Uups! - et orbi: Die verschwundene Bibliothek (original) (raw)

Rom - Das Bittschreiben an den "Seligsten Vater" endet mit der Formel: "In Versicherung unserer demütigen Hochachtung und vollkommener Strenggläubigkeit" - aber für viele seiner Unterzeichner ist es der kühnste Akt ihres Lebens.

520 internationale Schriftgelehrte, Palimpsest-Forscher, Gräzisten, Dekretalenkundler, Areopagiten und eminente Kenner des "Codex Vaticanus B." haben ihre Lesesäle verlassen und einen Brief aufgesetzt, mit einem Mut, wie ihn nur die Verzweiflung erzeugt: "... bitten wir um einen Aufschub zumindest bis zum 31. Dezember 2007 und die Möglichkeit, doch während der Arbeiten im Notfall eine begrenzte und teilweise Konsultation der Manuskripte zu gewähren." Der Flehbrief der Bücherwürmer ging an das Staatssekretariat des Vatikans, an den Kardinal Bibliotheksarchivar und an das Sekretariat seiner Heiligkeit Benedikt XVI. - keiner hat auch nur den Empfang des Schreibens bestätigt. Keiner hat geantwortet.

"Was können wir noch tun?", fragt sich der römische Paläograf Professor Santo Lucà. "Uns auf dem Petersplatz anketten? Demonstrieren? Wir sind nur Wissenschaftler..." Am 26. April 2007 entdeckte Santo Lucà - der selbst erst kürzlich auf den legendären Mittelalter-Kodex des Giorgio Taurozes gestoßen war - einen Aushang in der "Bibliotheca Apostolica Vaticana". Es war eine Nachricht aus heiterem Himmel: Wegen dringender Bauarbeiten müsse die Bibliothek am 14. Juli für drei Jahre geschlossen werden. Mit derartigen Aushängen werden sonst U-Bahn-Benutzer auf Schienenersatzverkehr vorbereitet.

Der Anbruch der Finsternis?

Aber die "Vaticana" ist nicht irgendeine Bibliothek. In ihr liegt die maßgebliche griechische Abschrift des Neuen Testaments. Unter anderem. Es ist die vielleicht wertvollste Bibliothek der Welt, mit Hunderttausenden von Pergamenten, Inkunabeln, Autografen, Münzen, Stichen, Karten und Sonstigem, was sich in zwei Jahrtausenden bei Päpsten so ansammelt. Wem zu diesem heiligen Gral des Wissens der Zutritt versperrt wird, und sei es wegen dringender Reparaturen, der kann nicht zur nächsten Stadtteilbibliothek rennen. Und drei Jahre sind auch keine Zeit, die ein Forscher notfalls mit dem Überprüfen von Fußnoten überbrücken kann.

Wer seine Habilitation auf dem Studium der Vaticana-Manuskripte aufgebaut hat, wer sich mühsam ein Stipendium oder Forschungsmittel besorgt hat, für den kommt diese Schließung einem Autodafé gleich, einer Bücherverbrennung: "Drei Jahre! Das kann das Ende für ein Forschungsprojekt bedeuten", sagt Santo Lucà, der Paläograf. "Wir arbeiten ja mit Originalen, nicht mit Fotokopien." Der 14. Juli ist für ihn der Anbruch der Finsternis: Wer Bibliotheken schließt, der ...

Der neue Präfekt der Vaticana, Don Cesare Pasini, sagte, er habe erst auf die technischen Gutachten warten wollen, um die hochsensiblen Forscher nicht unnötig in Schrecken zu versetzen, deswegen die kurze Vorwarnzeit. Marco Buonocore, als "Scriptor latinus" der leitende Angestellte, erklärte Radio Vatikan, dass die Arbeiten nach 400 Jahren unbedingt notwendig seien. Erst kürzlich, in den zwanziger Jahren, seien zwei Bibliotheksmitarbeiter von einer herabstürzenden Decke erschlagen worden. Die Fußböden müssten verstärkt, Aufzüge eingezogen, die Klimaanlage erneuert werden.

Und der Papst schweigt

Die in Rom tätigen Kulturinstitute Frankreichs, Deutschlands, Spaniens haben Bittbriefe an den Vatikan geschrieben, Scholaren aus den USA protestierten. Es ist eine Rebellion des Logos gegen die technische Vernunft: Weshalb sollte die Arbeit im Weinberg des Wissens den Imperativen römischer Handwerker-Logistik unterworfen werden? Die französische Nationalbibliothek zog seinerzeit von einem Gebäude ins andere, ohne dass der Lehrbetrieb länger als für ein paar Tage unterbrochen werden musste. Andere Institute richten in vergleichbaren Fällen provisorische Lesesäle ein. Santo Lucà möchte lediglich eine Ausnahme erbitten, für begründete und geprüfte Notfälle. Aber er ist auch einer der besten Kenner von Byzanz. Er weiß, was Macht ist und was Kirche. Er sagt: "Die Vaticana ist ein Weltkulturerbe, aber es gehört dem Papst. Selbst wenn der Heilige Vater sich entschlösse, seine Bibliothek endgültig zu schließen, müssten wir das respektieren."

Und der Papst? Er schweigt. Der Großintellektuelle, der Schreibwütige, der Bücherverschlinger, der Dr. phil. Dr. hon. caus. multipl. Benedikt XVI. schweigt zur Schließung seiner Bibliothek, und er schwieg auch am vergangenen Montag, als er vor seinen Sommerferien noch die Vaticana besuchte und unter anderem in Martin Luthers Schrift über Äsop und den Akten Galileis blätterte.

"Ich glaube, er ist nicht informiert worden", sagt sich Santo Lucà. Und eine deutsche Habilitandin meint, sensibilisiert durch jahrelanges Studium des Mittelalters: "Die Kurie wird doch beherrscht von italienischen Prälaten, die machen, was sie wollen. Benedikt XVI. weiß nicht, was hinter seinem Rücken vor sich geht. Er ist machtlos." Der 14. Juli ist nicht mehr fern. Er wird wohl als lacrimosa dies illa, als Tag des Zornes und der Tränen, in die Annalen der Wissenschaft eingehen.

Denn Annalen werden geschrieben von jenen, die jetzt ohnmächtig vor den geschlossenen Pforten des Wissens stehen.