Machtkampf mit Stasi-Akten (original) (raw)

Wer in Dresden in der »Linie 6« sitzt, gehört zu den Einflußreichen der Stadt. An den Tischen des Lokals mit dem nostalgischen Straßenbahn-Look wird Politik gemacht - auch Sachsens Ministerpräsident Kurt Biedenkopf war schon da.

Als Szenewirt Karl-Heinz Bellmann vor Monaten selbst Lust verspürte, Dresdens Zukunft aktiv mitzugestalten, nutzte er altbewährte Methoden: Der Kneipier beauftragte einen Detektiv, Stasi-Kontakte der Präsidiumsmitglieder vom Fußballbundesligaklub Dynamo Dresden auszuforschen. Doch für 8000 Mark Honorar lieferte der Späher nur ein müdes Dossier von 15 Seiten, das nicht ausreichte, die Klubführung zu stürzen.

Kein Wunder: Der Philip Marlowe von Dresden stand einst in Diensten der Staatssicherheit und hatte zuvor auch schon im Auftrag des Fußballklubs gearbeitet.

Was noch im Juni fehlschlug, klappte in der letzten Woche: Nacheinander wurden acht Profis und Offizielle als Stasi-Spitzel enttarnt, als erster Torjäger Torsten Gütschow, 29. Nach Mannschaftsarzt und Libero folgte am letzten Freitag das vorläufig prominenteste Mitglied: Auch Eduard Geyer, letzter Auswahltrainer der DDR und drei Jahre Coach von Dynamos Oberligaelf, gab zu, unter dem Decknamen »Jahn« über 21 Jahre hinweg regelmäßig Berichte geschrieben zu haben (siehe Interview).

Auch die Klubopposition blieb nicht verschont: Der Altinternationale Frank Ganzera, inzwischen zum gefürchteten Widerpart von Dynamo-Präsident Wolf-Rüdiger Ziegenbalg geworden, war als Spitzel »Franke« für die Firma tätig.

Das Stasi-Outing wurde zum beispiellosen Machtkampf um einen Fußballklub, der nach Mafiaart geführt wurde - statt mit Revolvern wurde an der Elbe mit Akten aus der Gauck-Behörde aufeinander gezielt. Zum Kampf um Dynamo traten alte Stasi-Kader ebenso an wie profilierungssüchtige Lokalpolitiker und westdeutsche Geschäftsleute. Die im deutschen Sport bislang einzigartige Serie von Enthüllungen treibt den sportlich wie wirtschaftlich ohnehin maroden Klub womöglich in den Ruin. Weil der als Stasi-Nest entlarvte Klub kaum noch Werbegelder zu erwarten hat, wollte Manager Dieter Müller schon am Wochenende nach Mallorca fliegen, um Gütschow noch vor Wiederbeginn der Bundesliga nach Spanien zu verkaufen. Der Transfer scheiterte an fehlenden Sicherheiten der Spanier.

Selbst die Trennung von belasteten Spielern führt nicht aus dem Dilemma. Das Mißtrauen untereinander ist dermaßen groß, daß der aus Westdeutschland importierte Trainer Helmut Schulte hilflos »blanken Haß« einzelner Cliquen gegen die Spitzel registrierte, gleichzeitig aber auch »eine Unfähigkeit, die Diskussion offen zu führen«.

Erstaunt stellen die Spieler fest, daß es früher viel einfacher war, sich mit der allgegenwärtigen Stasi zu arrangieren. Die hohe Zeit der Spitzel wird im nachhinein geradezu verklärt. Trainer Geyer will sogar ein »einvernehmliches Verhältnis« zwischen Tätern und Opfern ausgemacht haben.

Gemeinsam wurde bei Auslandsreisen Westgeld über die Grenze geschafft. Und die Tour zum Bremer Hallenturnier 1988 geriet mit Billigung der Stasi zur Butterfahrt. Der Mannschaftsbus war mit Hi-Fi-Türmen und Videogeräten derart vollgestopft, daß Geyer, der als letzter kam, Mühe hatte, die just erworbenen Campingmöbel noch unterzubringen.

Die Vergangenheitsbewältigung erweist sich als weitaus problematischer. Verstört wollte sich Mittelfeldspieler Heiko Scholz als Spitzel offenbaren, weil er einmal einem Stasi-Offizier beiläufig von einer Kneipentour berichtet hatte. Präsident Ziegenbalg, dem Bild ungeprüft Stasi-Dienste vorwarf, ergriff vor laufenden Kameras die Flucht: »Hier wird man täglich von der Vergangenheit und der Gegenwart eingeholt.« Schließlich parkte er seinen Dienstwagen in Stadtnähe und war nur noch übers Autotelefon erreichbar.

Und als die Dresdner Morgenpost Dynamos Jugendtrainer Gert Heidler versehentlich unter die Stasi-Informanten einreihte, bedauerte das Blatt den Fauxpas am nächsten Tag lakonisch. Der Entschuldigung war Kapitel 15, Vers 7 des Lukas-Evangeliums vorangestellt: »So wird Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut, mehr als über 99 Gerechte, die der Buße nicht bedürfen.«

Irritiert registrieren die Dresdner, wie eng das Stasi-Netz bei Dynamo geknüpft war: Die Spitzel mußten sich gegenseitig überwachen, selbst Familienangehörige forschten einander akribisch aus.

Die Überwachungsintensität hatte entgegen westlichen Vermutungen jedoch nichts damit zu tun, daß Stasi-Chef Erich Mielke die Dynamo-Fußballer in Berlin und Dresden wie Leibeigene zu seinem Freizeitvergnügen hielt. Vielmehr hatte sich die Schnüffelei in Dresden unabhängig von Vorgaben aus der Zentrale in der Berliner Normannenstraße verselbständigt. Unter Führungsoffizieren galt die Anwerbung prominenter Fußballer als karrierefördernd. Ein Nationalspieler, berichtet ein ehemaliger Stasi-Major, habe der Kartei »besondere Exklusivität« verliehen.

Insofern bedeuteten die Enthüllungen der vergangenen Woche wohl nur den Auftakt zu einer beispiellosen Serie künftiger Anklagen. Nahezu alle Klubs und Sportverbände der DDR waren ähnlich von der Stasi unterwandert. Die Hysterie, die in Dresden um sich griff, wird schon bald auch Schulen, Theater, Betriebe und Behörden erfassen.

In Sachsen begab sich in den vergangenen Tagen eine ganze Stadt auf Motivsuche; an eine zufällige Enthüllung gegen Bezahlung mochten nur die wenigsten glauben. Favorisiert wurden drei Erklärungsmodelle: *___Alte Stasi-Kader hätten die Papiere aus Rachsucht ____lanciert, um früheren Kollegen zu schaden; *___CDU-Blockflöten im Stadtrat hätten durch gezielte ____Indiskretionen die schon lange geforderte Streichung ____des belasteten Vereinsnamens Dynamo befördern wollen; *___westliche Geschäftsleute hätten ein Interesse, den ____Stasi-Klub in den Konkurs zu treiben, um den 1950 von ____der SED verbotenen Traditionsverein Dresdener SC, bei ____dem einst Ex-Bundestrainer Helmut Schön spielte, an ____seine Stelle zu setzen.

Auch die Diskussion über die Spitzel wird an Schärfe noch zunehmen. Galt Gütschows IM-Tätigkeit zunächst als verzeihliche Jugendsünde, so steht inzwischen fest, daß der Fußballer, der nach Einschätzung seiner Führungsoffiziere über »einen niedrigen Intellekt verfügt«, nicht nur Harmloses meldete.

In der Jahresbeurteilung für 1986 wird ihm »Zuverlässigkeit« und »gutes Verhalten« bescheinigt. Er habe »ohne Ansehen der Person« berichtet und auch über »kaderpolitische Probleme innerhalb seiner Familie« informiert. Bereits nach einem halben Jahr erhielt der Mann mit dem Decknamen »Schröter« 200 Mark Honorar für seine Dienste.

Auch der bisher in Dresden gültige Maßstab für die persönliche Schuld der Dynamo-Spitzel ("Sie müssen anderen geschadet haben") muß relativiert werden. Als Opfer gelten die drei ehemaligen Nationalspieler Matthias Müller, Peter Kotte und Gerd Weber, die 1981 wegen geplanter Republikflucht verhaftet wurden. Weber wurde zu siebeneinhalb Jahren Gefängnis verurteilt, nach neun Monaten jedoch freigelassen. Das Opfer war auch Täter: Unter dem Decknamen »Wiehland« (Registriernummer XII 270/75) arbeitete Weber als Inoffizieller Mitarbeiter für die Stasi.