»Im Würgegriff der Bürokratie« (original) (raw)
SPIEGEL: Herr Professor Gruss, seit Ihrer Wahl vor einem halben Jahr haben Sie 60 der 80 Max-Planck-Institute besucht und sich die Sorgen der Direktoren angehört. Was haben die Fürsten ihrem zukünftigen König mit auf den Weg gegeben?
Gruss: Die Max-Planck-Direktoren sind keine Fürsten. Sie genießen aber ein fürstliches Privileg: in extremer Unabhängigkeit forschen zu dürfen. Diese Freiheit zu verteidigen ist mein höchstes Ziel. Wenn ich das verfehle, dann ist der wichtigste Wert der Max-Planck-Gesellschaft verspielt.
SPIEGEL: Wer bedroht denn die Freiheit der Forschung?
Gruss: In Deutschland sind wir im internationalen Wettbewerb weit weniger konkurrenzfähig als früher. Die amerikanische Gesundheitsbehörde beispielsweise fördert die biomedizinische Forschung jedes Jahr mit zweistelligen Zuwachsraten. Das heißt: Unser Hauptkonkurrent hat innerhalb von fünf Jahren die Ausgaben für die Biomedizin verdoppelt. Die MPG hingegen bekam im letzten Jahr nur 3,5 Prozent mehr - obwohl wir deutlich höhere Steigerungsraten beantragt hatten. Es ist wie mit der deutschen Fußballnationalmannschaft: Die MPG ist nicht schlechter geworden, aber die internationale Konkurrenz besser.
SPIEGEL: ... und wie die Nationalmannschaft hat die MPG seit vielen Jahren keinen großen Titel gewonnen. Die letzten beiden Nobelpreise gab es 1995. Seither sind MPG-Forscher leer ausgegangen.
Gruss: Einen Nobelpreis kann man sich nicht erkämpfen, das passiert einfach. Die MPG forscht durchgängig auf höchstem Niveau. Und dann kommen diese Ausschläge nach oben. Die Nobelpreise werden wiederkommen, davon bin ich überzeugt.
SPIEGEL: Allerdings fällt es Ihnen immer schwerer, Spitzenforscher ins Land zu holen.
Gruss: Das ist leider nur allzu wahr. Aber wenn wir einem Amerikaner nur die Hälfte des Gehalts bieten können, das er in den USA bekommt, muss er schon ein Idealist sein, um trotzdem zu uns zu kommen. Vor allem wegen zu niedriger Gehälter haben wir schon einige Absagen hinnehmen müssen.
SPIEGEL: Selbst die eigenen Topleute bleiben nicht im Land. Talentierte Nachwuchsforscher gehen früh ins
Ausland und wollen dann nicht mehr zurück. Der spätere Nobelpreisträger Wolfgang Ketterle gab der MPG ebenso einen Korb wie jüngst der Neurobiologe Thomas Südhof - beide feiern Erfolge in den Vereinigten Staaten.
Gruss: Die meisten Jungforscher, die in die USA gehen, kehren später sehr wohl wieder zurück. Ich bin ja selber als junger Mensch nach Amerika gegangen. Und auch ich habe den Lebensstil dort als ungeheuer befreiend empfunden. Die Rahmenbedingungen für Forschung sind dort einfach besser, es gibt viel weniger Auflagen und bürokratische Einengungen. Das sollte uns ein Vorbild sein.
SPIEGEL: Was ist denn der größte Hemmschuh für die deutsche Forschung?
Gruss: Wir brauchen unbedingt ein gesondertes Tarifrecht für die Wissenschaft. Wir sind darauf angewiesen, hochkarätige Wissenschaftler zu gewinnen - und zwar mit wettbewerbsfähigen Gehältern. Unsere Laborausstattung ist auf höchstem Niveau. Aber wir sind dem Bürokratismus unterworfen, der uns in Gestalt des öffentlichen Dienstrechts im Würgegriff hält. Es bietet uns einfach zu wenig rechtlichen und finanziellen Spielraum, den individuellen Bedürfnissen gerecht zu werden. Das muss alles viel flexibler werden.
SPIEGEL: Warum gelingt es nicht, die verkrusteten Strukturen aufzubrechen?
Gruss: Es ist ja versucht worden. Doch alle Versuche, ein eigenes Wissenschaftstarifrecht einzuführen, sind bislang gescheitert. Ebenso fatal für die Wissenschaft ist übrigens das Teilzeit- und Befristungsgesetz, wie ich in meiner eigenen Abteilung mehrfach erlebt habe.
SPIEGEL: Sie meinen das Problem, Forscher allzu lange befristet zu beschäftigen. Irgendwann müssen Sie einen Mitarbeiter fest einstellen ...
Gruss: ... oder entlassen. Wenn nämlich keine Planstelle frei ist, müssen Sie sich von gut ausgebildeten Wissenschaftlern oder auch technischen Assistenten trennen - obwohl beide Seiten gern auch zeitlich befristet weiter zusammenarbeiten würden. Es wird überhaupt keine Rücksicht darauf genommen, dass es bei Experimenten auch mal zu Verzögerungen kommt. Diese überflüssige Befristung sollte mindestens auf neun Jahre verlängert werden, um den Arbeitszyklen von Forschern besser zu entsprechen.
SPIEGEL: Was ärgert Sie noch?
Gruss: Unsere im internationalen Vergleich viel zu restriktiven Gesetze. Warum wohl ist bei uns die frühe Phase der Gentechnik halb verschlafen worden? Warum ist die Großpharmaindustrie ins Ausland abgewandert? Ein wesentlicher Punkt war das erste Gentechnikgesetz, das zum Glück inzwischen entschärft wurde. Aber weiterhin haben wir ein Tierschutzgesetz, das zu den strengsten der Welt gehört. Und jetzt wird der Tierschutz sogar als Staatsziel im Grundgesetz verankert. Schließlich haben wir ein Embryonenschutzgesetz, das uns - anders als in anderen Ländern - einschränkt.
SPIEGEL: Gastwissenschaftler beklagen auch die Schikanen durch die Ausländerbehörden. Häufig kommen sie sich wie Bittsteller vor.
Gruss: Wir brauchen deshalb dringend ein neues Zuwanderungsgesetz. Das Gesetz, das der Bundespräsident hoffentlich bald unterzeichnet, würde der deutschen Wissenschaft gut tun.
SPIEGEL: Warum finden Sie mit Ihren Forderungen so wenig Gehör in der Politik?
Gruss: In letzter Zeit habe ich ja viele Damen und Herren aus der hohen Politik gesprochen. Sie alle überbieten sich darin, den enormen Wert der Grundlagenforschung zu preisen. Jetzt müssen sie ihren Worten auch Taten folgen lassen.
SPIEGEL: Machen Sie es sich nicht zu leicht, immer nur mehr Geld zu verlangen? Gibt es nicht innerhalb der Max-Planck-Institute mit ihren 11 600 Mitarbeitern noch genug Spielraum für Einsparungen?
Gruss: Wir lassen unsere Institute ja ständig von internationalen Gutachtern auf Stärken und Schwächen überprüfen. Es wäre wünschenswert, wenn man die Forschungsaktivitäten der einzelnen Fachministerien genauso kritisch bewerten würde. Da wird viel Geld für Forschungsvorhaben ausgegeben, deren Sinn man bezweifeln kann.
SPIEGEL: Sie gelten als Forscher, der eine gute Witterung für neue Trends in der Wissenschaft hat. Auf welche Schwerpunkte werden Sie als Max-Planck-Präsident setzen?
Gruss: Eine fertige Liste kann ich Ihnen natürlich noch nicht präsentieren. Aber eines ist sicher: Wir stehen vor einer Renaissance der Optik. Wir haben in Erlangen mit der dortigen Universität ein neues Projekt gestartet. Das Ziel: durch optische Methoden kleinste Strukturen sichtbar zu machen. Diese Techniken kommen dann wiederum den Biologen zugute, die versuchen, die Vorgänge in den Zellen zu enträtseln.
SPIEGEL: Was machen Sie, wenn Sie kein zusätzliches Geld bekommen? Haben Sie einen Plan B in der Schublade?
Gruss: Plan B hieße wohl: streichen und schließen? Dann würde ich frei werdende Direktorenposten nicht neu besetzen können. Es wäre ein absolut verkehrtes Signal, wenn die MPG auf Grund von Geldmangel ihre Forschung einschränken müsste.
SPIEGEL: Verglichen mit den Universitäten kommt die Max-Planck-Gesellschaft aber immer noch sehr glimpflich davon.
Gruss: Keine Frage, die Universitäten sind extrem unterfinanziert. Deshalb muss die öffentliche Hand hier Unterstützung leisten. Aber auch ein Beitrag der Studierenden wäre hilfreich: An der Privatuniversität Witten/Herdecke etwa zahlt ein Student während seines Studiums keinerlei Gebühren. Aber wenn ein Absolvent später im Beruf gutes Geld verdient, erlaubt sich die Uni, einen kleinen Teil des Bruttogehaltes einzubehalten - wie ein Darlehen, das man zurückzahlt. Dies eröffnet jedem die Möglichkeit zu studieren, ohne sich finanziell krumm legen zu müssen - und gegenüber dem Steuerzahler wäre das nur gerecht.
SPIEGEL: Als die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft 1911 gegründet wurde, waren die meisten Deutschen davon überzeugt, dass die Wissenschaft die Lebensbedingungen der Menschen verbessern werde. Heute fühlen sich viele durch die Wissenschaft eher bedroht. Woher dieser Imagewandel?
Gruss: Das ist manchmal schwer zu verstehen. In den letzten hundert Jahren hat sich die Lebenserwartung der Menschen dank der Wissenschaft nahezu verdoppelt, dennoch stehen einige Forschungszweige in der Kritik. Wir müssen deshalb heute viel stärker für unsere Ziele werben und unsere faszinierenden Entdeckungen präsentieren. In dieser Hinsicht können wir viel von den Amerikanern lernen.
SPIEGEL: Für viele Ihrer Kollegen hatte die Auseinandersetzung um die Stammzellforschung Züge einer Hexenjagd. Haben Sie das auch so empfunden?
Gruss: In der Tat hatte die Debatte nur teilweise ein hohes philosophisches Niveau. Auch im Bundestag wurde darüber manchmal allzu emotional diskutiert. Es ist ja nun wirklich nicht so, dass unsere Labors von lauter kleinen Frankensteins bevölkert sind.
SPIEGEL: Nach monatelangem Hin und Her hat das Parlament beschlossen, unter strengen Auflagen die embryonale Stammzellforschung zu erlauben. Ist Deutschland durch diesen Kompromiss zu einem attraktiven Standort für die Bioforschung geworden?
Gruss: Noch nicht allein dadurch. Als Forscher kann ich mit dieser Lösung zwar zunächst einmal leben, aber als Patient könnte ich es nicht.
SPIEGEL: Weshalb nicht?
Gruss: Nach dem Beschluss des Bundestags dürfen wir ja nur mit embryonalen Stammzelllinien arbeiten, die vor dem Stichtag 1. Januar 2002 hergestellt wurden. Doch diese früheren Zelllinien sind mit Mauszellen kontaminiert. Ein Einsatz am Menschen wäre wegen einer möglichen Verunreinigung mit Mausviren viel zu gefährlich. Das könnte zu der absurden Situation führen, dass deutsche Parkinson-Patienten nur im Ausland behandelt werden dürften - und die Krankenkassen müssten diesen Medizintourismus auch noch bezahlen.
SPIEGEL: Wie lange lässt sich die Stichtagsregelung durchhalten?
Gruss: Ich schätze, höchstens fünf Jahre - aber nicht viel länger. Dann wird der Ball wieder im Feld der Politiker landen.
SPIEGEL: Sie selbst haben vor einigen Jahren die Firma DeveloGen mitgegründet, die Stammzelltherapien gegen Diabetes entwickelt. Sind Sie schon Millionär?
Gruss: Das werden vielleicht andere werden. Ich habe nur beim Aufbau des Unternehmens geholfen. Vor allem aber wegen der 100 Jobs, die wir dort neu geschaffen haben, hoffe ich natürlich, dass die Firma reüssiert.
SPIEGEL: Muss ein Spitzenforscher heutzutage auch ein tüchtiger Kaufmann sein?
Gruss: Max-Planck-Direktoren sind keine Geschäftsleute. Unsere Forscher sollen einfach ihrer wissenschaftlichen Neugier folgen. Aber wenn dabei eine interessante Anwendung herauskommt, wirft man die doch nicht einfach in den Papierkorb.
SPIEGEL: Gilt inzwischen nur noch der Forscher als erfolgreich, der auch etwas Verwertbares vorweisen kann?
Gruss: Auf keinen Fall. Ich selber habe mein Leben lang ohne Verwertungszwang geforscht. Anfangs war es nicht mein Ziel, unter Einsatz von Stammzellen direkt neue Therapien zu entwickeln. Dass dies jetzt plötzlich möglich erscheint, ist natürlich wunderbar. Wir bleiben unserem Namenspatron Max Planck verpflichtet: Dem Anwenden muss das Erkennen vorausgehen.
SPIEGEL: »Der frühe Embryo hat keine Seele«, haben Sie einmal gesagt. Sind Sie folglich dafür, Embryonen zu Forschungszwecken herzustellen?
Gruss: Ein früher Embryo hat keine Seele, dazu stehe ich. Deshalb sehe ich auch kein Problem, an überzähligen Embryonen aus der Fortpflanzungsmedizin zu forschen, die sonst einfach vernichtet würden. Eine Herstellung von Embryonen zu Forschungszwecken lehne ich aber eindeutig ab. Denn das setzt voraus, dass Frauen dafür ihre Eizellen spenden. Diese ethische Grenze sollten wir nicht überschreiten.
SPIEGEL: Können die Bioforscher der MPG hoffen, von Ihnen bevorzugt behandelt zu werden?
Gruss: Nicht unbedingt. Vor allem Forschungsvorhaben, die mir selber sehr am Herzen liegen, sehe ich mir besonders streng an.
SPIEGEL: Herr Professor Gruss, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Peter Gruss
ist Direktor der Abteilung Molekulare Zellbiologie am Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie in Göttingen und übernimmt von dieser Woche an für mindestens sechs Jahre das Amt des Präsidenten der Max-Planck-Gesellschaft (MPG) von seinem Vorgänger Hubert Markl. Die MPG wurde 1911 als Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft in Berlin gegründet und ist dem Ziel der Spitzenforschung verpflichtet. Gruss, 52, erlebte den Aufstieg der Molekularbiologie als Jungwissenschaftler Ende der siebziger Jahre in den USA. Zurück in Deutschland, wurde er Professor für Mikrobiologie an der Universität Heidelberg, ehe er 1986 den Ruf nach Göttingen annahm. Den bescheiden auftretenden Überflieger, der eine Vielzahl erstklassiger Arbeiten verfasst hat, fasziniert vor allem die Entwicklungsbiologie, besonders die Frage: Wie kann aus einer befruchteten Eizelle ein komplettes Individuum entstehen? Bei Experimenten an Mäusen entdeckte die Forschergruppe um Gruss wichtige Kontrollgene, welche die Entwicklung verschiedener Organe steuern. Überdies gelang es, Stammzellen der Maus zu verwandeln: in Zellen, die Insulin produzieren. Jetzt versucht die von Gruss mitgegründete Firma DeveloGen in Göttingen, diese Ergebnisse in eine Therapie für Diabetiker umzumünzen. Seine Wahl zum Präsidenten der MPG gilt einigen Beobachtern als politisches Signal: Peter Gruss ist ein entschiedener Befürworter der Forschung an menschlichen embryonalen Stammzellen. Künftig präsidiert er über 80 Max-Planck-Institute mit 11 600 Mitarbeitern. Der Haushalt der Gesellschaft lag 2001 bei 1,25 Milliarden Euro.
* Links: in München; rechts: bei der Einweihung desMax-Planck-Instituts für Molekulare Zellbiologie und Genetik inDresden.Das Gespräch führten die Redakteure Jörg Blech und Olaf Stampf.* Affenforscherin Erika Seres vom Leipziger Max-Planck-Institutfür Evolutionäre Anthropologie mit Schimpansen.