Wahlparteitag der SPD: Kirchhof, Schröders neue Wunderwaffe (original) (raw)
Berlin - Der Höhepunkt des Parteitags kommt, nachdem Gerhard Schröder schon eine dreiviertel Stunde geredet hat. In bisher nicht gekannter Ausführlichkeit widmet sich der Kanzler dem Mann, der in einer Unions-Regierung Finanzminister werden soll und den Schröder immer nur "diesen Finanzprofessor da" nennt.
Genüsslich liest Schröder eine Nachrichtenmeldung über den Shooting-Star Paul Kirchhof vor. Der hatte behauptet, eine verheiratete Sekretärin mit einem Jahresgehalt von 40.000 Euro werde unter seinem Steuermodell 4000 Euro Steuern zahlen. Das Publikum des SPD-Wahlparteitags lacht schon, weil das Sekretärinnen-Gehalt zu hoch gegriffen ist. Doch als Schröder dann noch einen Mitarbeiter Kirchhofs mit den Worten zitiert, sein Chef habe eigentlich gar keine verheiratete Sekretärin gemeint, sondern eine virtuelle Sekretärin, "die 1,3 Kinder hat und zu einem gewissen Prozentsatz verheiratet ist", da ist der Spott über den weltfremden Professor groß.
In das Gelächter hinein sagt Schröder: "Das ist schon ein Grund zur Fröhlichkeit, aber es ist auch ein Grund zur Nachdenklichkeit." Kirchhof zeige, dass er von der "Lebenswirklichkeit einfacher Menschen" keine Ahnung habe. Man müsse sich fragen: "Kann man einem solchen Menschen das Finanzministerium anvertrauen?" Und mehr noch: "Kann man einer Kandidatin, die so etwas ausprobieren will, das Kanzleramt anvertrauen?"
Mit Kirchhof glaubt Schröder doch noch eine Wunderwaffe gefunden zu haben, um die nötige Emotionalisierung in einen bisher müden Wahlkampf zu bringen. In den Augen der SPD steht Kirchhof nicht nur für ein Steuermodell mit einem Einheitssteuersatz von 25 Prozent, sondern verkörpert auch ein reaktionäres Gesellschaftsbild. Schröder bringt die rund 500 Delegierten zum Gruseln mit einem weiteren Ausspruch Kirchhofs, die Mutter finde ihre Karriere in der Familie. Mit Merkel und Kirchhof, so Schröders Botschaft, falle die Republik nicht ins 20. Jahrhundert, sondern gleich ins 19. Jahrhundert zurück.
"Guckt euch das genau an"
Schröder bemüht sich sichtlich um einen scharfen Ton, denn die SPD braucht die Motivationsspritze dringend. Der Parteitag achtzehn Tage vor der Wahl soll der Startschuss zur Aufholjagd sein. Schröder nutzt ihn, um in anderthalb Stunden ausführlich die Angst vor der schwarzen Republik zu schüren. Er wendet sich direkt an die Wähler: "Die Wahl entscheidet nicht nur über die Zukunft des Landes, sondern auch über Ihre ganz persönliche Zukunft", ruft er. "Ich sage den Arbeitnehmern, guckt euch das genau an, was da kommt." Und er geht die schwarze Liste Punkt für Punkt durch: Pendlerpauschale, Steuerfreibeträge für Nacht- und Schichtarbeit, Mehrwertsteuererhöhung.
Merkels "Minus-Politik" sei gegen die Interessen der Mehrheit des Landes gerichtet und müsse deshalb verhindert werden, sagt ausgerechnet der Mann, der sich damit rühmt, Reformen gegen großen Widerstand durchgesetzt zu haben. So ähnlich hatte Linkspartei-Spitzenkandidat Oskar Lafontaine am vergangenen Samstag im gleichen Saal auf dem Parteitag der Linkspartei geredet.
Die Union, so Schröder, setze auf die Spaltung des Landes, zwischen Ost und West ebenso wie zwischen oben und unten. Die SPD hingegen stehe für Frieden, innen wie außen. Immer wieder betont er, dass es bei der Wahl um unterschiedliche Gesellschaftsbilder gehe. Die Union wolle eine Ellbogengesellschaft, in der Neid und Missgunst regierten. "Sie ist kalt, unsolidarisch und damit auch unmenschlich". Als Beweis zitiert er ein ums andere Mal Paul Kirchhof. Der wolle die Rentenversicherung so organisieren wie eine KfZ-Versicherung, sagt Schröder. "Da wird ein Menschenbild deutlich, das wir bekämpfen müssen. Menschen sind keine Sachen".
15 Minuten Applaus
Die Delegierten im Berliner Estrel-Hotel sind dankbar für die lange geforderte Zuspitzung. Am Ende brüllen sie "Jetzt geht's los" und "Gerhard für Deutschland". Der Applaus dauert eine volle Viertelstunde.
In Abgrenzung zur Union, die am vergangenen Sonntag in Dortmund ihren Wahlparteitag mit 9000 Gästen groß inszeniert hatte, wollte die SPD ihre Veranstaltung bewusst schlicht halten. Eine "Operette" oder eine "Krönungsmesse" solle es nicht werden, hatte es geheißen, sondern ein "authentischer" Parteitag. So ziehen Schröder und Parteichef Franz Müntefering ohne triumphale Musik in den Saal ein. Nur einige Pappschilder säumen ihren Weg. Darauf steht "No Angies" und "weiter ackern", in Anspielung auf Schröders Fußball-Spitznamen "Acker".
Im Bemühen, jegliche Inszenierung zu vermeiden, beginnt der Parteitag jedoch ohne jeden Schwung. Schröders Vorredner schläfern das Publikum in der ersten Stunde eher ein, als es in Stimmung zu bringen. Der Tiefpunkt kommt, als Tim Renner, der ehemalige Universal-Music-Chef, als Sprecher der "Wirtschaftsinitiative für Schröder" auftritt und sehr plump die "Wettbewerbsvorteile" einer Schröder-Regierung aufzählt, unter anderem "Frieden".
Die Rede erinnert daran, dass Schröder früher Wirtschaftsführer wie Siemenschef Heinrich von Pierer an seiner Seite hatte, der aber jetzt Merkel berät. Es sollte wohl auch ein Signal sein, dass Schröder nicht mehr Genosse der Bosse ist, sondern sich lieber von sympathischen Jung-Unternehmern vertreten lässt. Zu seinem ehemaligen Tennis-Partner Pierer sagt Schröder heute nur: "Heinrich, mir graut vor dir". Pierer hatte die Verlängerung der Laufzeiten von Atomkraftwerken gefordert.
Statt mit den Bossen zeigt der Kanzler sich heute mit Betriebsräten und Gewerkschaftern, die er auf der Bühne umarmt. Im Publikum sitzen auch sämtliche Top-Gewerkschafter des Landes, von Michael Sommer über Jürgen Peters bis hin zu Frank Bsirske. Der Porsche-Betriebsratsvorsitzende Uwe Hück hält eine flammende Rede und bringt den Saal zum Kochen. "Ich habe gestern den Herrgott gefragt: Können wir noch gewinnen?", ruft er. Der habe geantwortet: "Mein Sohn, warum zweifelst du?"
Auch wenn der Vorsprung der Union in den Umfragen als uneinholbar gilt - selbst unter vielen SPD-Politikern -, hält die SPD-Spitze unverändert am Ziel fest, stärkste Partei zu werden. Schröder appelliert an die Anwesenden, nicht der "unheiligen Allianz aus Meinungsforschern, Meinungsmachern und Wirtschaftsverbänden" zu glauben. Noch sei die Wahl nicht entschieden. Auch Müntefering sagt in seiner Rede, es sei keine Schicksalswahl, wie Merkel immer behaupte. Denn: "Schicksal kann man nicht abwenden, Merkel aber schon."
Die Linkspartei wird nur am Rande erwähnt. Vor allem Wolfgang Thierse, der die Ostkompetenz der Partei vertritt, und Müntefering nehmen sich die einstige PDS vor. "Ich erlebe sie jetzt mit dem vierten Namen, doch es ist noch immer dieselbe Partei", sagt Thierse. Die "Sozialstaats-Nationalisten" setzten die Zukunft des Sozialstaats auf Spiel. Und Müntefering stichelt: "Wir haben in 142 Jahren unseren Namen nicht einmal ändern müssen. Wir sind immer Sozialdemokraten".