Alt und abgeschoben. Der Pflegenotstand [...] (original) (raw)
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Claus Fussek, Sven Loerzer: Alt und abgeschoben. Der Pflegenotstand [...]
Rezensiert vonDr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind, 20.12.2005
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Claus Fussek, Sven Loerzer: Alt und abgeschoben. Der Pflegenotstand und die Würde des Menschen. Eine Kampfschrift.Verlag Herder GmbH(Freiburg, Basel, Wien) 2004. 192 Seiten. ISBN 978-3-451-28411-3. D: 19,90 EUR, A: 20,50 EUR, CH: 34,90 sFr.
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Zur Thematik des Buches
Die institutionalisierte Altenhilfe in Deutschland in Gestalt der stationären und ambulanten Dienste expandierte parallel zur gesellschaftlichen Alterung erst in den letzten drei bis vier Jahrzehnten. In dieser Zeit wandelte sich allmählich auch das gesellschaftliche Bild von der Altenpflege dergestalt, dass das Selbstverständnis der Altenpflege als eine genuin familiäre Aufgabe ("Altenpflege ist Familienpflege") schrittweise von der Vorstellung einer staatlichen Versorgungsleistung abgelöst wurde. Die Einführung der Pflegeversicherung Mitte der 90er Jahre trug mit entscheidend zu diesem Wandel der Sichtweise bei, der u. a. auch zu einer erhöhten Anspruchshaltung seitens aller Beteiligten gegenüber den Leistungen der Pflege- und Betreuungskräfte führte. Dies drückt sich u. a. in den mannigfachen Instrumentarien der Dokumentationspflicht, der Qualitätsnachweise und der engmaschigen Kontrollen ("Pflegevisiten" u. a.) aus. Es kann konstatiert werden, dass die Altenhilfe in ihrer zwitterhaften Funktion zwischen Familie und Institution gegenwärtig teilweise einem gesellschaftlichen Misstrauen ausgesetzt ist, dem sie wenig entgegenzusetzen vermag. Da augenblicklich ein allgemeinverbindlicher Rahmen zur Beurteilung der Versorgungsleistungen im gesellschaftlichen Kontext fehlt, bestimmen Einzel- und Gruppeninteressen je nach Sichtweise und Wunschvorstellung die einschlägige Diskussion. Die vorliegende Schrift ist der Versuch, Missstände vorwiegend in der stationären Altenhilfe aufzuzeigen.
Bei den Autoren handelt es sich um einen Sozialarbeiter (Claus Fussek) und einen Journalisten (Sven Loerzer), die beide in München tätig sind.
Inhalt
Die Arbeit ist in 24 Abschnitte untergliedert, die jeweils einen bestimmten Gegenstandsbereich kritisch darstellen. Folgende Themen stehen hierbei teils ausführlich und teils auch nur angedeutet im Mittelpunkt der Ausführungen:
- Zu Beginn werden einige Kritikpunkte wie "Zwangsgemeinschaft" (Doppelzimmer), "braune Brühe" (Kaffee), "Einheitshaarschnitt" (Frisur) (Seite 22) und bauliche Mängel ("Anstaltsarchitektur") angeführt, ohne jedoch diese Aspekte zu vertiefen bzw. durch Fakten zu belegen.
- Der Stress und die Hektik in der Morgenpflege, die teils von der Nachtwache zwischen 4.30 Uhr und 5.30 Uhr zur Entlastung der Frühschicht bereits begonnen wird (dieses so genannte "Vorwaschen" in der Nacht ist andererseits gesetzlich verboten), das rüde Wecken schon um 6.00 Uhr, um das Arbeitspensum bewältigen zu können, all dies wird in knappen Worten angeführt.
- Ein besonderes Augenmerk wird auf die meist fehlenden Toilettengänge und die Verwendung von Windeln verwendet. Es werden verschiedene Inkontinenzeinlagen hinsichtlich ihres Leistungsvermögens (u. a. "Saugleistung" bis zu vier Litern) und teils entwürdigende Praktiken des Windelwechselns (u. a. Rationalisierung der Anzahl der Windeln pro Bewohner) beschrieben. Auch werden die Praktiken der Verwendung eines Blasenkatheters und einer Perkutanen Endoskopischen Gastrostomie (PEG-Sonde) aus Gründen einer rationellen Nahrungszufuhr angeprangert.
- Auf die unzureichende Versorgung mit Nahrung und Getränken, die bei den hochbetagten und multimorbid erkrankten Heimbewohnern schnell zu Unterernährung und Austrocknung führen kann, wird u. a. anhand des MDK-Prüfberichtes eingegangen. Auch hier wird auf die fehlende Pflegezeit, die für eine angemessene Hilfestellung bei der Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr erforderlich ist, als das Hauptübel verwiesen.
- Ein weiterer Kritikpunkt der Autoren besteht in der Häufigkeit von Druckgeschwüren (Dekubitus) und der unzureichenden Dekubitusprophylaxe in den Heimen, wobei u. a. die Ergebnisse des 1. Qualitätsberichtes des Medizinischen Dienstes der Spitzenverbände der Krankenkassen (MDS) von 2004 angeführt werden.
- Weitere Punkte der Kritik sind u. a. die mangelnde Zahn- und Mundhygiene, der Einsatz von Psychopharmaka zur Ruhigstellung, die verschiedenen Formen der Fixierung, die unzureichende Sturzprophylaxe und die teils fehlende Sterbebegleitung.
Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass die angeführten Missstände keine Einzelfälle seien, sondern in fast allen Heimen anzutreffen wären.
Kritische Würdigung
Eine kritische Bewertung dieser Fundamentalkritik der stationären Altenhilfe in Deutschland kann nach Auffassung des Rezensenten nur auf unterschiedlichen Abstraktionsebenen angemessen vollzogen werden, um dem Gegenstandsbereich gerecht werden zu können.
- Die Kosten, der Wettbewerb und die fehlende Transparenz. Von Seiten der Kostenträger als auch von Seiten der zuzahlenden Angehörigen werden die hohen Kosten der stationären Altenhilfe moniert mit der Folge, dass z. B. Sozialhilfeträger Kürzungen durchzusetzen versuchen (u. a. bei der Personalmindestverordnung) und dass Angehörige z. B. Verlegungen aus einem Heim in preisgünstigere Pflegeeinrichtungen veranlassen, um einige Hundert Euro Zuzahlung zu sparen. Es entsteht in Ansätzen ein Wettbewerb zwischen den Einrichtungen, der mittlerweile vorrangig über den Preis ausgetragen wird. Während ambulante Dienste mit der Konkurrenz der illegal beschäftigten Mitarbeiter besonders aus den benachbarten Ländern (die "Polin") zu kämpfen haben, werden im stationären Bereich vorrangig Strategien der Kostenreduzierung im Personalbereich getätigt (Kündigung der Tarifverträge und der Zusatzleistungen wie Urlaubs- und Weihnachtsgeld, vertragliche Einforderung von unbezahlter Mehrarbeit, teils als "ehrenamtliches Wirken" deklariert, Beschäftigung von Mitarbeitern, bei denen das Arbeitsamt bzw. das Sozialamt hohe Lohnkostenteile abdeckt und einiges mehr). Auch ist es bisher nicht gelungen, die einzelnen Kostenfaktoren in den Einrichtungen zu quantifizieren, um z. B. reelle Vergleiche zwischen einzelnen Einrichtungen durchzuführen. Es kann hier das Fazit gezogen werden, dass der sich bereits anbahnende Wettbewerb im stationären Bereich zulasten der Mitarbeiter und damit automatisch auch zulasten der Heimbewohner geführt wird.
- Die Einseitigkeit. Es ist nicht nur legitim, sondern geradezu notwendig, Kritik an bestehenden Missständen zu artikulieren und auch zu veröffentlichen. Auf der anderen Seite sollte jedoch auch auf ein Mindestmaß an Ausgewogenheit geachtet werden, um nicht in den Verdacht einer willkürlichen Einseitigkeit zu gelangen. So ist z. B. dem Rezensenten eine Reihe von Erhebungen bekannt, die positive Einschätzungen seitens der Angehörigen über die Leistungen der Einrichtungen der Altenhilfe zum Inhalt haben. Auch ist dem Rezensenten eine Dissertation mit dem Inhalt bekannt, dass bei 2/3 der Neuaufnahmen in einem Heim geradezu ein Aufleben nach bereits 6 Monaten festgestellt werden konnte. Aus diesen Gründen muss das Urteil der Autoren, dass es sich bei den Missständen um Allgemeinzustände und nicht um Einzelfälle handelt, mit einer gehörigen Portion Skepsis aufgenommen werden. Tendenziös ist die Berichterstattung der Autoren auch, wenn ein ganzer Abschnitt über "Gewalt in der Pflege" (Seite 142 ff) keinen Hinweis auf die oft täglichen Aggressionen seitens der Demenzkranken gegenüber dem Pflegepersonal enthält. Es überrascht auch der Sachverhalt, dass sich die Autoren als Adressaten ihrer Philippika besonders die Wohlfahrtsverbände auserkoren haben (u. a. Seite 179). Dann scheinen die kommunalen und privatgewerblichen Einrichtungen wohl ohne Fehl und Tadel zu sein?
- Das fehlende Fachwissen. Es ist den Ausführungen deutlich zu entnehmen, dass die Autoren erstens nicht vom Fach sind und zweitens auch nicht mit den internen Abläufen in den Heimen ausreichend vertraut sind. So wird oft auf Literatur als Referenz ihrer Einschätzungen verwiesen, ohne dass sie fachlich in der Lage sind, die Wertigkeit dieser Fachliteratur zu beurteilen.
- Die fehlenden Folgeschritte. Dem Rezensenten ist das Vorgehen vertraut, dass Problemfälle benannt werden, um anschließend eingehend hinsichtlich der Ursachen untersucht zu werden. Hierauf folgt dann in der Regel die Entwicklung von Lösungsstrategien zwecks Behebung der Missstände. Leider beschränken sich die Autoren fast durchgängig auf die bloße Darstellung der nicht zu leugnenden Problemlagen in den Heimen, so dass das Buch einen Hauch von Boulevard-Journalismus mitsamt der dazugehörenden Skandalträchtigkeit erhält. Diese Darstellungsweise ist jedoch der Bedeutung der Themenstellung nicht angemessen, die mehr Sachlichkeit, Fachlichkeit und auch Gründlichkeit in der Gegenstandserfassung erfordert.
Fazit
Es liegt ein Buch vor, das viele Missstände und auch Fehlentwicklungen in der Altenhilfe beschreibt und kritisch zur Diskussion stellt. Leider ist es den Autoren nicht gelungen, über die bloßen Phänomene die Komplexität des Sachverhaltes Altenhilfe in Deutschland zu Beginn des 21. Jahrhunderts angemessen zu erarbeiten.
Rezension von
Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind
Gerontologische Beratung Haan
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Zitiervorschlag
Sven Lind. Rezension vom 20.12.2005 zu: Claus Fussek, Sven Loerzer: Alt und abgeschoben. Der Pflegenotstand und die Würde des Menschen. Eine Kampfschrift. Verlag Herder GmbH (Freiburg, Basel, Wien) 2004. ISBN 978-3-451-28411-3. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/3216.php, Datum des Zugriffs 12.11.2024.
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