Eintracht Frankfurt - Archiv (original) (raw)
Alfred Pfaff der Peitschenschwinger
TSV München 1860 — Eintracht Frankfurt 1:1 (1:0)
Die Schrecken dieses Nervenspieles noch im Gesicht, erwischte Riederwalds Spielausschußvorsitzender den Reporter in den Katakomben in der Tribüne: „Schreiben Sie das mal rein", rief er dem Eilboten vom Main nach, „daß es Unsinn ist, auf diesen Plätzen zu spielen." Ernst Berger sagte nicht zuviel. Wie Seiltänzer balancierten die Fußballer über den pulverschneebestreuten „Idiotenhügel" an der Grünwalder Straße. Nur mit dem Unterschied, daß man diesen Seiltänzern keine Balancierstange mitgegeben hatte. Jede Ballaufnahme wurde zu einem Abenteuer, jeder Schuß zu einem Wagnis, das mit höchster Wahrscheinlichkeit fehlschlug. Ein Wunder, daß unter diesen Umständen dennoch ein gerechtes Ergebnis heraussprang.
Immerhin, es dauerte bis zur 87. Minute, ehe die Sache ihre Richtigkeit hatte. Es dauerte bis zu dem Zeitpunkt, als die Riederwälder sich gerade damit abfinden wollten, daß ihnen im Münchener Spielkasino kein Glück beschieden war. Noch einmal hob Höfer, der nunmehr mitstürmte, den Ball auf den Elfmeterpunkt, und diesmal wurde Lindner eine Chance zuteil, die Kopfballspezialist Feigenspan anderthalb Stunden lang vergeblich suchte. Lindner kam frei zum köpfen, und es stand endlich 1:1.
In mehr als einem Dutzend Fällen vorher schon hätte dieser Ausgleich fallen können. Aber Meier, der Mann, der am meisten in Schußposition stand, schießt auf Schnee wie ein Sonntagsjäger, dem es in die Flinte schneit. Die Wucht, die sonst seine Schüsse auszeichnet, wurde ihm bei der Bodenglätte zum Verhängnis. Sein Standbein rutschte, und sei es auch nur um zwei Zentimeter; im Endeffekt wurden jedoch zehn Meter daraus, die der Ball am Ziel vorbeiflog. Nach der Pause lahmte dann Meier stark auf dem linken Fuß und fiel fast ganz aus. Was nutzte unter diesen Umständen die ganze Anstrengung der Eintracht, noch vor dem Wechsel die leidige l:0-Führung der Münchener auszulöschen. Daß sie für die Riederwälder notwendig war, gaben selbst die fanatischsten unter den 25.000 Zuschauern zu.
Horvat steckte noch mitten in einer jener schwachen Anfangsviertelstunden, die ihm in jedem Treffen arg zu schaffen machen, und ließ sich dazu verlocken, seinen Stammplatz am Elfmeterpunkt zu verlassen. Loy war auch noch nicht warm, und so nahm das Unheil seinen Lauf. Albert schanzte den Ball zwischen Horvat und Loy in den freien Raum, Loy stockte mitten im Herauslaufen und Börstler vollstreckte unbehindert.
„Sechzig, Sechzig, Sechzig!", posaunte die Stehtribüne, und die 60er verstanden diese Herausforderung zum Tanz sehr gut, daß es zehn Minuten lang nicht gut aussah um die Riederwälder. Der kleine stämmige Zausinger, einer von der Sorte, die sich selbst auf Glatteis nicht umwerfen lassen, rührte ihre Abwehr um und um, und da der als Mittelstürmer meist im Hintergrund fungierende Albert als Ausweichstation für festgerannte Stürmer immer bereitstand, ließen sich die Münchener allenfalls stoppen, aber nicht so schnell aus der Gefahrenzone vertreiben.
Um so höher muß die Leistung der Riederwälder veranschlagt werden, die für die Wendung sorgten. Sie hießen Schymik, Lindner und Eigenbrodt. Jawohl, Eigenbrodt! Eine Knieverletzung von Richard Kreß, die sich Ende der Woche derart verschlimmerte, daß seine Aufstellung nicht riskiert werden konnte, verhalf Eigenbrodt doch noch zu einem Platz in der ersten Mannschaft, zu einem der verantwortungsvollsten Plätze sogar, die an diesem Sonntag zu vergeben waren. Er spielte in Vertretung von Weilbächer, der in den Sturm vorrückte, linker Läufer, und spielte seinen Part gegen den wusseligen Zausinger in jeder Hinsicht mit einer Solidität, einer Sicherheit und einer taktisch klugen Einstellung herunter, die alle Erwartungen übertraf.
Indirekt freilich wirkte sich das Fehlen von Kreß um so deutlicher aus. Mit Weilbächer geriet ein Spieler in den Sturm, der das Stürmen endgültig verlernt hat. Zum Schießen fehlte ihm der Anlauf, zum Kombinieren das Feingefühl. Was er dazu tun konnte, war nur seine Kraft im Kampf Mann gegen Mann. Das übrige war Sache Lindners, von dem zeitweilig, besonders vor der Pause, alles ausging. Was die Eintracht auf diesem Boden an Schwung und Präzision aufbrachte, war Sache Pfaffs, der bis Mitte der zweiten Spielhälfte allerdings etwas zu kühl blieb, etwas zu abgebrüht wirkte, und war Sache Feigenspans, der seinen Mittelstürmerposten meist Lindner überließ, dafür jedoch als Rechtsaußen mit einigen Spurts aufwartete, die ihn in höchster Fahrt an seinem Bewacher Pfanzelt vorbei bis fast an den Torpfosten trugen. Nach zwanzig Minuten besaßen die Riederwälder klar die Oberhand und ließen sie bis etwa zehn Minuten nach der Pause nicht mehr los. Was in dieser Periode an Chancen mißglückte, geht auf keine Elefantenhaut.
Als München anschließend wieder auftaute, lag es weniger an den Münchenern selbst als an elf Riederwäldern, denen so viel zugestoßen war, daß Resignation an ihren Herzen fraß. In dieser höchsten Not packte es Alfred Pfaff. Aus dem sterilen Verstandesfußballer wurde eine Viertelstunde vor Schluß plötzlich der große Peitschenschwinger, der sich vor keinem Zweikampf mehr fürchtete, dem auf einmal all die Tricks wieder gelangen, die ihm bisher meist danebengingen, der sich hinten die Bälle holte und vorne in Stellung lief. Von Alfred läßt sich bei der Eintracht niemand lumpen. Lindner wurde noch einmal wuchtig, Feigenspan bog sich den Flanken entgegen wie eine Stahlfeder. Schymik und Eigenbrodt wirkten sowieso wie kraftstrotzende Trakehner, und Höfer trabte vor bis in die vorderste Linie. Aber das Pech klebte zäh. Weilbächer setzte sich vor dem leeren Tor den Ball zurecht und schob ihn dennoch ins Aus. Pfaff drosch einen Schrägschuß an den Pfosten, und dann erst war es soweit.
Die bereits siegestrunkenen Münchener Zuschauer trugen die Enttäuschung mit Fassung. Außer ihrem Verteidiger Metzger, ihrem linken Läufer Simon und ihrem Halbstürmer Zausinger besaßen sie keinen Spieler, der irgendeinen Eintracht-Mann wesentlich überragt hätte. Daß sie mit den Schneeverhältnissen besser zurechtkamen, lag weniger an ihrer Begabung als an ihrer Herkunft. An der Isar ist man halt den Schnee mehr gewohnt als am Main. Ludwig Dotzert (aus 'Der neue Sport' vom 02.02.1959)