Gewisse Schärfe (original) (raw)
Seit Jahresanfang saß der Handelsvertreter Wolfgang Clemens, 25, wegen Steuerhinterziehung in Untersuchungshaft. Am Montag letzter Woche erhängte er sich mit seinem Gürtel an einem Bilderhaken in der Zelle 118 der Köln-Ossendorfer Vollzugsanstalt, dem neuen »Klingelpütz«.
Der gelernte Drucker soll nach den Ermittlungen mit widerrechtlich besorgten Erlaubnisscheinen billiges Heizöl eingekauft und verdieselt haben -- ein »kleines Licht«, nur eine »Randfigur«. nach Meinung des Oberstaatsanwaltes Herbert Hill. Und Hans Seibert, stellvertretender Leiter im »Klingelpütz"« mag den Freitod des »stillen, unauffälligen« Häftlings nur mit »einem gewissen Imitationszwang« erklären.
Bliebe, was denn den Imitationszwang erklärt -- es war der vierte Selbstmord eines Häftlings im »Klingelpütz« innerhalb von sechs Wochen. Die anderen drei:
* Am 1. Februar erdrosselte sich die Jugoslawin Ljubica Skledar, 22, mit dem grünen Band ihrer Schürze am Handtuchhalter.
* Am 7. Februar starb der »Ausbrecherkönig« Walter Sterzenbach. 33, an einer Überdosis Gift.
* Am 9. März erhängte sich der Ungar Lajos Varadi, 43, am Zellengitter.
Diese Selbstmord-Serie läßt auf makabre Weise ermessen, wie weit die Bedingungen des Gewahrsams in der Bundesrepublik noch entfernt sind von den vielgepriesenen Leitzielen humaner U-Haft und resozialisierungsbestimmten Strafvollzugs. Zwei der Fälle machen darüber hinaus deutlich, daß es nur eines geringen Anstoßes und mitnichten krimineller Energien bedarf, in den suizidalen Gefährdungsbereich hinter Gittern verbracht zu werden.
Die nicht vorbestrafte Jugoslawin Ljubica Skledar hatte es versäumt, im September 1971 ihre Papiere Paß, Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis -- verlängern zu lassen. Eingereist war die Jugoslawin legal, am 25. November 1969, mit einer Legitimationskarte der Bundesanstalt für Arbeit.
Das Kölner Ausländeramt verfügte die Ausweisung »für dauernd«, ordnete »im öffentlichen Interesse« sofortige Vollziehung an und erwirkte beim Amtsgericht die Anordnung der Abschiebungshaft für acht Wochen. Ljubicas Angaben in einem Beschwerdebrief, ihr Großvater sei Deutscher gewesen. ihr Vater habe erst nach dem Krieg die jugoslawische Staatsangehörigkeit angenommen, bewirkten ebenso wenig wie ihre Bitte, Gnade vor Recht ergehen zu lassen und ihr eine »Chance für das Leben in demjenigen Land« zu geben, »welches mein wahres Vaterland ist«. Einen Tag vor dem festgesetzten Rückflug nach Jugoslawien nahm sie sich. das Leben.
Trotz des »bedauerlichen Unglücks« glaubt Kölns Rechtsdezernent Peter Schaefer sich und seine Behörde salviert. Die Entscheidung sei weder »falsch noch leichtfertig, sondern erforderlich« gewesen. Diese Beurteilung teilt auch Willi Weyers Innenministerium. Gegen Illegale sei eben »gewisse Schärfe am Platze«, meint Ausländerreferent Bernhard Kittel, und der Minister beschied den Landtag, »angesichts der zutreffenden Ermessens-Erwägungen~~ sei das Vorgehen der Kölner Behörde nicht zu beanstanden, vielmehr »schon unter dem Gesichtspunkt der Generalprävention ... zwingend geboten«.
Nach dieser Maxime verfuhren die Behörden auch mit Lajos Varadi, der nach dem Ungarn-Aufstand 1956 aus seiner Heimat geflohen war und in Frankreich Asyl gefunden hatte. Als Bittender kam Varadi Anfang Februar zur Kriminalwache in Köln. »Frankreich hat meine Papiere nicht verlängert, Belgien wollte mich nicht, jetzt möchte ich in Deutschland arbeiten.«
Da der Ungar ohne Ausweise eingereist war, kam er wegen Paßvergehens zunächst in Untersuchungshaft. Bei der Überprüfung seiner Personalien stießen die Beamten auf eine Verfügung der Stadt Bonn aus dem Jahre 1962. Damals war gegen ihn ein unbefristetes Aufenthaltsverbot für die Bundesrepublik verhängt worden. Auf Grund dieser Entscheidung, so eröffnete man ihm, müsse er wieder nach Frankreich zurück. In der darauffolgenden Nacht nahm er sich das Leben.
Zumindest eine Konsequenz will die nordrhein-westfälische Landesregierung aus dem Selbstmord der beiden Ausländer ziehen. Künftig sollen Abschiebehäftlinge, denen keine Verbrechen zur Last gelegt werden. nicht mehr in die ohnehin überfüllten Gefängnisse gesteckt. sondern in »besonderen Häusern« untergebracht werden.
»Klingelpütz«-Vize Seibert will Selbstmorden in Haftanstalten künftig mit »verstärkter Überwachung« und »Beruhigungszelle« vorbeugen. Dabei scheint die Kölner Suizid-Serie eher eine These zu bestätigen, die unlängst am Kieler Institut für gerichtliche Medizin erarbeitet wurde: Die meisten Freitode, fanden die Kieler heraus, seien absehbar, weil sich in Person und Lebenslauf fast aller Selbstmörder eine Anzahl typischer Risikofaktoren finden.
In der Tat war der Gewohnheitskriminelle Sterzenbach vorübergehend in psychiatrischer Untersuchung. Und der Handelsvertreter Clemens, der sich im Januar freiwillig der Polizei gestellt hatte, war früher nervenkrank und litt, so seine Eltern, wieder »unter Depressionen« » nachdem eine Haftbeschwerde abgelehnt worden war.
Doch an Gefängnis-Psychologen, die derlei Problemfälle erkennen könnten, mangelt es in Köln wie anderswo. Seibert muß denn auch mit weiteren Suiziden rechnen: »Ich würde mich nicht wundern, wenn schon bald der nächste fällig wird.«