Ein nützlicher Mörder (original) (raw)
Die Frau, die einen Mörder geheiratet hat, kniet vor ihrem Wohnzimmerschrank und sucht nach einem Foto. Seit dem Prozess gegen Frank Gust vor dem Duisburger Landgericht gibt es in ihrem Leben viele Fragen. Das Foto, hofft sie, wird einige davon beantworten.
Gust, ein gelernter Dachdecker, hat vier Frauen getötet, er hat sich an den Leichen vergangen, sie ausgeweidet und zerstückelt. Sie lebte über vier Jahre lang an seiner Seite. Ob ihr nichts aufgefallen sei, wollen seither alle wissen.
Sie bittet darum, ihren Namen nicht zu nennen. Sie ist eine selbstbewusste Frau, dunkle Augen, offener Blick, sie kämpft um ihre Zukunft, da kann sie die Vergangenheit nicht brauchen. Als Mädchen hatte sie eine verblüffende Ähnlichkeit mit Gabriela Sabatini, der argentinischen Tennisspielerin. Wieso hat sie sich ausgerechnet Frank Gust ausgesucht?
Das Hochzeitsbild, das sie schließlich hervorkramt, zeigt die Braut, in Weiß, mit einem Strauß aus Sonnenblumen, Wicken und Levkojen. Der schmächtige Bräutigam trägt ein altrosafarbenes Jackett, es ist eine Nummer zu groß. Sie haben sich bei den Händen gefasst, aber es sieht aus, als ob sich Frank Gust an seiner Braut festhielte.
»Er hatte eine schöne Figur, schöne Beine, gute Oberarme, wie ein Balletttänzer«, sagt sie. »Außerdem hatte er Arbeit, baute mir ein Nest.« Er schien sie zu brauchen, das gefiel ihr. »Ich dachte: Mit dem Mann will ich alt werden.«
Ein Jahr vor der Hochzeit hatte Gust zum ersten Mal einen Menschen getötet, überdies unzählige Kaninchen, Schafe, Ponys und Pferde. Er habe die Hoffnung gehabt, in der Ehe »diesen ganzen perversen Müll, der in mir war, nicht nur verdrängen, sondern dauerhaft ausschalten zu können«, sagt Gust heute. Seine Frau plante die Zukunft, er wollte seiner Vergangenheit entkommen. Sie liebte ihn. Er hoffte auf Rettung.
Psychiater und Ermittler beobachten seit Jahren, dass auffällig viele Mörder, Vergewaltiger und Totschläger in ihrer Jugend Tiere gequält haben. Amerikanische Forscher ermittelten bei Sexualstraftätern einen Anteil von fast 70 Prozent Tierquälern; umgekehrt haben Tierquäler ein fünfmal höheres Risiko, irgendwann ein Gewaltdelikt zu begehen. Offenbar ist Tierquälerei ein Warnzeichen. Doch es gibt zu wenig Fälle, um die Erkenntnis der Forscher verallgemeinern zu können.
So gesehen ist Gust für die Wissenschaft ein Glücksfall. Er beantwortet bereitwillig Fragen, in Dutzenden Briefen an seine Frau
gibt er Einblick in das, was ihn getrieben hat. Seine Entwicklung lässt sich beinahe lückenlos rekonstruieren.
»Lange bevor wir uns kennen lernten, gab es in mir schon etwas, das ich nur unzureichend als ,dunkle Seite' bezeichnen kann«, schrieb er ihr. »Beispiel: Du und ich laufen durch ein Geschäft, und eine hübsche Frau kommt in mein Blickfeld. Ich sehe sie, denke: ,hübsch', und das war's. Nun dieselbe Situation ohne deine Gegenwart. Ich sehe die Frau, und sobald ich sie nicht als hässlich einstufe, flammt sofort die Bezeichnung ,Schlachtvieh' durch meinen Kopf. Alles um mich herum wird in Sekundenbruchteilen unwichtig, und es baut sich ebenso schnell eine genaue Vorstellung darüber auf, wie ich sie quäle und töte.«
Der Regensburger Psychiatrieprofessor Michael Osterheider traf Gust zum ersten Mal, als er vor ein paar Jahren Gefangene suchte, die bereit waren, sich befragen zu lassen. Osterheider war damals ärztlicher Direktor des Forensikzentrums in Lippstadt-Eickelborn, der größten Klinik dieser Art in Deutschland, er gilt als einer der führenden deutschen Psychopathie-Exper-
ten. Möglich, dass Gust sich von seinem Interesse geschmeichelt fühlte.
Osterheider lernte einen Menschen kennen, der alles kontrollieren will: das Gespräch, die Fragen, das Bild, das andere sich von ihm machen. Der erwartet, dass man den Kontakt zu ihm pflegt, ihn besucht, an seinen Geburtstag denkt; für den Kontrolle Macht bedeutet.
Die beiden trafen sich insgesamt rund 30-mal. »Gust sitzt ratlos davor, wer er ist und wie er so geworden ist«, sagt Osterheider. Vor zwei Jahren stimmte Gust sogar zu, ein mehrstündiges Interview von einer Kamera aufzeichnen zu lassen. Gust scheint es zu genießen, sich und der Welt ein Rätsel zu sein. An ihm können die Wissenschaftler erforschen, wie das Böse in die Welt kommt; er kann der Polizei helfen, sich ein Bild zu machen von Serientätern, von Frauenmördern, von Pferderippern, auch von jenem Unbekannten, der in Norddeutschland seit 1993 über hundert Pferde getötet hat.
Die Motive dieser Verbrecher sind der Polizei bis heute rätselhaft. Dem Psychiater Osterheider offenbarte Gust immerhin, dass es eine Art Schlüsselerlebnis für ihn gab: Er war neun, als er einem Mitschüler ein Meerschweinchen abkaufte. Gust war viel allein, ein schmächtiger Junge, der gern mit Puppen spielte und wieder ins Bett nässte, seit seine Mutter zum zweiten Mal geheiratet hatte. Er sehnte sich nach einem Haustier.
Weil er wusste, dass sein Stiefvater gegen Tierhaare allergisch war, trug Gust das Meerschweinchen zur Oma. Er dürfe das Tier nicht behalten, sagte sie. Zurückgeben könne er es nicht, antwortete Gust. »Dann musst du's halt totmachen«, sagte die Großmutter.
Also rammte Gust Stöcke in den Boden und fesselte das Tier mit Bast. Er wollte den Kopf mit einer Betonplatte zer- schmettern, damit es nicht leidet, aber er traf nicht richtig, der Bauch platzte auf, Eingeweide quollen heraus.
Der Junge betastete die Eingeweide, neugierig, fasziniert, spürte die wohlige Wärme des Blutes. Er hatte sich eine Höhle geschaffen. Das Gefühl, »mit den Händen da reinzugehen«, empfand Gust als »ganz eigentümlich und unheimlich intensiv«.
»Warum hat er das Meerschweinchen nicht einfach verschenkt?«, fragt Osterheider. Es gibt Forscher, die davon überzeugt sind, dass es eine genetische Veranlagung zu Gewaltbereitschaft gibt - Psychopathie beginnt demnach mit der Zeugung.
Gust bedauerte das Meerschweinchen, aber stärker als das Mitleid war die Erinnerung an das Gefühl, in die warme Bauchhöhle zu greifen. Es wäre schön, diese Wärme erneut zu fühlen. Es wäre schön, wenn die Höhle größer wäre. Das, erzählte er Osterheider, seien damals seine Gedanken gewesen.
Also schlich er sich nachts aus dem Haus und stahl in der Nachbarschaft Kaninchen. Anfangs tötete er sie, bevor er sie aufschnitt, bald war es ihm gleichgültig, ob sie sich quälten. Während er in den Eingeweiden »herumfingerte«, stellte er sich vor, er habe ein Tier vor sich, das größer ist als ein Kaninchen. Einmal warf er mehrere Kaninchen in eine Wanne und legte sich hinein. Er war jetzt zwölf Jahre alt, das Schneiden an den Kaninchen erregte ihn, er masturbierte: Die erwachende Sexualität verknüpfte sich mit der Gewalt. Der »perverse Müll«, der in ihm war, fand jetzt einen mächtigen Antrieb und eine Richtung.
Vor Gericht wird der Gutachter später von einer »schweren seelischen Abartigkeit im Sinne einer progredienten sadistischen Perversion vor dem Hintergrund einer Borderlinestörung« sprechen. Gust ist krank, heißt das. Aber er weiß, was er tut.
»Während ich mir die Kaninchen vorgenommen habe,« sagt Gust, »hatte ich in der Phantasie schon zig Pferde abgeschlachtet.«
Die Psychiatrie bezeichnet Menschen wie Gust als Psychopathen. Psychopathen sind egozentrisch, aggressiv, arrogant, kalt. Sie verstehen, was jemand denkt, aber es bleibt abstrakt: Sie haben keine Vorstellung davon, was der andere fühlt. Deshalb können sie mit Begriffen wie Scham, Schuld oder Reue nichts anfangen. »Psychopathen sind so etwas wie emotionale Analphabeten«, sagt Osterheider.
Gusts ehemalige Frau beschreibt, wie er den Fotoladen betrat, in dem sie damals arbeitete, mit sonnengebleichten Haaren und einem schüchternen Lächeln, und zu ihr
sagte: »Ich will dich kennen lernen.« Dann drückte er ihr ein Pfund Hackfleisch in die Hand, für die Katzen.
Bald nach der Hochzeit brachte sie eine Tochter zur Welt, sie waren jetzt eine Familie. Gust war glücklich, er trug das Baby herum, wechselte dessen Windeln. Wenn ihn das Verlangen packte, die wohlige Wärme von Eingeweiden zu spüren, zog er sich in den Keller zurück. Nachts habe er da unten »rumgedoktert«, sagt sie, »Sachen auseinander genommen«.
Was er da unten auseinander nahm, erfuhr sie nicht. Niemand durfte den Keller betreten. »Gust ging seiner Perversion nach wie einem Hobby«, sagt Osterheider.
»Er hat mich oft mit seinen anatomischen Kenntnissen verblüfft«, sagt sie. »Das Herz ist so groß wie eine Faust«, erklärte er ihr. »Eine Gebärmutter ist so groß wie eine Birne.« Oder: »Wusstest du, dass das Gehirn grau ist, wenn man es bei Tageslicht betrachtet?«
Im Wohnzimmerschrank steht eine Schneekugel, Gust hat sie mitgebracht: eine Bauchtänzerin, die Arme ausgebreitet. Seine ehemalige Frau ist eine begeisterte Bauchtänzerin, früher ist sie regelmäßig aufgetreten. Die Tänzerin hat den Mund geöffnet, es sieht aus, als würde sie schreien.
Gust träumte davon, Pferdeleiber zu öffnen, sagt er Osterheider in dem Interview, aber er fürchtete sich vor ihren Hufen. Er erschoss die Pferde aus der Distanz, ein Laserpointer half beim Zielen. Sobald das Tier zusammengebrochen war, öffnete er mit einem Messer die Bauchhöhle. Sein Risiko, entdeckt zu werden, war gering.
Gust entwickelte früh eine Art Maximalphantasie: Er will einem »möglichst noch warmen Tier, entweder frisch getötet oder besser noch lebend und irgendwie fixiert, die Bauchhöhle eröffnen«, sagt er Osterheider, »und dann mit ganzem Körper nackt eintauchen und möglichst lange drinbleiben«.
Wie weit er eingetaucht sei, will Osterheider wissen.
»Bis hier«, sagt Gust und zeigt auf seine Ellenbogen. Er sieht dabei aus, als würde er nicht die Wahrheit sagen; fast scheint er sich zu genieren.
Immer drängender stellte er sich die Frage: Wie wäre es, wenn du das an einem Menschen machst?
In seiner Jugend war Gust wiederholt in Leichenhallen eingebrochen. In einem Krankenhaus hatte er die erste Tote seines Lebens gesehen, eine alte Frau, aufgebahrt auf einem Rolltisch. Gust zog ihr das Tuch vom Gesicht und berührte sie vorsichtig.
In den Leichenhallen begann er, die Toten aufzuschneiden. Aber die Leichen waren kalt. Für kurze Zeit überlegte er, sie aus der Halle herauszuholen, um sie aufzuwärmen. Er verwarf die Idee und beschloss stattdessen zu warten.
Die Chance, auf die er hoffte, ergab sich am 8. September 1994. Gust fuhr ziellos im Auto umher, es regnete, er war »gefrustet«. Seit seiner Jugend liebte Gust Waffen; seit er den Jagdschein besaß, lag fast immer eine Pistole im Auto. Eigentlich wollte er Kaninchen schießen, um sich abzureagieren.
Er hielt an, um einen Tramper mitzunehmen. Als der Anhalter näher kam, erkannte Gust, dass es eine Frau war. Niemand hatte gesehen, wie sie in sein Auto stieg; zum ersten Mal bot sich »die Gelegenheit, an einen noch warmen Menschen zu kommen«.
Angeregt unterhielt er sich mit der Frau, genoss das Gespräch, gleichzeitig überlegte er fieberhaft: Was hast du an Werkzeug im Wagen? Hast du alles, um die Spuren zu beseitigen? Was ist möglich?
Auf einem Parkplatz gab er vor, den Wagenschlüssel verloren zu haben, die Frau half ihm suchen. Gust erschoss sie von hinten. Er riss der Toten die Kleider vom Körper und verging sich mehrfach an der Leiche. Zum Schluss trennte er Kopf und Hände ab, um eine Identifizierung zu erschweren. Aber er war enttäuscht. Das, was er getan hatte, blieb weit hinter dem zurück, was er sich wünschte.
Der Mord an der jungen Anhalterin Katherine Thomson war für Gust wie ein Pornofilm. Wenn er beim Sex mit seiner Frau Schwierigkeiten hatte, eine Erektion zu bekommen, rief er sich die Details jener Nacht in Erinnerung.
Gust tötete ohne Mitgefühl. Hirnforscher nehmen an, dass Mörder wie Gust zu Mitleid gar nicht in der Lage sind.
Jürgen Müller, Neurologe und Psychiater, der an der Universität Regensburg eng mit Michael Osterheider zusammenarbeitet, erforscht Hirnfunktion und Hirnstruktur von Psychopathen. Er zeigt ihnen schöne und grausame Bilder und lässt sie dabei Aufgaben lösen; die Durchblutungsveränderungen im Gehirn zeichnet er auf. Wie verarbeiten Psychopathen Emotionen? Was passiert in ihrem Gehirn?
Müller hat entdeckt, dass es bei Psychopathen eine Minderaktivierung im Bereich des Schläfenlappens gibt: Sie reagieren nicht auf grausame Bilder, sie erkennen etwas, aber es löst bei ihnen nichts aus. Ihr Gehirn arbeitet wie eine Fabrik, bei der Vorstand und Marketingabteilung nicht miteinander reden.
Gusts ehemalige Frau sitzt in ihrem Wohnzimmer am Fenster und wickelt sich eine Wolldecke um die Beine. »Frank fehlt das Gefühl für den eigenen Körper«, sagt sie. »Er spürt sich nicht, er sieht sich nicht.« Seit Jahren ist sie in therapeutischer Behandlung. Draußen liegt der Sommer wie ein Heizkissen auf der Stadt, aber sie zieht die Wolldecke noch ein bisschen fester.
Je länger die Ehe dauerte, desto häufiger war Gust unterwegs. Er litt an Migräneanfällen, die so schmerzhaft waren, dass er zu schielen begann. »Wenn er anfing zu schielen«, sagt sie, »schnappte er sich die Autoschlüssel und fuhr los.«
Ein Jahr nach der Hochzeit lernte Gust auf dem Essener Straßenstrich Svenja Dittmer kennen. Kurz vorher hatte er sich mit seiner Frau gestritten, es ging um Kleinigkeiten. Während er mit der Prostituierten schlief, schoss er ihr von hinten in den Kopf.
Sein Verlangen, ihr Innerstes zu fühlen, war so groß, dass er sie fast vollständig ausweidete. Die Erregung, die er dabei spürte, war »beinahe maximal«, sagt er Osterheider, »wirklich verdammt dicht dran an meiner ultimativen Wunschvorstellung«.
Seine ultimative Wunschvorstellung: beim Koitus einem sterbenden Opfer ans pochende Herz zu fassen.
Im April 1998 tötete Gust Gerlinde Neumann, die Tante seiner Frau. Er zerstückelte die Leiche und warf die Teile in den Wald. Er habe ihr beim Selbstmord geholfen, aus Mitleid, behauptet Gust. Das Gericht sieht es später als erwiesen an, dass er die 46-Jährige ermordet hat, um zu verhindern, dass sie ihn anzeigte.
Nach dem Tod der Tante verschob sich sein Interesse: Eingeweide fand er nur noch
»latent interessant«. Dafür erregte es ihn immer mehr, seine Opfer zu quälen.
Die Prostituierte Sandra aus der Wiesche, die er am 20. Juni 1998 tötete, fesselte er zunächst mit Spanngurten in seinem Auto. Er biss sie, verbrannte sie mit dem Feuerzeug, marterte sie, stundenlang. Schließlich schoss er ihr in den Hinterkopf.
Wenn Hirnforscher recht haben mit ihrer Vermutung, dass hirnorganische Störungen Ursache für solche Verbrechen sind, dann kann man davon ausgehen, dass die Täter sich auch durch hohe Strafen nicht abschrecken lassen. Ihr Verhalten scheint programmiert, das Böse eine Art Fehlfunktion zu sein.
Wenn das alles stimmt, wäre der freie Wille nicht mehr als eine Illusion.
Wenige Wochen nach dem Mord an Sandra kaufte Gust ein Schaf. Er versuchte sich vorzustellen, wie weit eine Frau »belastbar« sei. Das Urteil zitiert ihn mit dem Satz: »Es entstand der Gedanke, eine Frau, nachdem ich sie vergewaltigt habe, bei vollem Bewusstsein zu ,sprengen'.« Mit dem Schaf fuhr er zu einer einsamen Hütte im Wald; seiner Frau sagte er, er lasse sein Modellflugzeug fliegen. Er fesselte das Schaf und stellte sich vor, vor ihm läge eine wehrlose junge Frau. Er präparierte zwei Sprengladungen im Körper des Tieres. Dann erklärte er dem Schaf, dass er nun dessen ganzen Körper explodieren lasse. »In meiner Vorstellung sprach ich aber mit einer Frau, die ich auch tatsächlich vor mir sah.«
Gust verschwand hinter der Hütte. »Dort zündete ich mir noch eine Zigarette an, rauchte ganz ruhig und lauschte dem schwächer werdenden Blöken, welches ich als Schreien wahrnahm. Dann zündete ich. Es gab eine sehr laute Explosion, dann herrschte Stille.«
Was ist die Ursache für diese Seelenblindheit? Neurowissenschaftler nehmen an, dass traumatische Erlebnisse in der frühen Kindheit für hirnorganische Störungen verantwortlich sein können. Gust selbst nennt Michael Osterheider zwei Gründe: die emotionale Kälte seines Stiefvaters und den sexuellen Missbrauch durch einen Nachbarn, für den es allerdings bis heute keine Beweise gibt.
Im November 1999, über fünf Jahre nach dem Mord an der Anhalterin, wurde Gust festgenommen. Er hatte seiner Mutter gegenüber etwa ein Jahr nach der Tat Andeutungen gemacht, eine junge Frau erschlagen zu haben. Die Mutter hatte ihm nicht geglaubt, später aber die Tochter ihres Mannes eingeweiht. Als die Tante von Gusts Ehefrau spurlos verschwand, erinnerte sich die junge Frau an die Geschichte und benachrichtigte die Polizei.
Auf seinem Computer fand die Polizei nach Gusts Festnahme eine Datei mit dem Namen »Test X Speicherkapazitätstest«. Für sein nächstes Opfer hatte Gust eine Liste mit Zubehör zusammengestellt, sie enthält unter anderem:
»8 Stück Kabelbinder mind. 37,5 cm lang,
4 Stück Klebeband 10 cm breit 35 cm lang,
2 Paar Einmalhandschuhe Vinyl klein,
5 Stück Kondome,
10 Stück Müllsäcke dick,
Cutter und Klingen,
Kondom mit Schwarzpulver gefüllt und 3 Stück Zündsatz,
Schwefel oder Salzsäure möglichst hoch konzentriert,
Beil,
Explosivkapseln 3 Stück, Brandkapseln 3 Stück.«
Das Gericht verurteilte ihn wegen vierfachen Mordes zu lebenslanger Haft und verfügte seine Einweisung in ein psychiatrisches Krankenhaus. Die Tiertötungen und Leichenschändungen waren nicht Gegenstand der Anklage.
Kurz vor dem Prozess hatte sich seine Frau von ihm scheiden lassen.
Sie lebt heute in einer kleinen Stadt, trägt wieder ihren Mädchennamen. Er steht nicht auf dem Klingelschild, das Gartentor ist abschließbar, am Anfang gab es sogar eine Videokamera. Wenn jemand unangemeldet an der Tür klingelte, zitterte sie. Sie hat fast alles weggeworfen, was an ihr gemeinsames Leben erinnert, Gusts Bücher, sein Werkzeug, seine Geschenke. Sogar ihr Brautkleid. Das Hochzeitsfoto hat sie behalten.
In seinen Briefen an sie will Gust ihr die Vergangenheit erklären; sie will wissen, ob es eine Zukunft gibt. In den ersten Monaten schreiben sie sich beinahe täglich. Bald werden ihre Antworten knapper, der Ton zwischen ihnen verändert sich. Sie stellt keine Fragen, er hat keine Antworten. Sie bleiben in Kontakt, aber sie haben sich nichts mehr zu sagen.
In langen Interviews gibt Gust dafür Psychiatern, Kriminalpsychologen und Gutachtern Auskunft über sein Leben. Osterheider antwortet er auf die Frage, ob er sich für therapiefähig halte: »Absolut nicht.«
»Für therapiebedürftig?«
»Auch nicht.«
Gust antwortet ruhig, er ist freundlich, hilfsbereit. Er will verstehen, wer er ist, aber es ist nicht leicht, das herauszufinden.
Ob er Reue empfinde, will Osterheider wissen.
»Der feste Wille, das, was ich getan habe, nicht wieder zu tun, ist bei mir nicht vorhanden«, sagt Gust. »Meine perversen Phantasien sind nach wie vor da.«
Empfindet er Mitleid?
»Trauer. Ich glaube, das trifft es eher.«
Er sagt, dass es weitergegangen wäre - »und es wäre schlimmer geworden«. Wiederholt hat er darum gebeten, man möge ihn nie wieder freilassen.
Welche Perspektive er habe, fragt Osterheider. Allein wegen seiner Tochter bringe er sich nicht um, antwortet Gust. Wenn sie fragt, irgendwann, will er ihr antworten, so gut er kann.
Je älter die Tochter wird, desto mehr erkennt Gusts ehemalige Frau in ihr den Vater. Wie sie im Schneidersitz auf dem Boden hockt; wie sie sich im Schlaf bewegt. Auf ihrem Bett liegt ein Stoffhase. Die Mutter hat ihn gekauft, das Geld schickte Gust aus dem Gefängnis.
Sie hat ihrer Tochter gesagt, Papa sei im Krankenhaus. Er sei sehr krank, krank am Kopf, und wenn er rauskäme, würde er anderen sehr weh tun. Besuchen könnten sie ihn noch nicht, weil die Tochter danach traurig wäre, »und ich will nicht, dass du traurig bist«.
Noch gibt sich das Kind mit dieser Erklärung zufrieden.
Ende August wäre ihr zehnter Hochzeitstag gewesen. Frank Gust, hat man ihr berichtet, hat seinen Ehering bis heute nicht abgelegt.
* Katherine Thomson, Svenja Dittmer, Gerlinde Neumann, Sandra aus der Wiesche.