Wunsch nach Pflege (original) (raw)
STRAFVOLLZUG Wunsch nach Pflege
Ohne Aufsicht dürfen sich weibliche Gefangene in Frankfurt bei Privatfirmen beruflich bilden -- Teil eines für die Bundesrepublik einzigartigen Modellversuchs zur Resozialisierung.
20.10.1974, 13.00 Uhr •ausDER SPIEGEL 43/1974
Renate Berger, 37, wurde mit elf Jahren Waise, mit dreizehn Heimkind und mit neunzehn erstmals straffällig. »weil ich drei Goldringe gestohlen hatte«. Danach schlitterte sie hin und her zwischen Gefängnis-Mief und Ganoven-Milieu -- ob drinnen oder draußen, »stets war ich ohne Ziel und Halt«.
Jetzt soll der Strafgefangenen und mit ihr vorerst 23 anderen Gestrauchelten in der Frauenvollzugsanstalt Frankfurt-Preungesheim ein fester Platz in gesitteter Gesellschaft besorgt werden: durch ein aufwendiges Projekt, das sich als »Modellversuch zur Resozialisierung und Berufsausbildung von straffällig gewordenen Frauen auf * Name von der Redaktion geändert.
der Grundlage erprobter didaktisch. therapeutischer Erfahrungen« versteht.
Verständlicher: Aus den Häftlingen (Alter: 18 bis 51 Jahre) wollen Pädagogen und Psychologen, Handels- und Hochschullehrer gelernte Fachkräfte formen -- Köchinnen, Floristinnen, Tierpflegerinnen beispielsweise. Mit dem Ziel, daß sich die Gesellinnen »nach der Entlassung im Beruf auf Dauer zurechtfinden«.
Der Gedanke, mit dem Preungesheim-Projekt ein bislang beispielloses Modell für die Wiedereingliederung weiblicher Gefangener zu schaffen, hatte sich vor Jahresfrist bei der Leiterin des Frankfurter »Seminars für Politik«, Ulla Illing, verfestigt -- weil, wie sie sagt, »weibliche Gefangene die überhaupt denkbar sozialschwächste Gruppe darstellen«.
Und seitdem proben die SPD-Politikerin und ein Team ihres Seminars, das sonst Kurse für Erwachsenenbildung hält, mit dem schwachen Geschlecht Resozialisierung. Unterstützung gewährt das Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft als Auftrag- und Geldgeber, amtliche Genehmigung erteilte das hessische Innenministerium.
So dürfen jetzt sechs bildungswillige Gefangene zur praktischen Ausbildung als Tierpflegerinnen -- ohne Aufsicht -- jeden Morgen in das Versuchslabor eines Industrie-Unternehmens zum Studium von Meerschweinen und Mäusen ausrücken. Die Anstalt ist für die »Freigängerinnen« lediglich noch Schlafstelle -- ein Vorgriff auf entsprechende Vorschriften des noch immer nicht verabschiedeten Strafvollzugsgesetzes.
Als eigene Idee dagegen zogen die Preungesheimer Projektoren die »berufsvorbereitende Phase des Modellversuchs« durch. Allgemeinwissen jedoch konnten die Tutoren des Seminars nur schwer in gewohnter Manier vermitteln.
So erhielt Rechnen und Schreiben mehr Gewicht, »da wir es bei den weiblichen Gefangenen eigentlich nicht mit Resozialisierung zu tun haben«, wie der Gießener Pädagogik-Professor Alf Hemberger erforschte, »sondern eher mit Primärsozialisierung als Folge eines übermäßigen Sozialdefizits«. Als Ziele strebt die Projektgruppe denn auch »allenfalls Berufe des Mittelstandes« an, zumal die Kurs-Teilnehmerinnen überwiegend »den Wunsch nach einer pflegerischen Tätigkeit äußerten«, wie Leiterin Ulla Illing herausfand -- »womöglich Ausdruck des Bedürfnisses, etwas wiedergutzumachen«.
Durchweg mit »gutem Erfolg« schlossen die 24 angehenden Gesellinnen den Vorbereitungskurs ab, ein »recht erstaunliches Ergebnis« (Hemberger). Daß aber womöglich Privilegien wie etwa eine vorzeitige Entlassung eigentliches Motiv für den Bildungsehrgeiz sind, will auch Pädagoge Hemberger nicht ausschließen: »Doch vielleicht wird ein solcher Antrieb im Laufe der Ausbildung noch überdeckt.« Und ob das eigentliche Projektziel, die Gefangenen später in »den erlernten Beruf zu transferieren«, gewährleistet ist, bleibt trotz der Anfangserfolge laut Hemberger »ebenfalls ungewiß«.
In diesem Punkt türmen sich, wie es scheint, Hindernisse auch auf anderer Seite auf. Der Wunsch lernwilliger Gefangener, als Krankenpflegerin ausgebildet zu werden, scheiterte bislang am Widerstand der Krankenanstalten. Argument in einer Absage: »Die wollen doch nur Schwester werden, um besser an Drogen heranzukommen.«