»O du verhaßt-geliebtes Gift« (original) (raw)
Nicht nur bei ihnen: »Das Haus ist einfach sauberer«, gab eine Hausfrau in San Francisco zu Protokoll, »wenn ich vorher eine Prise nehme.« »Das Saubermachen«, sagt eine andere, »macht dann einfach mehr Spaß.«
Erwiesen scheint auch, daß Kokain-Konsumenten und -Kleinhändler offenbar vor Gerichten auf mehr Milde hoffen dürfen als Heroin- oder auch Haschischtäter. »Welcher Richter«, schrieb der Polizeileutnant Ken Welty aus Los Angeles, »mag schon den adretten jungen Mann im gepflegten Zweireiher mit Weste ins Gefängnis stecken?« Noch dazu, wenn er mit der ganzen Familie aufmarschiert und alle beteuern, es sei das allererste Mal gewesen, daß der Junge das Zeug nahm.
Der Spitzenplatz in der Hierarchie der Drogen, als ein besonders elitäres Rauschmittel, wurde dem Kokain eingeräumt, seit die abendländische Welt vor gut hundert Jahren mit ihm in Berührung kam.
Nicht nur, daß der Weiße Schnee, gut zehnmal so teuer wie Gold, als Rausch der Reichen gilt, als »Mercedes-Benz im Drogengeschäft« ("Daily Mail"), als »Kaviar der Drogenszene« ("Time").
Wahr ist auch, daß keinem anderen Rauschmittel soviel literarische Aufmerksamkeit zuteil, soviel Reverenz von Künstlern und Forschern erwiesen wurde, so große Heilserwartung und Mystifizierung - so zahlreiche Legenden und soviel Falsches.
Für die südamerikanischen Indios, die sich in den Kupferbergwerken und auf den kargen Hochebenen der Anden schinden, hat es den Glamour der Droge Kokain nie gegeben. Sie kauen »das göttliche Blatt« des Kokastrauches, um ihren Hunger zu betäuben und die letzten Kraftreserven ihrer ausgemergelten Körper zu mobilisieren.
Acht Millionen Indios, so die Schätzungen, kauen auch heute noch auf Kokablättern (vermischt mit Kalk), die den Wirkstoff in kleinen Mengen enthalten. So verschaffen sie sich einen milden Dauerrausch, ohne High.
Angebaut und benutzt wird dieses naturgewachsene Rauschmittel schon seit Jahrtausenden. Skulpturen und Reliefs aus der Inkazeit, die Götter mit blattgefüllten Kaubacken zeigen, weisen auf den Koka-Kult bei den »Söhnen der Sonne«. Die spanischen Eroberer im 16. Jahrhundert verboten zuerst und erlaubten dann wieder die Droge, als sie merkten, wie nützlich ihnen das Koka-Kauen der Unterdrückten war, das den Hunger dämpfte und die Leistungskraft zu steigern schien.
Anders als beim Tabak, den die spanischen Konquistadoren nach Europa brachten, war in den verdorrten Kokablättern, S.190 wenn sie hier anlangten, die pharmakologische Wirkkraft erloschen. So kam es, daß erst Mitte des 19. Jahrhunderts Kokain in der Alten Welt zum Thema wurde.
Zwei deutsche Chemiker, der Göttinger Albert Niemann und Friedrich Gädcke, isolierten unabhängig voneinander, 1855 und 1859, das Alkaloid aus der Pflanze. Seine schmerzbetäubende Wirkung wurde als erste entdeckt und, zum Beispiel bei Augen- und Kieferoperationen, auch genutzt.
Vom Mythos der Droge, ihrer berauschenden Wirkung, war spärliche, aber hochfliegend begeisterte Kunde schon vorher nach Europa gelangt. »Mäßiger Genuß der Coca ist nicht nur nicht nachteilig, sondern der Gesundheit sehr zuträglich«, schrieb 40 Jahre vor Sigmund Freud, dem bedeutendsten Popularisierer des Kokain, der Schweizer Johann Jakob von Tschudi.
Der italienische Nervenarzt Paolo Mantegazza war 1859, nach einem Selbstversuch, ins Schwärmen geraten: »Von zwei Koksblättern als Flügeln getragen, flog ich durch 77 348 Welten, eine immer prächtiger als die andere ... Ich ziehe ein Leben mit Koka einem Leben von einer Million Jahrhunderten ohne Koka vor.«
Freud fußte auf diesen beiden Berichten, als er sich 1884 forschend dem Stoff zuwandte, weil er »sich durch irgendeine wichtige Entdeckung einen Namen machen wollte« (so Freud-Biograph Ernest Jones). Der 28jährige Wiener Neurologe schrieb an die Pharmafirma E. Merck und kaufte für 1,27 Dollar ein Gramm Kokain. 0,05 Gramm löste er in Wasser, trank es - und wurde gleich zum Fan der noch unerforschten Substanz: »Wenige Minuten nach der Einnahme ... plötzlich Aufheiterung und ein Gefühl von Leichtigkeit, man fühlt sich lebenskräftiger und arbeitsfähiger.«
Freud gab die Droge seiner Verlobten Martha (sie werde schon sehen, schrieb er ihr, »wer stärker ist, ein kleines sanftes Mädchen, das ißt, oder ein großer wilder Mann, der Kokain im Leib hat"), gab sie seiner Schwester und allen Kollegen, damit sie den Stoff an sich und ihren Patienten erprobten. Schon zwei Monate später war Freuds erste Kokain-Veröffentlichung, »die ausführlichste« zu diesem Thema, wie er selber rühmte, abgeschlossen: Der Arzt empfahl das Mittel gegen Depressionen, aber auch gegen Verdauungsstörungen, Auszehrung und Morphiumsucht.
In diesem wissenschaftlichen Irrglauben produzierte Freud den ersten Kokainsüchtigen Wiens: Er gab seinem Freund, dem Morphinisten Ernst von Fleischl, zum Abgewöhnen Kokain. Fleischl wurde Kokainist, spritzte sich schließlich bis zu einem Gramm pro Tag und starb daran.
Freud hat später wortreich versucht, dem Vorwurf zu begegnen, er habe mit seiner Befürwortung des Kokains »die dritte Plage über die Menschheit gebracht«, nach Alkohol und Morphium. Aber Freuds Irrtum ("Ich habe diese gegen Hunger, Schlaf und Ermüdung schützende und zur geistigen Arbeit stählende Wirkung der Coca etwa ein Dutzendmal an mir selbst erprobt") war nun einmal in der Welt.
Die Verwirrung, die Täuschung über die wahren Wirkungen des Kokains waren nicht zuletzt entstanden, weil ein Rauschmittel ohne die zugehörigen sozialen Zeremonien und kollektiven Rituale von einem Kulturkreis in den anderen übernommen wurde, noch dazu in einer anderen, hochkonzentrierten Darreichungsform. In den USA forderte jene Zeit des Experimentierens in der Zeit vor der Jahrhundertwende zahlreiche Opfer, mehr als in Europa. Und es gehört zu den Kuriositäten der angeblich so gloriosen Wissenschaftsgeschichte, daß sich damals auch die bedeutendsten Pharmafirmen über die Gefahren des Kokains hinwegtäuschten, ja, ihren Reichtum damit begründeten.
»Es war das goldene Zeitalter der kokainhaltigen Pharmazeutika«, heißt es in einer von den beiden amerikanischen Wissenschaftlern Joel L. Phillips und Ronald D. Wynne verfaßten Monographie über Kokain. Für und gegen alles sollten die Kokain-Mittel nützen: Keuchhusten, Erkältung, Asthma, Durchfall, Neuralgie und Seekrankheit, Vaginismus, Schwangerschafts-Erbrechen, entzündete Brustdrüsen, Tripper und Syphilis. Führender Kokain-Hersteller war die Darmstädter Firma Merck. Todesfälle wegen Überdosierung nach Einnahme solcher Mittel waren nicht selten.
Ein Vermögen machte der Korse Angelo Mariani, der 1883 ein kokainhaltiges Stärkungsgetränk auf den Markt brachte, »Vin Mariani«. Zu seinen Kunden zählten die Schauspielerin Sarah Bernhardt, der Marschkomponist John Philip Sousa ("Stars and Stripes"), der Franzose Frederic-Auguste Bartholdi, Architekt und Erbauer der New Yorker Freiheitsstatue, die Schriftsteller Jules Verne und Emile Zola sowie die Päpste Leo XIII. und Pius X.
Weit übertroffen wurde dieser Geschäftserfolg von jenem Getränk, das ein amerikanischer Drugstore-Besitzer 1886 zum erstenmal mixte und das zum Synonym für Erfrischung, zum Symbol auch für Unternehmergeist, aufstieg: Coca-Cola. Bis 1903 enthielt der braune Saft wahrhaftig Kokain, seither wird der Sud auf entkokainisierten Kokablättern gebraut, wegen der Geschmacksstoffe.
In den Vereinigten Staaten verebbte die erste Kokain-Rauschwelle um 1914, als der Wirkstoff unter Rezeptpflicht gestellt wurde. Wenige Jahre später brach in Europa erst die Blütezeit an: Es waren die Jahre, in denen sich, besonders in Berlin, eine neue Großstadtspezies heranbildete, die der Kokainisten, eine bizarre »Halbwelt aus Kriminellen, Spielern und Prostituierten. Müßiggänger der literarischen und artistischen Boheme, auch aus dem begüterten Bürgertum, gehörten zu den schnellen Freunden der neuen Mode« (so der Berliner Funkautor und Drogenkenner Bernd G. Cailloux). Zwischen 10 000 und 20 000 regelmäßige Sniffer schätzte man in den zwanziger Jahren in Berlin; 1926 lag der Koks-Preis bei fünf Dollar je Gramm.
Begonnen hatte die Einnahme des Narkotikums in einem revolutionären Literatenkreis um Johannes R. Becher, den späteren DDR-Hymnentexter und -Kulturminister. Die jungen Schriftsteller suchten sich auf diese Weise dem Militärdienst zu entziehen - ziemlich paradox angesichts des Umstandes, daß deutsche Militärärzte noch wenige Jahre zuvor die Ausgabe von »Kokawein« als leistungssteigerndem Verpflegungsmittel S.191 für die kämpfende Truppe gefordert hatten.
Weltkrieg-I-Jagdflieger fuhren voll auf Koks ab, um sich mutig und wach zu halten. Die Droge spielte während des Ersten Weltkriegs in den europäischen Armeen eine ähnliche Rolle wie später das Heroin im Vietnam-Krieg: als Linderungsmittel, dessen Gebrauch stillschweigend geduldet wurde.
Bürgerlich etabliert hatten das Rauschmittel schon solche Autoren wie Sir Arthur Conan Doyle, dem »das überragende Stimulanz«, wie er das Kokain einstufte, bei der Abfassung von immer neuen Variationen seiner Sherlock-Holmes-Storys behilflich war. Meisterdetektiv Sherlock Holmes spritzt sich (in dem Roman »The Final Problem") das Zeug schließlich bis zu dreimal täglich und leidet unter Verfolgungswahn. Autor Doyle, als studierter Mediziner, muß um diese schwarze Seite des weißen Gifts gewußt haben.
Die Unsicherheit der Kriegs- und Nachkriegszeit, das rasche und leichte Geld, das manche verdienten, die Einschränkung der normalen Vergnügungen und die Alkoholknappheit während des Krieges - all das scheint den Kokain-Start in den hektischen Großstädten der zwanziger Jahre begünstigt zu haben. »Tänze des Lasters, des Grauens, der Ekstase« - das war das Programm der Berliner Schulmeisterstochter Anita Berben. Als »Kokain-Nackttänzerin« setzte sie die Metropole in Flammen, die Lovis-Corinth-Gattin Charlotte Berend hat sie wollüstig gezeichnet; die Berben starb an Kokain-Vergiftung. »Das eigentlich Bedenkliche und Gefährliche dieses Treibens war, daß es sich nicht auf Halbwelt- und Bohemekreise beschränkte«, schrieben 1924 die Berliner Wissenschaftler Ernst Joel und Fritz Fränkel, »sondern daß es sich gerade auch in den Kreisen der proletarischen, meist arbeitslosen Jugend abspielte.« Droht ähnliches in den achtzigern?
Ein junger expressionistischer Lyriker, der Kölner Walter Rheiner, beschrieb damals die nicht selbst verschuldete Aussichtslosigkeit einer solchen Situation, »in einer krachenden Stadt, einem Wirrsal wilder Verwüstungen«. Rheiners Novelle »Kokain«, 1980 (im Berliner Agora-Verlag) wieder aufgelegt, beruhte auf eigenen Erfahrungen des Autors. Halluzinierend hastig beschreibt Rheiner, der 1917 nach Berlin gekommen war, seine Irrwege in jenem »Planquadrat der Nischen, Gebüsche und Bedürfnisanstalten«, zwischen Gedächtniskirche »nd Kurfürstendamm: Er riegelte sich auf einem der Klosetts ein. » » Was war das für ein Leben? Ein Aasleben! O du » » verhaßt-geliebtes Gift, Kokain, Kokain (... die Maschine » » stampfte: Klick-Klack, Klick-Klack, wieder ein Stück ab ...). » » Oben donnerte der Zug in die Halle ... »
Wenige Jahre nach Vollendung der Novelle starb Walter Rheiner als Morphium- und Kokain-Süchtiger.
Es war die Zeit, als Otto Dix, Maler des menschlichen Pandämoniums, die morbide »Koksgräfin« als typische Erscheinung der Roaring Twenties malte, als der Expressionist Georg Trakl an einer Überdosis Kokain starb und Ernst Jünger und Gottfried Benn die Droge in den höchsten Tönen priesen.
»ünger: Der »Schnee«, falls er auf eine intakte Physis trifft, » » entrückt den Geist in nüchterne Kälte und überläßt ihn, » » während er ihm die Wahrnehmung des Körpers abnimmt, einsamem » » Selbstgenuß. »
»enn: Weltallhafte Kälte, Erhaben und eisig, entsteht im Gefüge, » » bei Glut in der Mittelachse ... Gleichzeitig » » Schwellenverfeinerung: Eindrucksansturm, Fremdanregbarkeit, » » gerichtet auf Etwas Universales, ein Allgefühl -: »Gefühl des » » Mittags«. »
»Potente Gehirne«, schrieb Gottfried Benn in einem Aufsatz, »stärken sich nicht durch Milch, sondern durch Alkaloide.« Drogen seien generell als Wachmacher an höheren Lehranstalten zu empfehlen.
Fast alle Autoren, die anfangs auf die Droge setzten, haben später ihr Urteil revidiert, haben auch den Niedergang der Kokain-induzierten Fieberkurve bei Dauergebrauch, haben Kokain als existentielle Zerreißprobe geschildert.
»Das Kokain reißt die Persönlichkeit auseinander; es verrichtet eine gewaltige, beinahe elektrolytische Arbeit der Spaltung des Gewissens«, ließ der Italiener Pitigrilli seinen Kokain-Helden Tito niederschreiben. »Die ersten Dinge, die das Kokain vernichtet, sind der Wille und die Scham.«
Ziemlich abrupt brach Anfang der dreißiger Jahre die Kokain-Welle wieder ab - neue, in den Retorten der Pharma-Industrie synthetisierte Schnell- und Highmacher drängten nach vorn: die Amphetamine ("Pervitin«, später »Preludin").
Zwei Tonfilme in den dreißiger Jahren, »Der weiße Dämon« mit Peter S.192 Lorre und »Tango Notturno« mit Pola Negri, kreisten noch um das Thema Kokain. Aber wirklich geschnupft wurden die weißen Kristalle bald nur noch von Jazzern - und von manchen Nazi-Größen wie Hermann Göring, der es wohl bei den Fliegern gelernt hatte.
Daß den exaltierten Erwartungen die große Ernüchterung folgte, bei Künstlern und Literaten, erschien um so zwingender und folgerichtiger, je genauer Pharmakologen und Neurologen schließlich die Wirkungen des Kokains erforschten.
»Kein anderes Rauschmittel«, bemerkte Professor Helmut Coper, Direktor des Instituts für Neuropsychopharmakologie an der FU Berlin, »hat soviel Gebrauchsvarianten wie Kokain": Einspritzen unter die Haut, Einreiben in das Zahnfleisch oder Penis und Vulva, Trinken von Kokain-Wein, Kauen von Koka-Pasten, Rauchen von Koka-versetztem Tabak und, am gebräuchlichsten, das Schnupfen von Kokain-Pulver.
Das Ritual dafür ist seit den zwanziger Jahren unverändert. Das meist etwas verklumpte Pulver ("Rocks") wird auf einen Spiegel oder auf einen Glastisch geschüttet. Der Spiegel hat den Sinn, die vorhandene Menge optisch zu verdoppeln. Mit einer Rasierklinge wird das Pulver kleingehackt und sodann in einer oder mehreren »Linien« von ungefähr drei bis fünf Zentimetern Länge aufgereiht.
Mit einem Röhrchen, bei Snobs mit einem möglichst unbenutzten 100-Mark-Schein (an dem das feine Pulver nicht hängenbleibt), wird der Schnee in beide Nasenlöcher gezogen, es kribbelt wie Schnupftabak. Man darf nicht niesen, weil das teuer wird. (Prompt prustete Woody Allen, in dem Film »Annie Hall«, im falschen Moment, für einige hundert Dollar Stoff stoben vom Tisch.)
Daß die Wirkung eintritt, merkt der Sniffer an dem betäubenden Gefühl am Übergang vom Nasen- zum Rachenraum. Je besser der Koks und je höher die Dosis, desto betäubter die Schleimhäute. Ein »Flash« wie bei Heroin tritt nicht ein.
Schon Minuten nachdem der Wirkstoff - beim Schnupfen über die Nasenschleimhäute - in den Blutkreislauf geraten ist, überschwemmt er wichtige Teile des Gehirns: die Großhirnrinde, die Erinnerung und Verstand steuert, Teile des Zwischenhirns (Hypothalamus), das Appetit, Gefühle und Schlaf kontrolliert, sowie das Kleinhirn (motorische Aktivitäten). Im Gehirn entfacht die Droge ein regelrechtes Nervengewitter, indem sie in die Impulsübermittlung zwischen den einzelnen Nervenzellen eingreift. Die Folge ist eine Dauererregung ganzer Nervenregionen.
Unter Kokain-Einfluß gleiche das Nervensystem »einer überlasteten Telephonzentrale«, so der Neurologe Walter Riker vom New Yorker Cornell Medical Center. »Es kann die hereinkommenden Nachrichten und Impulse nicht mehr normal verarbeiten, der Mensch wird hypererregt.«
Der Höhepunkt der Euphorie stellt sich bei Schnupfern merkwürdigerweise ein, noch bevor die Wirkstoffkonzentration im Blut ihr Maximum erreicht. Die Wirkung ist, wenn das Gift oral, also durch Kauen (der Blätter) oder Schlucken eingenommen wird, deutlich geringer als nach dem Schnupfen oder Rauchen, ein Teil des Kokains wird offenbar im Magen-Darm-Trakt zerstört.
Kokain gilt als Leistungs-Droge. Sie führt ihre Adepten nicht in die zerfließende Innenwelt des sozial isolierten, ausgeflippten Heroin-Fixers, der immer weiter abtreibt in die Einsamkeit ferner Glücksgefilde. Kokain machte eher munter, geschwätzig, aufgekratzt - die Berauschten reden »Kokolores«, phantasievollen, exaltierten Blödsinn. Eine Berliner Kokain-Schnupferin: »Du bist wach, quatschst, bist präsent, auf Draht, nicht müde.«
Daß Kokain »eine kurz anhaltende Euphorie« (Coper) erzeugt, daß es Ermüdungserscheinungen unterdrückt und den Appetit zügelt, wird von Medizinern bestätigt.
Hinter die Behauptung von Kokain-Konsumenten, ihnen würden »Bewußtseinserweiterung« und sonst unerreichbare Gedankenklarheit durch Koks beschert (siehe Kasten Seite 186), setzen die Wissenschaftler Fragezeichen. Der »gewissen Logorrhöe« (krankhafte Geschwätzigkeit) stehe verminderte Konzentrationsfähigkeit gegenüber, konstatiert S.193 Coper, dazu Nervosität, »manchmal auch Angst und Lichtempfindlichkeit«.
Ebenso umstritten ist die häufig zitierte Wirkung des Kokains als Aphrodisiakum. Zumindest ambivalent, so die derzeit bei Wissenschaftlern gängige Auffassung, sei der Zusammenhang zwischen Sex und Schnee: Die Erlebnisintensität werde einerseits gesteigert, doch Kokain könne andererseits den Orgasmus auch verhindern oder quälend hinauszögern, besonders dann, wenn das Pulver direkt auf die Schleimhäute der Genitalien gestreut wird und dort seine anästhesierende Wirkung entfaltet. Bei Langzeit-Koksern wächst das sexuelle Verlangen, doch gleichzeitig stellt sich Impotenz ein und verhindert dessen Erfüllung.
Nach großen Dosen oder chronischem Gebrauch ruft Kokain psychoseartige Zustände und paranoide Reaktionen hervor. Die euphorische Stimmungslage des Kokainisten kann in tiefe Depression umschlagen. Er wird geschüttelt von Angstgefühlen und sieht Wahnbilder - wie etwa die oft beschriebenen halluzinierten »Kokainwanzen«, die sich die Süchtigen von der Haut kratzen wollen.
»Wenig«, sagte Experte Coper, sei »über eine ''sichere'' Dosis bekannt« - kein Kokainkonsument kann wissen, wo für ihn die tödliche Schwelle liegt. Zehn Milligramm des Alkaloids sind die durchschnittlich mit einer »Linie« eingezogene Dosis, die alle erwünschten Wirkungen sicherstellt. Aber bei manchen, besonders Empfindlichen können schon 30 Milligramm tödlich wirken.
In wissenschaftlichen Berichten wird die »außerordentlich große interindividuelle Streuung tödlicher Dosen« betont: Zwischen 800 und 1430 Milligramm bei oraler Einnahme, zwischen 100 und 2500 Milligramm beim Spitzen und zwischen S.194 22 und 260 Milligramm bei Einnahme über die Schleimhäute. Nach einer Überdosis, so berichtet Coper, sterben die Vergifteten in zwei Dritteln der Fälle binnen weniger als fünf Stunden.
Die Symptome der akuten Kokain-Vergiftung rühren her von der Überstimulation des zentralen Nervensystems. Die Patienten sind äußerst erregt, ängstlich, verwirrt, die Reflexe sind gesteigert. Der Puls galoppiert, die Atmung ist unregelmäßig, Übelkeit, Schüttelfrost, Fieber, Erbrechen und Bauchkrämpfe stellen sich ein. Es kommt zu Delirien, Krämpfen und Bewußtlosigkeit. Der Tod erfolgt durch Atemlähmung.
Da Kokain, anders als Opiate oder Alkohol, nicht vom Stoffwechsel aufgenommen wird, führt es nicht zur physischen Abhängigkeit, zur körperlichen Sucht. Auch nach jahrelangem Koksgenuß verspüren Kokainisten, wenn sie die Droge absetzen, keine physischen Entzugserscheinungen, jedenfalls keine »auffälligen, den Konsumenten bedrohenden oder von ihm als beängstigend empfundenen Abstinenzsymptome« (Coper) - wie beim Horror des »Cold Turkey« nach Absetzen von Heroin.
Hingegen ist die psychische Abhängigkeit beim Dauergebrauch von Kokain besonders stark ausgeprägt. Um die Droge kreist dann alles. Zwar besteht kein Zwang (wie beim Heroin), die Dosis zu erhöhen, aber übermächtig wird der Drang, den Stoff regelmäßig oder periodisch einzunehmen. »Das Nichtmehr-aufhören-Können«, so sagt es der Baseler Psychiater Dieter Ladewig, sei »das entscheidende Kriterium« der psychischen Abhängigkeit vom Kokain.
Doch dazu muß es offenbar nicht kommen. Die Ärzte sprechen vom Typus des »social-recreational user«, vom gelegentlichen Freizeit-Sniffer, und bezeichnen damit anscheinend die Mehrheit der Kokain-Konsumenten: Leute, die beim Zusammensein mit Freunden ein oder zwei »Linien« Koks reinziehen, zu Hause, in der Kneipe - oder auch schon mal in »Bio''s Bahnhof«, hinter dem Rücken des Bundesinnenministers Gerhart Baum, im Blickfeld der Kamera.
Eine zweite Kategorie sind die »situation user«, die Kokain, wenn auch nicht regelmäßig, als Dopingmittel einsetzen, zur Leistungssteigerung, zur Beseitigung depressiver Stimmungen oder als Appetitzügler. Der hohe Preis der Droge mag bisher dazu beigetragen haben, daß nicht mehr Gelegenheitsschnüffler zur dritten Gruppe, der der eigentlichen Kokainisten, gestoßen sind: Personen, die regelmäßig ihre Dosis Kokain brauchen, geschnupft oder gespritzt, mehrmals am Tage, in der Woche fünf Gramm und mehr.
Fast alle Untersuchungen stimmen darin überein, daß bei diesen Kokain-Abhängigen, bei massivem Dauergebrauch, die erwünschten Wirkungen mit der Zeit nachlassen und die unerwünschten toxischen Effekte zunehmen. Heraufsetzen der Dosis nützt nichts, und gegen die Katastrophe hilft nur eines: Absetzen der Droge.
Zusammen mit dem seelischen wird beim Kokain-Mißbrauch auch der körperliche Verfall bald sichtbar. Häufig kommt es zu Schädigungen der Nasenscheidewand, bis schließlich der Knorpel regelrecht zerbröselt - Folge einer permanenten Mangeldurchblutung durch die anästhesierende Wirkung des Kokains. Betuchte Kokser lassen sich das Loch in der Scheidewand mit einem Silber- oder Platinplättchen schließen. Hollywood-Chirurg J. Perleman: »Früher haben wir Brüste geliftet, jetzt reparieren wir fast nur noch Nasen.«
Die Folgen eines massiven Dauergebrauchs von Kokain sind zumeist nicht anders als bei Morphinisten und Alkoholikern. »Das Endstadium«, resümiert Drogenforscher Coper, »ist gekennzeichnet durch erschütternde Bilder körperlichen und seelischen Verfalls.«
Aber unbestreitbar ist auch: Während beim Heroin die erste Spritze bereits den Beginn einer Sucht bedeuten kann, ist der gelegentliche Kokain-Sniff physisch, und für die meisten wohl auch psychisch, nicht gefährlicher als der Genuß von Alkohol oder Tabak.
Zehn Millionen Amerikaner, so eine Schätzung der US-Drogenbehörde, nehmen derzeit Kokain »mehr oder minder regelmäßig": die einen morgens nach dem Aufstehen, um den Tag aufzuhellen, die anderen als Zwischendurch-Rakete im Büro oder vor einer wichtigen Geschäftsbesprechung, wieder andere abends, als »Nachtisch« oder Mitternachtsüberraschung bei einer Party.
Ein erstes Signal für die Wiederkehr der Droge war 1969 die Eingangsszene des Kultfilms »Easy Rider«; vor dem Start zu ihrer Motorradreise nahmen S.195 Peter Fonda und Dennis Hopper erst einmal eine kräftige Prise Kokain. In den Jahren danach, erst recht aber seit 1976, kam es in den USA zu einer Explosion des Kokain-Verbrauchs.
»Ein bißchen Schnee zu Weihnachten kann nichts schaden« - Photo-Postkarten von der »Easy Rider«-Eingangsszene mit diesem Text kursierten damals als Festtagsgruß in Amerika. Inzwischen gibt es Glückwunschkarten, die Nancy Reagan ("Fly High America") und Königin Elizabeth ("Dear Snow Queen") als Schnupfende darstellen. Eine andere Karte zeigt Marilyn Monroe mit dem weißen Pulver: »Crystals are a girl''s best friend.«
»Wie ein Schneesturm«, überschrieb das US-Nachrichtenmagazin »Time« eine Titelgeschichte im Sommer letzten Jahres, habe »die all-amerikanische Droge« Kokain das Land heimgesucht: Für junge Leute sei der Koksgebrauch zum Statussymbol geworden wie früher der Straßenkreuzer. In Aspen, Colorado, hätten Wintersporturlauber Tütchen mit Kokain als Trinkgeld in der Ferienwohnung liegenlassen. Bei manchen Werbeagenturen in New Yorks Madison Avenue gebe es neuerdings nicht selten »Kokain anstelle von Martinis«.
Hauptumschlagplatz für den amerikanischen Kokain-Markt ist Miami, Florida. Dort tobt ein verlustreicher Bandenkrieg: Kolumbianer und Exilkubaner kämpfen um die Vorherrschaft im Kokshandel. Eines der Opfer war ein aus Kolumbien kommender Kurier, der 114 versiegelte, Kokain-gefüllte Präservative verschluckt hatte. Zwei davon waren in seinem Magen geplatzt.
Angebaut werden die zwei Meter hohen Koka-Sträucher vor allem in Bolivien (70 000 Hektar) und Peru (50 000 Hektar). Aus 1000 Kilogramm Kokablättern, der Jahresernte von einem Hektar, entstehen etwa fünf Kilogramm braune Koka-Paste, daraus wiederum zwei Kilogramm weißgraue »Koka-Basis«, die in transportablen Labors, vor allem in Kolumbien, zu dem handelsüblichen weißen Pulver verarbeitet wird.
Die Verdienstspannen sind atemraubend: Aus 500 Kilogramm Kokablättern, die für 1200 Dollar eingekauft werden, entstehen am Ende abgepackte Kokain-Tütchen, die im Kleinverkauf eine halbe Million Dollar bringen.
Eine »wachsende Tendenz« zur Einnahme besonders hoher Dosen von Kokain bemerken amerikanische Drogen-Experten etwa seit Sommer letzten Jahres. »Es ist, als ob du den Finger an ein elektrisches Kabel hältst«, beschrieb Drogenberater Gay den Effekt solcher Superdosis. Zumeist handelt es sich um sogenannte »Free Base«-Trips, bei denen durch chemische Behandlung (mit Äther) die Droge in einen noch wirkmächtigeren Zustand überführt wird.
Als noch raffinierter, aber auch weit gefährlicher gilt der sogenannte »Speedball«-Trip - Kokain und Heroin, addiert S.197 zu einer kaum noch kalkulierbaren Teufelsmischung. Die stimulierende Wirkung der einen und der berauschende Effekt der anderen Droge vermitteln ein Gefühl, so beschrieb es ein »Speedball«-User, »als fahre man mit einem 150 Stundenkilometer schnellen Lift das Empire State Building hoch, und plötzlich kappt einer das Tragseil«.
Daß nunmehr, nach fast einem halben Jahrhundert Abstinenz, Kokain auch in Europa wieder schick wird, scheint nicht zuletzt das zweifelhafte Verdienst von Folk- und Rock-Stars, die Fluch und Segnungen des Weißen Schnees besungen haben - von Johnny Cash, der 1968 seinen »Cocaine Blues« intonierte, über Jefferson Airplane und Steppenwolf bis hin zu dem Wiener Liedermacher Wolfgang Ambros ("Weiß wie Schnee") und dem österreichischen New-Waver Falco ("Drah di net um"): »Den Schnee, auf dem wir alle talwärts fahren, kennt heute jedes Kind.«
Der Warnruf »No Snow - no Show«, den Rockbands auf Tourneen vorausschicken, ist in der ganzen Branche gefürchtet. Weil die Musiker es nicht mehr wagen, das Zeug im Gepäck über die Grenzen zu transportieren, sind die Tournee-Manager oder ihre Hilfschargen genötigt, selber die Connections herzustellen und Koks zu besorgen. Von den Rollings Stones ist bekannt, daß sie einen Konzertbeginn um eineinhalb Stunden verzögerten, bis endlich der Stoff da war. Kokser, die spektakuläre Prozesse hinter sich haben - wie der Sänger Abi Ofarim -, treten in Talk-Shows als reuige Sünder auf und warnen Deutschlands Jugend vor dem Nasen-Stüber.
In der westdeutschen Werbebranche wird nach wie vor mehr Alkohol getrunken als gesnifft. Hingegen scheint Koks bei Werbe- und Modephotographen zunehmend beliebt. Und bekannt ist, daß auch Fernsehleute sich vor ihrem Auftritt gern den Mut- und Muntermacher einziehen.
Kokain ist allem Anschein nach auch in der Bundesrepublik gesellschaftsfähig geworden, ohne besonders viel Geheimnistuerei. Die es nehmen, werden immer kesser: Als eine des Kokain-Gebrauchs verdächtigte Filmschauspielerin zur Polizeivernehmung kam, trug sie Koksbriefchen in ihrer Handtasche.
Schauspielern, sagen Kenner, sei die Droge nicht zu empfehlen. Einer erzählt, er habe es ein paarmal versucht: »Man findet sich ganz toll vor der Kamera, jeder Blick stimmt, jede Geste - aber die Wahrheit ist ganz anders. Es spielt sich alles nur im Kopf ab, das Gesicht versteinert, es kommt gar nichts mehr raus. Das ist furchterregend.«
Nicht als Schauspieler, sondern als Selbstdarsteller, mit rabiater Schonungslosigkeit, war Rainer Werner Fassbinder in einem seiner Filme vor die Kamera getreten.
Es war eine Episode in der von mehreren deutschen Filmemachern bestrittenen Nach-Stammheim-Collage »Deutschland im Herbst«. Auf der Leinwand sah man Fassbinder, wie er kräftig Koks schnupfte - die Szene war nicht getürkt, der Stoff war echt.
»Durch eine Kombination von Arzneimitteln und Suchtstoffen«, so gab am Freitag letzter Woche die Münchner Staatsanwaltschaft bekannt, lasse sich der Tod des Filmregisseurs Rainer Werner Fassbinder erklären. Am Morgen des 10. Juni war der 36jährige tot in seiner Münchner Wohnung aufgefunden worden.
Wie die vorläufige Untersuchung des Gerichtsmedizinischen Instituts der Universität München ergab, hat Fassbinder barbiturathaltige Schlafmittel und Kokain »in einer solchen Dosis aufgenommen, daß sie im Zusammenwirken zum Tode führen konnten«.
S.191
Er riegelte sich auf einem der Klosetts ein. Was war das für ein
Leben? Ein Aasleben! O du verhaßt-geliebtes Gift, Kokain, Kokain
(... die Maschine stampfte: Klick-Klack, Klick-Klack, wieder ein
Stück ab ...). Oben donnerte der Zug in die Halle ...
*
Der »Schnee«, falls er auf eine intakte Physis trifft, entrückt den
Geist in nüchterne Kälte und überläßt ihn, während er ihm die
Wahrnehmung des Körpers abnimmt, einsamem Selbstgenuß.
*
Weltallhafte Kälte, Erhaben und eisig, entsteht im Gefüge, bei Glut
in der Mittelachse ... Gleichzeitig Schwellenverfeinerung:
Eindrucksansturm, Fremdanregbarkeit, gerichtet auf Etwas
Universales, ein Allgefühl -: »Gefühl des Mittags«.
*
S.184Mit Klaus Lemke, Dolly Dollar in München; Mai 1981.*S.185Zeichnung von Charlotte Berend-Corinth.*S.187Tarnung und Bewaffnung dient dem Schutz vor rivalisierendenGruppen.*