Von Zelle zu Zelle (original) (raw)
Strafvollzug Von Zelle zu Zelle
Hamburgs Justizbehörde versetzte wegen ungeklärter Vorwürfe die einzige Ärztin für rund 500 Insassen der Strafanstalt Fuhlsbüttel.
04.02.1973, 13.00 Uhr •ausDER SPIEGEL 6/1973
Im Zellenbau der Hamburger Haftanstalt Fuhlsbüttel vernahm Anstaltsbeirat Karl-Heinz Harenberg »Gerüchte, die der Wahrheit nahekommen -- nämlich, daß die Ärztin der Gefangenen nicht sehr großzügig behandelt wurde«.
Das war großzügig formuliert. Denn die Ärztin, Dr. Lotte Hommelhoff, wurde vom Hamburger Vollzugsamt fristlos strafversetzt: wegen des bislang ungeklärten Vorwurfs, sie habe ihre Hilfspflicht verletzt.
Und ungeklärt auch ist seit dem Hommelhoff-Hinauswurf im November letzten Jahres, wer nun die rund 500 Gefangenen gesundheitlich versorgen soll. Die einzige Planstelle für Allgemein-Medizin steht noch immer leer.
So füllt sich das Bild verworrener Hamburger Justizpolitik -- mit Toten in der Zelle, Aufstand der Häftlinge, hektischem Revirement an der Behördenspitze. Der Versuch der Verwalter aber, mit einer Art ärztlichem Notdienst die selbstverschuldete Lücke zu schließen und die jüngste Affäre zu mildern, erscheint wiederum als Fehlleistung.
Denn die Mediziner des Hamburger Untersuchungsgefängnisses, die inzwischen viermal pro Woche umschichtig zur Fuhlsbüttel-Visite anrücken, können keineswegs bieten, was nicht nur die Gefangenen an Dr. Lotte Hommelhoff zu schätzen wußten: In der niederdrückenden Atmosphäre des altertümlichen Zuchtgemäuers auch die Gemüter der Insassen zu stabilisieren.
Sie verhalf Kranken zu Sonderrationen oder eiste sie, falls nötig, gar zur Haftunterbrechung frei. Sie pflegte den Dialog mit den Gefangenen und wurde von ihnen respektiert -- selbst dann noch, wenn Aufstand war.
Fuhlsbütteler Vollzugsveteranen aber kreideten der Ärztin an, daß sie »in ärztliche Anordnung kleidete, was in Wahrheit fürsorgliche Maßnahmen waren« (so ein Vollzugsbeamter). Und im kleinen Kreis hieß es, die Doktorin arbeite »gegen den Vollzug«.
Damit war es vorbei, als im November ein Häftling durch Selbstmorddrohung -- Benzinspritze an der Vene -- eine Unterredung mit dem damals noch amtierenden Justizsenator Heinsen ertrotzen wollte. Während Lotte Hommelhoff abwartend taktierte, um den Gefangenen durch Zeitablauf zum Aufgeben zu bringen, gelang es nach vier Stunden einem Beamten, die Spritze zu kassieren.
Ob die Ärztin durch ihre Zurückhaltung den Erfolg des Justizbeamten erst ermöglicht hat oder ob sie -- wie die Behörde es sieht -- dadurch das Leben des Gefangenen gefährdete, ist strittig geblieben. Gleichwohl wurde Lotte Hommelhoff tags darauf versetzt, »nachdem lange überlegt worden ist, ob wir sie nicht gar rausschmeißen sollten« (so Dr. Harald Pieper, Leiter des Strafvollzugsamts).
Solche Konsequenz aber ist neu im Hamburger Strafvollzug. Unversetzt und unbehelligt amtiert zum Beispiel noch immer der Psychiater des hansestädtischen Untersuchungsgefängnisses, obwohl sein Wirken sich mit einer ganzen Reihe von Justizaffären verbindet.
Er ist ein rastloser Mann, der -- wie letzten Oktober Senator Heinsen vor dem Rechtsausschuß des Parlaments sagte -- »von Zelle zu Zelle rennt«. So hat er denn auch »keine Zeit, etwas aufzuzeichnen«, verfügt jedoch über ein »gutes Gedächtnis«, in dem er die Krankenfälle der rund 1000 UG-Insassen speichert.
»Wir können uns nicht vermessen, hier von psychiatrischer Betreuung zu sprechen«, kritisiert immerhin Dr. Ewald Jessel. Er muß es wissen. Denn der Psychiater ist er selbst.
Aber so barsch, wie er mit sich ins Gericht geht, mögen nicht einmal die Vorgesetzten des gedächtnisstarken Mediziners urteilen. »Gegen ihn«, so weiß Pieper, »waren und sind keine Vorwürfe erhoben.« Für Piepers Behörde zählt nicht, daß Jessel bei seinen wuseligen Visiten bisweilen mutmaßlich kranke Häftlinge, die tobten, kurzerhand »verantwortlich« schrieb -- Voraussetzung für Einweisung in Hamburgs berüchtigte Beruhigungszelle, die »Glocke«.
Von Jessel für »verantwortlich« befunden, obwohl nervenkrank, kam 1964 der Deutschamerikaner Ernst Haase in die »Glocke«; er wurde dort totgeprügelt. 1965 schrieb Jessel den im Delirium tremens um sich schlagenden Paul Karczewski »Glocken«-tauglich; er starb. Und zuletzt schien dem flinken Diagnostiker das Randalieren des mit dem Vermerk »Freitodgefahr« eingelieferten ehemaligen Psychiatrie-Patienten Abd eI Kader als »täglich Brot« und unbeachtlich; auch dieser Häftling kam ums Leben.
Den zweifelsfreien Nachweis ärztlicher Pflichtverletzung freilich brachten auch etliche Erhebungen gegen Ewald Jessel nicht zutage. Und so amtiert der Seelendoktor noch ungebeugt, wenn auch ein bißchen verdrossen: »Immer wird dem Arzt die Verantwortung zugeschoben.«
Daß die Schubkraft, mit der solche Verantwortung Hamburger Gefängnisärzte trifft, unterschiedlich ausfallen kann, erfährt nun Lotte Hommelhoff. Sie büßt derzeit für Ungeklärtes fern von Fuhlsbüttel in einem »ganz kleinen Arbeitsbereich« (Pieper).
Der bis dato konzeptfrei arbeitende Psychiater Jessel dagegen bekam ordentlich Bescheid von der Behörde: Nun möge er aber wirklich Aufzeichnungen machen.