11. November 2002 Rudolf Augstein (original) (raw)

»Der hier liegt, starb zu früh«, das sollte auf seinem Grabstein stehen. Oder: »Er hat seine Pflicht und Schuldigkeit getan.« Aber: »Von mir aus bedarf es überhaupt keines Steines. Mir würde genügen, wenn einige Leute den Gedanken hegten, der SPIEGEL sei diesem Lande mehr nützlich als schädlich gewesen und sei es noch.«

Jetzt ist er tot. Rudolf Augstein starb am Morgen des 7. November. Zwei Tage zuvor, am 5., war er 79 geworden. »Remember, remember the 5th of November«, das hatte er immer wieder gesagt, zum Guy-Fawkes-Day. Im Jahre 1605 wollte dieser englische Katholik mit 36 Fass Schießpulver das House of Lords in die Luft sprengen. Der Plan flog auf, und Guy Fawkes sowie sieben weitere Verschwörer wurden hingerichtet.

So weit wollte die Staatsmacht im Fall Rudolf Augstein denn doch nicht gehen. Aber immerhin 103 Tage Gefängnis hatte im Oktober 1962 die vorübergehend kurzgeschlossene zweite und dritte Gewalt des Adenauer-Staates zu bieten. Genau 40 Jahre ist das her – und die SPIEGEL-Affäre ging ein in die Geschichte der Bundesrepublik.

Rudolf Augstein wurde zum Symbol für journalistischen Widerstand gegen die aus dem demokratischen Ruder laufende Staatsmacht. Er wurde ein Held wider Willen. Als er mit der Carl-von-Ossietzky-Medaille geehrt werden sollte, lehnte er das ab: »Mir schien ein Missverständnis vorzuliegen. Nur weil auch ich, wie Ossietzky, wegen unterstellten Landesverrats im Gefängnis gesessen hatte, durfte ich mich doch nicht diesem von den Nazis im KZ auf den Tod misshandelten Friedensnobelpreisträger des Jahres 1935 an die Seite stellen.«

Die Presse als vierte Gewalt? Gern erzählte Augstein die Geschichte vom ungarischen Schuster, der einst in einem kleinen Dorf sein Einmonatsblättchen redigierte und glücklich vor sich hin murmelte: »Was wird der Zar sich am Montag ärgern!«

Und doch freute er sich jeden Samstag nach Druck des SPIEGEL darauf, »wo der Torpedo am Montag einschlagen würde«.

Rudolf Augstein wollte Öffentlichkeit herstellen, nicht mehr, aber auch nicht weniger: »Ich gebe mich der Hoffnung hin, wir hätten dazu mehr beigetragen als viele andere.« »Sturmgeschütz der Demokratie« hatte er in jungen Jahren den SPIEGEL genannt. Das Zitat aber, das seither dem Nachrichten-Magazin als Etikett anhängt, war durchaus ironisch gemeint und lautet in der Fassung von 1963: »In der Ära Adenauer waren wir das Sturmgeschütz der Demokratie, mit verengten Sehschlitzen. Im ärgsten Kampfgetümmel, wo man uns manche Hafthohlladung appliziert hatte, erreichten wir nicht entfernt die Wirkung wie in dem Moment, da man uns wie mit einem Netz auf den Trockenboden schleppte und die Armierung zu demontieren gedachte.«

Und später, als 70-Jähriger, fügte er hinzu: »Sturmgeschütze sind nur in Zeiten angebracht, wo es etwas zu stürmen gibt.« Auf das erstaunte »Wie bitte?« junger SPIEGEL-Redakteure antwortete er: »Das Land ist im Kern gesund«, um gleich danach die Position zu wechseln: »Wenn ich sage, Deutschland ist ein kerngesundes Land, dürfen Sie die Ironie, die mitschwingt, da das Zitat schließlich von Heine stammt, nicht außer Acht lassen.«

Das war seine Dialektik. Er ließ sich nie auf etwas festnageln, was man in den neunziger Jahren als Political Correctness zu bezeichnen begann: »Wenn ich meiner Sache sicher bin, ist mir egal, was andere Leute dazu sagen und schreiben.«

Er war unabhängig und kritisch, vor allem gegen die Regierenden aller Couleur, zuweilen auch unberechenbar, aber nie zu instrumentalisieren. Den Journalismus vor den geschäftlichen Erfolg zu setzen - der kommt dann schon von selbst - ist ihm stets wichtig gewesen. Und er wusste, dass der SPIEGEL sich verändern musste. Als 1955 ein farbiger Titel erschien, schrieb der Herausgeber einen fiktiven Leserbrief an sich selbst: »Muss jetzt auch der SPIEGEL dem illustrierten Zeitgeist Tribut zollen? Sind Sie unter die Schönfärber gegangen? Wie konnten Sie das zulassen? Sind Sie, Herr Augstein, überhaupt noch da?«

Er war da und blieb - bis zum letzten Tag. Er blieb die Seele des »Unternehmens Aufklärung«, das der SPIEGEL war und ist, und er war keiner, der das Magazin als politisches Kampfinstrument begriff. »Der Journalist«, schrieb er, »hat nicht das Mandat, Wahlen zu gewinnen und Parteien zu promovieren. Er gerät auf die Verliererstraße, wenn er versucht, Kanzler und Minister zu machen, Große oder Kleine Koalitionen zu begünstigen, kurz, wenn er der Versuchung erliegt, Politik treiben zu wollen. Unternimmt er es dagegen, Erkenntnissen zum Durchbruch zu verhelfen und zu sagen, was ist, dann ist er mächtig.« Das war keine falsche Bescheidenheit, sondern Einsicht in die wirkliche Wirksamkeit der Presse: »Richtig informieren heißt auch schon verändern.« Und: »Wenn Einfluss auf die Geister Macht ist, dann hat der Journalist auch Macht.« Die aber hielt er für »ziemlich begrenzt«.

Er selbst fühlte sich als Gefangener seines Systems, »das mich zwingt, das Handwerk über die Politik und über die Meinung zu stellen«. Wobei er schon 1953, als er vor Sensationsjournalismus und einer Auflage um jeden Preis warnte, die Gefahr sah, dass der SPIEGEL »das Wichtige zu Gunsten des Interessanten vernachlässigt. Dass er nicht die Wirklichkeiten, sondern die Raritäten der Wirklichkeit spiegelt«.

Natürlich sollte das Heft - wie es Rudolf Augstein 1993 noch einmal ausdrücklich festhielt – auch ein bisschen L'art pour l'art vermitteln und den Käufern Spaß machen: »Wir müssen den Lesern gute Geschichten liefern. Lesbar und informativ müssen sie sein, und vergnüglich dürfen sie auch sein.«

Als eine der vornehmsten Aufgaben empfand er, den tierischen Ernst und die politische Wichtigtuerei bloßzulegen. »Dass die Journalisten dabei ihr Tun nicht überschätzen und ein brauchbares Maß an Selbstironie nicht unterschätzen sollten, versteht sich von selbst.«

Aber er hatte auch durchaus Spaß daran, andere zu ärgern. Wenn es Tatsachen und Text erlaubten, kannte er keine Kameraden, keine alten und keine neuen. Dann hatte er zum Beispiel diebische Freude am Komplettverriss des großen G. G. durch den nicht minder großen M. R.-R. Auf dem weiten Feld seiner Jagdleidenschaft lagen viele Opfer – Feinde und Freunde. »In der Politik«, erkannte er, »sind es oft die schlimmsten Feinde, die sich duzen. Ich habe mich mit vielen Politikern geduzt, doch als Journalist habe ich wenig Rücksicht darauf genommen. Ein Journalist kann keine permanenten Freundschaften haben.«

Am Ende sind sie doch alle wiedergekommen. Franz Josef Strauß, der Augstein ins Gefängnis brachte, darüber als Minister stürzte und dennoch zurück an die Macht gelangte. Seine Memoiren musste posthum natürlich der SPIEGEL drucken. Da war Augstein Profi - und immerhin hatte er ja ein gut Teil der politischen und wirtschaftlichen Karriere des Blattes dem durchgeknallten Verfolgungseifer seines Lieblingsfeindes zu verdanken. Und mit Konrad Adenauer, der ihn in den frühen Jahren der Bonner Republik mehrmals als Unglück für Volk und Vaterland gegeißelt hatte, rauchte er noch kurz vor dessen Tod 1967 während eines langen Dialogs »die Friedenspfeife«.

Leistungen erkannte er an - wie im Falle Helmut Kohls, der ihm ansonsten eher Fremdgefühle einflößte. Obschon der SPIEGEL den jahrelang und vergeblich aus dem Amt zu schreiben versucht hatte, belobigte ihn Augstein zur gelungenen Wiedervereinigung - und nicht nur zur Freude seiner damaligen Redaktion - mit einem herzhaften »Glückwunsch, Kanzler!« Um ihn gleich darauf wieder heftig zu kritisieren. Je nach Lage eben.

Von ihm hart attackierte Politiker bekamen immer wieder eine Chance zur Besserung - bis er sie erneut scharf ins Visier nahm. Er war ein unabhängiger Geist, der nie erwartete, dass der SPIEGEL ihm immer folgte, dass das Blatt immer auf seiner Linie lag: »Rein rechtlich bestimmt der Herausgeber die geistige Richtung des Blattes. Dies war natürlich immer Makulatur. Ich bin doch keine Verhinderungsmaschine. Aber der Herausgeber muss sich nicht allem anpassen, was in dem Blatt, das er herausgibt, gedruckt wird. Ich schreibe, was ich denke, weil das die einzige Richtlinienkompetenz ist, die mir verblieben ist. Und nach der muss sich niemand richten.«

Ob dies tatsächlich seine ganze Macht sei, erkundigten sich irritiert einige seiner Jungredakteure, und Augstein bekräftigte: »Alle diese Hebel, die man theoretisch hat, nutzen sich so schnell ab. Wenn ich meine Befugnisse ausschöpfen würde, das wäre verheerend.«

Rudolf Augstein hat von seiner Richtlinienkompetenz sparsam Gebrauch gemacht, zumindest in den letzten Jahren. Er hat sein publizistisches Kind laufen lassen, es wohlwollend und kritisch begleitet. Er wollte, hat er gesagt, kein Denkmal sein, aber wohl gewusst, dass er das sowieso ist.

Die Frage, ob er sich für unentbehrlich halte, beschied er auf die für ihn typische Weise: »Unentbehrlich ist niemand. Aber es ist ein Unterschied, ob ich tot bin oder als Lebender nichts für den Laden tue.«

Er hat durchgehalten, bis zum letzten Atemzug. Einer, dessen Lebensaufgabe identisch war mit seiner Person. Rudolf Augstein war der SPIEGEL, der SPIEGEL war Rudolf Augstein – und so bleibt es.

»Wird es nach Ihnen noch einen Herausgeber geben?«, fragten ihn Mitarbeiter, als er 70 wurde, und er antwortete: »Das ist nicht zwingend für die Zukunft.«

Nein, es ist nicht zwingend. Denn Rudolf Augstein wird bleiben, solange es den SPIEGEL gibt.

Nach ihm kann und wird es keinen Herausgeber geben, der diesen Titel verdient. Die Schuhe sind zu groß. Sie sich anzuziehen wäre eine Anmaßung. So wird der Gründer und Herausgeber des SPIEGEL, Rudolf Augstein, auch weiterhin die Richtlinien vorgeben. Tot und doch lebendig. STEFAN AUST