»Dumm und gutgläubig« (original) (raw)

Im November 1983, wenige Tage nach dem Beschluß der Bundesregierung über die Stationierung neuer Atomraketen und Marschflugkörper, trat der Vorstand des Verbandes deutscher Schriftsteller (VS) mit Bernt Engelmann an der Spitze zurück.

Ein »Vorposten des Weltfriedenslagers« war gefallen. In den DDR-Medien wurden der Raketenbeschluß und der Engelmann-Rücktritt - Ereignisse, die wenig miteinander zu tun hatten - sofort im Zusammenhang gesehen. Es drohe, so Engelmann-Freund Hermann Kant in jenen Tagen, der Rückfall in die schlimmste Zeit des Kalten Krieges, eine neue Eiszeit.

In den Vor- und Hinterzimmern des von Kant geführten DDR-Schriftstellerverbandes herrschte helle Aufregung. In aller Eile wurden verläßliche Vorstandsfunktionäre auf Lesereise durch die DKP-nahen Buchhandlungen im Westen geschickt, um die bundesdeutschen Freunde und Genossen über den Ernst der Lage aufzuklären.

Die DKP-Kulturabteilung in Düsseldorf gab die strikte Orientierung aus, bei den bevorstehenden Neu- oder Nachwahlen der Delegierten für den Saarbrücker Kongreß, auf dem über die Engelmann-Nachfolge entschieden werden sollte, nur »vertrauenswürdige und mit der Friedensbewegung verbundene Kandidaten« zu wählen.

Zweieinhalb Wochen vor dem Kongreßbeginn bekam ich Besuch aus der DKP-Parteizentrale in Düsseldorf. Die beiden Kulturkommissare überbrachten mir einen Parteiauftrag. Ich sollte sofort eine Rundreise durch die ganze Bundesrepublik antreten, unterwegs so viele Delegierte wie irgend möglich ansprechen und sie davon abzubringen versuchen, ihre Stimme Ingeborg Drewitz, der inzwischen vom Berliner Verband vorgeschlagenen Kandidatin, zu geben. Statt dessen sollten sie den Gegenkandidaten wählen, der erst auf dem Kongreß nominiert werden würde.

Ich lehnte den Auftrag ab, nicht weil ich schon grundsätzlich an der Partei, die immer recht hatte, zweifelte, sondern aus ganz persönlichen Gründen. Ich kannte Ingeborg Drewitz aus gemeinsamen Aktivitäten gegen Berufsverbote, Rassismus und Rüstungswahn einfach zu gut und mochte sie zu sehr, um mich gegen sie verwenden zu lassen. Meine Partei-Auftraggeber ließen nicht locker. Sie zeigten mir ein dubioses Papier, das ich zwar lesen, aber nicht behalten durfte.

Heute gehe ich davon aus, daß es sich um ein Dossier der Stasi gehandelt hat. Ingeborg Drewitz wurde darin unterstellt, sie stünde in Kontakt zu trotzkistischen und maoistischen Entspannungsgegnern, neige der »Supermacht-Theorie"* zu und habe sich wiederholt »von trotzkistischen Drahtziehern wie Hannes Schwenger, Freimut Duve und Manfred Wilke vor ihren Karren spannen lassen«.

Ich hielt diese Behauptungen schon damals für reichlich absurd, weil ich Ingeborg Drewitz einfach besser kannte. Sie war links eingestellt, aber politisch eher naiv und unterschrieb gern alles, was ihr progressiv erschien - auch die Aufrufe aus dem politischen Umfeld der DKP.

Mir wurde bei der ganzen Angelegenheit so mulmig, daß ich mich bei meinen Genossen krank meldete.

Allerdings fehlte mir der Mut, damals das einzig Richtige zu tun und Ingeborg Drewitz über die gegen sie inszenierte Intrige zu informieren. Eine Genossin, die bei der DKP-nahen Deutschen Volkszeitung als Kulturredakteurin arbeitete und nach mir den schmutzigen Auftrag übernehmen sollte, weigerte sich ebenfalls. So blieb den beiden Düsseldorfer Kulturfunktionären wohl nichts anderes übrig, als selber auf die Reise zu gehen. _(* Auffassung, daß die Sowjetunion eine ) _(imperialistische Großmacht sei. )

Ich selbst habe am Saarbrücker Schriftstellerkongreß teilgenommen, allerdings nicht als Delegierter, sondern nur als Gast. So konnte ich miterleben, wie einige unsichere Kantonisten noch bis zur letzten Minute, sogar während des Empfangs von Oskar Lafontaine für den Schriftstellerverband, bearbeitet wurden, damit sie die richtige Wahl treffen.

Zu den ideologischen kamen gegebenenfalls handfestere Argumente. Die Redakteure der DKP-eigenen und -nahen Medien waren zur Stelle, um die Überzeugungsarbeit durch Zusagen und Angebote von Veröffentlichungsmöglichkeiten zu unterstützen. Doppelt belohnt wurde jene Delegierte, die im guten Glauben den Vorschlag Hans Peter Bleuel einbrachte und auch begründete: Von ihr erschienen im folgenden Jahr zwei Bücher in parteinahen Verlagen.

Hans Peter Bleuel wurde am Morgen des 1. April im Orwell-Jahr 1984 mit der denkbar geringsten Mehrheit von einer Stimme zum neuen VS-Vorsitzenden gewählt. Ingeborg Drewitz, vielleicht schon damals von ihrer tödlichen Krankheit gezeichnet, war bitter enttäuscht von einigen ihrer linken Mitstreiter, auf deren Stimmen sie fest gebaut hatte.

Ob es die Stasi selber war, die das Drehbuch bis in alle Details hinein geschrieben hat, sei einmal dahingestellt. Sicher scheint mir, daß die Wahl ganz und gar nach den jahrzehntelang erprobten Taktiken und Praktiken kommunistischer Wahlmanipulation verlaufen ist, wie sie ganz gewiß nicht nur im Schriftstellerverband, sondern in den Gewerkschaften generell angewandt wurden.

Obwohl von der Gegenseite immer wieder behauptet, gab es im VS nicht viele organisierte Kommunisten. Im Hamburger Landesbezirk, der als am stärksten kommunistisch unterwandert galt, war ich jahrelang das einzige DKP-Mitglied. Die Kommunisten stützten ihren Einfluß weniger auf die eigenen Genossen als auf die vergleichsweise große Zahl von politischen Freunden und Bündnispartnern.

Meines Wissens war unter den Saarbrücker Delegierten nicht ein einziges eingeschriebenes DKP-Mitglied, wohl aber manches unbeschriebene Blatt, mit dem sich weitaus wirksamer operieren ließ als mit den eigenen Genossen. Das Saarbrücker Lehrstück vom Einverständnis entsprach der jahrzehntelang praktizierten Volksfronttaktik der Kommunistischen Internationale, die gerade im Kulturbereich viel erfolgreicher auf bürgerliche Sympathisanten, »fellow travellers«, als auf kommunistische Insider setzte.

Engelmann und Bleuel waren und sind Sozialdemokraten, also keine Kommunisten, genausowenig wie Heinrich Mann jemals Mitglied der KPD war. Er war und blieb ein ehrlicher bürgerlicher Humanist und Demokrat, obwohl er von der Weimarer Republik über die Jahre des Exils bis in die Gründungsphase der DDR hinein immer wieder als Aushängeschild für die Aufrichtigkeit der deutschen Stalinisten benutzt wurde.

Massive Versuche zur Beeinflussung der Politik des VS unternahm die DDR erst nach der Ausweisung Wolf Biermanns (1976) und der Übersiedlung namhafter DDR-Autoren in den Westen. Es galt zu verhindern, daß die DDR-Flüchtlinge im westdeutschen Schriftstellerverband und im literarischen Leben der Bundesrepublik Fuß faßten. Dazu genügte es, die Dissidenten als unverbesserliche Entspannungsfeinde und Kalte Krieger - möglichst noch mit einem kriminellen oder geheimdienstlichen Hintergrund - darzustellen. Den Rest erledigte das Lagerbewußtsein der meisten linken Schriftsteller im Westen, gleich ob sie in der DKP waren oder nicht.

In mehreren »zwanglosen Informationsgesprächen« - an einem davon habe ich selber teilgenommen - versuchten Ideologiechef Kurt Hager, Ursula Ragwitz, die Leiterin des Kulturreferats beim ZK der SED, und Hermann Kant, westdeutschen Autoren, die im VS aktiv waren, die neue Linie zu vermitteln. Ursula Ragwitz äußerte den Wunsch, es solle auch im Westen zum Prinzip werden, daß man Überläufern nicht die Hand reiche. Hermann Kant bot bei solcher Gelegenheit an, gegebenenfalls mit Hintergrundinformationen weiterzuhelfen.

Als ich 1977 über die Medien erfuhr, daß Jürgen Fuchs im Gefängnis saß, erkundigte ich mich bei der Genossin Ingrid Muth, der Kulturreferentin in der Ständigen Vertretung der DDR in Bonn, und bei Hermann Kant persönlich nach den Gründen und Hintergründen: Kant kam in jener aufgeregten Zeit zu einer Informationsreise durch die DKP-Bezirksbüros, um die Linie zu klären. Aus beiden Quellen erhielt ich nach einigem Bohren die Antwort, Fuchs'' Verhaftung habe nichts mit Literatur zu tun, eher schon »mit gewöhnlicher Agententätigkeit«. Ich war dumm und gutgläubig genug, diese Information über den Berliner Extradienst öffentlich zu machen.

Mit dem Erstarken der Friedensbewegung und der Entspannungspolitik wurde unter der Regentschaft von Bernt Engelmann der Vorstand des Schriftstellerverbandes mehr und mehr zum offiziellen Gesprächspartner des DDR-Bruderverbands. Strittige Fragen blieben dabei ausgeklammert, und es galt der Grundsatz der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten der anderen Seite.

Das bedeutete in der Praxis: Der BRD-VS durfte sich nicht in die Belange des DDR-SV einmengen, während es dem DDR-SV unbenommen blieb, sich in die VS-Geschäfte einzuschalten, zumindest soweit es dabei um die Dissidenten ging: Die galten nach stillschweigender Übereinkunft als Angelegenheit, die zugleich die DDR betraf. So hat die DDR-Seite immer zu verhindern versucht, daß DDR-Flüchtlinge in den VS-Bundesvorstand gewählt oder - wie im Fall von Erich Loest - an den entscheidenden Gesprächen beteiligt worden sind.

Nicht nur in der DDR, sondern auch in der Sowjetunion waren der VS und seine Vorsitzenden Engelmann und Bleuel hochangesehen. Der sowjetische Verband leistete sich mit Wladimir Steschenski sogar einen speziellen Referenten für die Beziehungen zum VS.

Der westdeutsche Schriftstellerverband war in diesen friedensbewegten Tagen fest in den »Bruderbund fortschrittlicher Schriftstellerverbände« integriert. Ich nahm im Herbst 1986 am »Welttreffen der Schriftsteller für den Frieden« in Sofia teil, allerdings nur als Gast, weil ich nicht offiziell delegiert, sondern nur von meinem bulgarischen Verlag eingeladen worden war.

Am runden Tisch hingegen saß die offizielle VS-Delegation, bestehend aus fast dem ganzen Bundesvorstand, gleichberechtigt mit den Leitungen der Autorenvereinigungen aus der DDR, _(* 1983 bei einem Autorentreffen in ) _(Berlin. ) der Sowjetunion und den anderen sozialistischen Staaten. Niemand ahnte, daß das Sofioter Gipfeltreffen der Literaten schon das letzte seiner Art gewesen war und daß danach Schluß sein sollte mit der geliehenen Herrlichkeit auf Kosten des Weltproletariats.

* Auffassung, daß die Sowjetunion eine imperialistische Großmachtsei.* 1983 bei einem Autorentreffen in Berlin.