Rappel bekommen (original) (raw)
Justiz Rappel bekommen
Wer in Hamburg einsitzt, muß sich auf alles gefaßt machen. Wieder starb ein Häftling auf ungeklärte Weise -- jüngste Affäre in einer Reihe von seltsamen Todesfällen.
01.10.1972, 13.00 Uhr •ausDER SPIEGEL 41/1972
Der Gefangene führte einen amerikanischen Namen, besaß einen israelischen Paß und sprach nur französisch. Er litt, wie es amtlich hieß, an »hochgradiger offener Lungentuberkulose« -- aber niemand untersuchte und behandelte ihn.
Denn Louis Silversmith, wie er sich nannte, angeblich geboren am 5. Januar 1948 im US-Staat Georgia, widersetzte sich allen Bemühungen im Hamburger Zentralkrankenhaus für Strafgefangene, ihn medizinisch zu versorgen
so jedenfalls sagen Ärzte ("Er bestand ganz und gar aus Protest") und Aufseher übereinstimmend aus.
Am Abend des 22. September hatte Silversmith, der sich nur mit Hilfe eines Dolmetschers verständlich machen konnte, aufs neue protestiert, weil er. wie der Leitende Regierungsdirektor Dr. Günther Uetzmann vermutet, »wohl was von Abschiebung gehört und einen Rappel bekommen hat«. Der Häftling verrammelte seine Zellentür, dichtete den Abfluß des Waschbeckens ab und setzte den Raum unter Wasser.
Gegen halb elf stürmten Wärter die Tür und schleppten den durchnäßten, widerspenstigen Mann in die »Beruhigungszelle. Dort wurde der Kranke nackt auf einer Pritsche festgeschnallt.
Zwar hatten die Anstaltsärzte stets Bedenken gehabt, den hochgradig Tuberkulösen zwangsweise zu untersuchen und zu behandeln. Doch dieses Zwangsverfahren erklärte der Arzt vom Dienst für »medizinisch unbedenklich«.
Gut zwei Stunden später war der Unbekannte tot. Der Arzt -- herbeigeeilt, nachdem ein Aufseher »Schaum vor Mund und Nase des Gefangenen« gemeldet hatte -- konnte nichts mehr ausrichten.
in Hamburg hat diese Art von Ableben Tradition. 1964 war der Deutsch-Amerikaner Ernst Haase geprügelt, getreten und bei nahezu 50 Grad Hitze verdurstet in der Beruhigungszelle aufgefunden worden -- in dem gleichen (inzwischen umgebauten) Raum, der damals seiner Form wegen »Glocke« genannt wurde.
Der Tod in der »Glocke« beschäftigte Jahre später zwei parlamentarische Untersuchungsausschüsse. Diesmal jedoch sei, so ließ sich Hamburgs Justizsenator Ernst Heinsen vernehmen, »sicherlich kein »Fall Haase«, zu erwarten. Es reicht freilich, wenn es ein Fall Karczewski oder Beiße, ein Fall Schmidt oder ein Fall Curth ist:
* im Jahr nach Haases gewaltsamem Ende wurde der Häftling Paul Karczewski vom Anstaltspsychiater Dr. Ewald Jessel in die »Glocke« gesperrt, weil der Gewohnheitstrinker in seiner Zelle ständig nach Bierflaschen gesucht hatte. Zugleich hatte Jessel bei dem Patienten »Delirium tremens« -- Sterblichkeitsquote: rund 20 Prozent -- diagnostiziert. Fünf Tage nach der »Glocken«-Therapie war Karczewski tot.
* An einem Wintertag betrat der Aufseher Gustav Lorenz eine Zelle des Untersuchungsgefängnisses, um dem Häftling Wilhelm Beiße »die Meinung zu geigen«. Der Gefangene, halbseitig gelähmt und geistesgestört, hatte aus dem Zellenfenster gebrüllt. Lorenz schleuderte den Lahmen mit dem Kopf auf den Zementfußboden; Beiße starb an Schädelbruch.
* Eine Woche nachdem Anstaltsarzt Dr. Mendel Friedland die Darmbeschwerden des Untersuchungshäftlings Hans Schmidt mit einem Klistier behandelt hatte, starb der Patient. Schmidt -- wegen Blinddarmdurchbruchs ins Zentralkrankenhaus gebracht -- verschied dort nach zwei Operationen an »Herz- und Kreislaufversagen bei Darmlähmung und eitriger Bauchfellentzündung« (Obduktionsbefund).
* Im Dezember vorigen Jahres starb im Zentralkrankenhaus der Häftling Karl Curth, der zwei Tage zuvor eine sechswöchige Haftstrafe hatte antreten müssen, obwohl ihm vom Hausarzt Haftunfähigkeit attestiert worden war. Anstaltsarzt Dr. Hans-Werner Sauer bescheinigte damals dem schwer Herzkranken Vollzugstauglichkeit, und bevor Curth seine Zelle betrat, wurden ihm seine Medikamente abgenommen -- auf die er, so sein Hausarzt, »laufend angewiesen« war. In dieses vergitterte Totenhaus an Hamburgs Holstenglacis geriet der Ausländer, der Silversmith heißen wollte, nachdem er im März von Holland aus in die Bundesrepublik eingereist war, eine Taxenfahrt von Leer in Ostfriesland nach Hamburg mit einem gefälschten Scheck bezahlt und in der Hansestadt mehrere Betrügereien begangen hatte. Dann war er nach Dänemark entkommen und von dort wieder an die Elbe abgeschoben worden.
Assessor Heinrich Müller verurteilte den Delinquenten wegen· Betrugs zu fünf Monaten Gefängnis, obwohl er erhebliche Zweifel an dessen Identität hatte. Aber »der Angeklagte behauptete immer wieder, daß er Louis Silversmith sei« (Müller), und so wurde er bestraft, wennschon die Angaben in seinem Paß mit der Person offensichtlich nicht übereinstimmten -- »für die Öffentlichkeit sicher etwas Oberraschendes«, mutmaßt Jurist Uetzmann, aber: »Er hat seine Taten gestanden, da ist die Identifizierung zumindest strafprozessual nicht so wichtig.«
Am 12. August hatte Silversmith seine Strafe abgesessen. Seine Identität und sein Heimatland aber blieben weiterhin unbekannt, und so fand die beabsichtigte Abschiebung nicht statt denn »niemand wollte ihn haben« (Uetzmann).
Erst nach seinem Tod fand der Unbekannte allseitiges Interesse, zeigten Behörden und Staatsanwälte Geschäftigkeit. Doch noch am letzten Wochenende war alles unklar: Durch die Obduktion ("Verdacht eines durch akutes Herz- und Kreislaufversagen verursachten Erstickungstodes") konnte die Todesursache, wie die Justizbehörde erklärte, »noch nicht endgültig geklärt« werden; eine zum Wochenende angekündigte »umfassende Sachdarstellung« des Falles wurde nicht vorgelegt, weil Mittwoch dieser Woche erst einmal dem Rechtsausschuß des Landesparlaments Bericht erstattet werden soll.
Und überhaupt scheint trotz aller Emsigkeit niemand darauf erpicht, nun sogleich Antwort auf Schuldfragen zu bekommen. Die Gerichtsmediziner wollen neben weiteren Tests eine neuropathologische Untersuchung des Gehirns vornehmen, und die wird »allerdings mehrere Wochen in Anspruch nehmen«.