe gemeinsames totes und lebendiges Inventar aufweisen BBWR Bezpartijny Blok Wsp�lpracowania z Rzada= Parteiloser Block der Zusammenarbeit mit der Regierung Bednjaken b�uerliche Unterschicht BelKoopSojuz Belorusskij Sojuz Kooperativov= Wei�russischer Verband der Kooperativen BNR Belaruskaja Narodnaja R�spublika = Wei�russische Volksrepublik, *1918 BSH Belaruskaja Sacyjalistycnaja Hramada = Wei�russische Sozialistische Gemeinschaft, *1903 BSSR Belaruskaja Saveckaja Sacyjalistycnaja R�spublika, *1919 Bund Allgemeiner J�discher Arbeiterbund in Litauen, Polen und Ru�land, *1897 chutor Vom Dorf abgelegener Einzelhof; unpr�zise f�r "Einzelhof" grunds�tzlich CIK Centralnyj Ispolnitel'nyj Komitet= Zentrales Vollzugskomittee CKK Central'nyj Kontrol'nyj Komitet = Zentrales Kontrollkomitee CSU Central'noe Statisticeskoe Upravlenie = Zentralamt f�r Statistik DIN Deutsche Industrienorm Ds. 1 Desjatina = 1,0925 ha dt 1 Dezitonne = 1 Doppelzentner = 1 russ. Zentner = 100 kg = 1q (kwintal)

�KOSO Ekonomiceskoe sovescanie = �konomische Beratung, Abteilung des NarKomZem Feldgraswirtschaft Eine Fl�che wird abwechselnd als Acker und Weide genutzt Flurzwang Gemeinsame Fruchtfolge mehrerer H�fe (bei Gemengelage) Fruchtwechselwirtschaft Fruchtfolge in langj�hrigem regelrechtem Rhythmus funt Russisches Pfund = 409,5 Gramm GosZemImuscestvo Imuscestvo Gosudarstvennych Zemlej = Amt f�r Staaatliches Bodenverm�gen groszy Groschen (pl.); 1 Zl. = 100 groszy ha Hektar Hausindustrie Be- und Verarbeitung verschiedener Stoffe im Familienhaushalt InBelKult Instytut Belaruskaj Kultury = Institut f�r wei�russische Kultur Industrie Verarbeitung von Rohstoffen und Halbfabrikaten auf mechanischem oder chemischem Wege

IspolKom Ispolnitel'nyj Komitet = Vollzugskomittee KKO Komunalna Kasa Oszczednosci Klassische Dreifelder- Fruchtfolge, bei der auf drei wirtschaft Bodenparzellen jeweils in einem 3-Jahres- Rhythmus nacheinander Wintergetreide, Sommergetreide und Brache wechseln KSM=KomSoMol Kommunisticeskij Sojuz Molodezi = Kommunistischer Jugendverband kolchoz kollektivnoe chozjajstvo 1. bis ca. 1929: Sammelbegriff f�r TOZe, Artele und Landkommunen 2. ab ca. 1930: formalrechtlich wie artel' #2, in Wirklichkeit nach staatlichen Vorgaben t�tige Produktionseinheit Kommune (landwirtsch.) Boden, Betriebsmittel und Vieh sind vergesellschaftet; die Ernte wird nicht aufgeteilt KOP Korpus Ochrany Pograniczna = Grenzschutzkorps KP(b)B Kommunisticeskaja Partija (bol'seviki) Belorussii KP(b)U Kommunisticeskaja Partija (bol'seviki) Ukrainy KPLiB Kommunisticeskaja Partija Belorussii i Litvy KPZB Kamunistycnaja Partyja Zachodnjaj Belarusi Landarbeiter(in) Lohnarbeiter(in) in der Landwirtschaft Landlose Bauernfamilie Familie mit eigenem totem und lebendigem Inventar, aber ohne Landbesitz LKSMB Leninskij KSM Belorussii MTS Masinno-traktornaja Stancija = Maschinen- Traktoren-Station NarKomZem=NKZ Narodnyj Kommissariat Zemledelija = Volkskommissariat f�r Landwirtschaft NEP Novaja �konomiceskaja politika = Neue �konomische Politik (in der UdSSR,*1921) NKVD Narodnyj Kommissariat Vnutrennych Del = Volkskommissariat f�r Inneres OblIsKomZap Ispolnitel'nyj Komitee Zapadnoj Oblasti = Vollzugskomitee der Westregion [d.i. Wei�ru�land + Westru�land] Otrub auf eigene Rechnung wirtschaftender Einzelhof, der aus der obscina austrat, aber im Dorf lag (in Polesien mangels obscina ungebr�uchlich) PKO Powszechny Kasa Oszczednosci = Allgemeine Sparkasse PPS Polska Partia Socjalistyczna = Polnische Sozialistische Partei PSL Polskie Stronnictwo Ludowe = Polnische Bauern- (oder Volks-) Partei

Realerbteilung Erbfolge, bei der im Gegensatz zum Anerbenrecht der Boden und anderes Verm�gen zu gleichen Teilen unter den S�hnen [!] aufgeteilt wird RKP(b) Russkaja Kommunisticeskaja Partija (bol'seviki) RSFSR Russkaja sovjetskaja federativnaja socialisticeskaja Respublika RZW Rocznik Ziem Wschodnich ("Jahrbuch der Ostl�nder", erschien 1935-1939) Sel'sovet Sel'skij sovet = Gemeinderat Serednjaken b�uerliche Mittelschicht sovchoz sovetskoe chozjajstvo = "R�tewirtschaft", d.h. staatliches Landgut SovNarKom=SNK Sovet Narodnych Komisarov = Rat der Volkskommissare t Tonne = 1000 Kilogramm TOZ Tovariscestvo po sovmestnoj obrabotke zemli = Gesellschaft zur gemeinsamen Bodenbearbeitung; Gemeinschaft mit gemein- samem Bodenbesitz, aber famili�rem Besitz von Inventar UdSSR Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken Urwechselwirtschaft Ein Boden wird solange zum Ackerbau genutzt, bis er keine ausreichenden Ertr�ge mehr liefert, dann auf Jahre brach gelassen USSR Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik Verbesserte Dreifelder- wie ~Klassische Dreifelderwirtschaft, aber wirtschaft mit genutzter Brache VKP(b) Vsesojuznaja Kommunisticeskaja Partija (bol'seviki) Wirtschaftsjahr Zeitraum vom 1.10. bis 30.9. des folgenden Jahres Zl Zloty (Polnische W�hrung seit 1924) Zweifelderwirtschaft Fruchtfolge mit j�hrlich alternierender Bes�ung und Brache

Ma�e und Gewichte 1 Verst = 500 Slazen = 1,067 km 1 Faden = 3 Arsin = 48 Versok 1 Verst�= 1,138 km� = 10421 Desjatinen 1 Desjatine= 2400 Faden� = 1,0925 ha 1 Cetvert' = 2,099 hl 1 Pud = 40 Funt = 16,38 kg 1 Funt = 0,409 kg

12.2. ZUR ORTHOGRAPHIE UND UMSCHRIFT Orts- und Flu�namen und andere Begriffe wurden, falls sich ein deutscher Name eingeb�rgert hat, in dieser Version geschrieben, z.B. Brest, Moskau, Warschau; Polesien, Wolhynien; Dnepr; Sowjet, Zar. Sonstige Orts- und Flu�namen wurden in der Sprache geschrieben, die heute auf dem Territorium vorherrscht, in dem diese Orte und Fl�sse liegen, z.B. Bialystok, Vilnius, Kyiv, Homel', Smolensk. Hierbei wurden die Namen auch in Bezug auf alte Zeiten benutzt, was manchmal anachronistisch wirkt ("Gouvernement Vicebsk"). Nicht immer konnte der wei�russische Name einiger Orte herausgefunden werden. Manche Orte wurden von verschiedenen Autoren unterschiedlich geschrieben (Navahrudok und Novohradok; Horadnja und Hrodna). Auch die unterschiedliche Schreibweise vor und nach der stalinistischen Orthographiereform (vorher: Mensk, nachher: Minsk) konnte nicht immer in Rechnung gestellt werden; in der Regel wird die heutige Orthographie verwendet.

F�r die wei�russischen Namen wurde nicht das schon vor dem ersten Weltkrieg entwickelte lateinische wei�russische Alphabet, sondern die wissenschaftlichen Transliteration des kyrillischen wei�russischen Alphabets nach DIN 1460 verwendet. Die Buchstabenverbindung sc gibt dabei nicht den kyrillischen Buchstaben , sondern die Buchstabenverbindung wieder. Abweichend von den Gepflogenheiten einiger Bibliotheken mit wissenschaftlichem Auftrag wurde das wei�russische gem�� der DIN 1460 sowie entsprechend dem tats�chlichen Lautwert [vgl. Randow 1987:478] nicht mit g, sondern mit h wiedergegeben.

Bei den f�r die Sowjetunion typischen Abk�rzungen von K�rperschaften, bei denen ein Wort auf eine Silbe reduziert wird, wurde zur besseren Erkennbarkeit der jeweils erste Buchstabe der Silbe gro� geschrieben, z.B. KomSoMol, NarKomZem, es sei denn, die Begriffe sind eingeb�rgert (Kolchos).

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