Von Liebe keine Spur (original) (raw)
HÄFTLINGE Von Liebe keine Spur
Heirat im Gefängnis wirkt sich nach landläufiger Meinung für Häftlinge vorteilhaft aus. Eine Wissenschaftler-Studie erlaubt nun andere Schlüsse: Solche Ehen stiften neues Unheil.
15.06.1975, 13.00 Uhr •ausDER SPIEGEL 25/1975
Er sei »stolz darauf«, so rühmte sich vor den Mitgliedern der Strafvollzugskommission der Bundesregierung Oberfürsorger Heinz Kraschutzki, daß »in meinem Dienstzimmer einmal ein junger Lebenslänglicher die Ringe mit einem jungen Mädchen gewechselt hat, bei dem ich für ihn geworben hatte«.
Doch was der ehemalige Berliner Justizbeamte bei einem Hearing als Wundermittel moderner Resozialisierung empfahl ("Der Einfluß der Ehe auf den Gefangenen ist fast immer ein guter"), wird nun von einem Sachkundigen als kaltes Kalkül entlarvt. »Falsch«, sagt Jochen Bengsohn, Rechtswissenschaftler an der Marburger Philipps-Universität, »ist die These von der allheilenden Kraft der Ehe.«
Drei Jahre lang erforschte Bengsohn mit Unterstützung des hessischen Justizministeriums die Schicksale von 67 hessischen Häftlingen, die zwischen 1968 und 1973 in ihren Zellen zu Ehemännern geworden waren. Was er von Trickbetrügern, Triebtätern, Dieben und Doppelmördern erfuhr und auf 174 Seiten niederschrieb, kann weder Sträflinge noch Strafvollzieher freudig stimmen: Die heute praktizierte Eheschließung hinter Gittern, so Bengsohns Resümee, »widerspricht dem modernen Strafvollzug«.
Auf Standesämtern und Sozialstationen, in Haftanstalten und in der Unterwelt recherchierte der Jurist Heiratsmotive von Gefängnisinsassen und die Entwicklung ihrer Ehen. Sein Ergebnis: 90 Prozent der Häftlinge tauschten ausschließlich deshalb die Ringe, weil sie auf Straferlaß hoffen durften. »Von Liebe«, sagt der Universitätsassistent, »war da keine Spur.«
32 Verurteilte kannten ihre spätere Frau bei der Verhaftung noch gar nicht, am Hochzeitstag währte das Verhältnis im Schnitt erst zehn Wochen. Ihre Gattinnen hatten sie durch Kontaktanzeigen kennengelernt, die meist in »Heim und Welt« aufgegeben wurden. Trotz des Hinweises »Zur Zeit in Haft« lösten solche Inserate in der Damenwelt lebhafte Reaktionen aus. Es meldeten sich bis zu 70 Interessentinnen, deren Adressen, so Bengsohn, bald zu »nicht zu unterschätzenden Handelsobjekten in den Subkulturen der Strafanstalten« wurden.
Beim Ausbau der ersten Beziehungen per Brief und Telephon hielten sich die Junggesellen nur begrenzt an die Wahrheit. Ein Sicherungsverwahrter teilte mit, er befinde sich »in Schutzhaft«, ein notorischer Landstreicher empfahl sich als »häuslicher Typ«. Die Damen allerdings nahmen es mit der Ehrlichkeit auch nicht so genau. Die Inhaberin eines Bratwurststandes lockte mit einer »Kette von Imbißhallen"' Prostituierte dichteten sich solide Berufe an, Vorstrafen wurden verschwiegen.
Ein Häftling, dessen Reststrafe nach der Eheschließung erlassen wurde, erlebte am ersten Tag seiner Freiheit Überraschendes: Als er im neuen Heim eintraf, holten Uniformierte gerade die wegen Betruges verurteilte Angetraute zum Haftantritt ab.
Vier unterschiedlich motivierte Gruppen hat Forscher Bengsohn unter den Häftlings-Ehefrauen ausgemacht:
* »overprotective mothers«, alte Damen, die mit den oft zwanzig Jahre jüngeren Partnern ihren Muttertrieb ausleben wollen,
* Prostituierte, die mit zehn Prozent den höchsten Anteil der Gefängnis-Gattinnen stellen und die hoffen, mit der Heirat ihr Image in der Unterwelt aufzubessern,
* »Hypersexuelle«, die sich schon im ersten Briefverkehr nach der Triebstärke ihres meist kräftig gebauten Auserwählten erkundigen, > die »Arroganten«, die glauben, ihnen werde »gelingen, woran Gesellschaft und Anstalt gescheitert sind« -- den Strafentlassenen wiedereinzugliedern.
Bei den meist wenig ansehnlichen und psychisch belasteten Damen (Bengsohn: »Das waren Brechmittel mit Knacks") entdeckte der Marburger Kriminologie-Professor Erich Hupe »einen fatalen Zug zum sozial defizitären Häftling«. Kränkliche Frauen etwa drängte es zu Muskelprotzen, intelligente zu Insassen, deren geistige Verfassung mitunter eben noch über der Grenze zur Debilität lag.
Die Ehen solch ungleicher Partner verhalfen zwar 36 Häftlingen und Sicherungsverwahrten zu vorzeitiger Entlassung, den Ehefrauen freilich nur in Ausnahmefällen zum Glück. Zwei Freigelassene drängte es, kaum aus der Zelle, sogleich in die Arme der Freundin, und bei Abschluß der Untersuchung war bereits jede dritte Gefängnis-Ehe gescheitert.
Und auch die Gesellschaft, in die Straftäter mittels Ehe wiedereingegliedert werden sollten, profitierte nicht. Die Rückfallquote (knapp 50 Prozent) lag um zehn Prozent höher als die einer Vergleichsgruppe, die den Vermählten in bezug auf Straftat und Strafmaß entsprach.
Die Ursache für diese -- gemessen am kurzen Beobachtungszeitraum -- hohe Anzahl von Rückfallen ermittelte Bengsohn ebenfalls. Schuld seien vor allem die »außergewöhnlich kriminogenen« Ehefrauen: Sie stachelten ihre neuen Männer zu neuen Straftaten an -»zur Befriedigung ihrer materiellen Wünsche«.