Wie im Leichenhaus (original) (raw)

STRAFVOLLZUG Wie im Leichenhaus

Den Insassen der Berliner Strafanstalt Tegel wurden zum Mittagessen Speisen mit Mausekot und Küchenschaben sowie Fleisch mit Geschwüren serviert. Das ergab jetzt eine Gerichtsverhandlung in Moabit.

30.05.1971, 13.00 Uhr •ausDER SPIEGEL 23/1971

Dr. med. Otto Helfer von der Berliner Senatsbehörde für Arbeit, Gesundheit und Soziales wußte schon vor drei Jahren Rat. »Die gesamte Küche«, schrieb er am 10. Mai 1968 an einen Kollegen in der Justizbehörde, »muß als hygienischer Mißstand angesprochen werden.« Und: »Eigentlich sollte ... ihre Schließung in Erwägung gezogen werden.«

Doch als -- im November 1968 -- das Berliner Apo-Blatt »Extra-Dienst« den Mißstand in der Gefängnisküche zu Tegel ausführlich schilderte ("Rinderlungen mit faustgroßen Tbc-Beulen, aus denen der Eiter nur so herausspritzt"), nahm die Obrigkeit nicht am Tegeler Küchenmief Anstoß, sondern an der lästigen »Extra«-Kritik.

Der Präsident des Justizvollzugsamtes, Gerhard Schmiedeke, sah die Tegeler Anstaltsleitung und deren Beamte vom »Extra-Dienst« verächtlich gemacht und stellte Strafantrag wegen »öffentlicher übler Nachrede« gegen .Extra«-Redakteur Martin Buchholz, 29.

Ob nun die Nachrede oder das Essen übler war -- das ließ auch das erweiterte Schöffengericht zu Berlin-Moabit, das gegen Buchholz verhandelte, in seinem vergangene Woche gefällten Urteilsspruch offen. Denn die Tegeler Küchenhygiene schien dem Gericht einerseits »keinesfalls vorbildlich und ideal«. aber »andererseits auch keineswegs katastrophal und skandalös«.

Zweifelsfrei ergab sich jedenfalls, daß die »Extra«-Story nicht aus der Luft gegriffen, allenfalls übertrieben war.

So hatte Lothar Weisemann, 42, gelernter Fleischer, ehedem als Häftling »Chefkoch« in Tegel und später Informant des »Extra-Dienstes«, von »Hundertscharen von Schaben« und Mäusen in der Gefängnisküche« stinkenden Suppenknochen und 15 Jahre altem Kloßpulver berichtet. Nicht selten hätten die rund 1100 aus der Tegeler Küche versorgten Häftlinge, so Weisemann« Schaben, Mäusekot, Nägel, Papier und Holzsplitter im Napf gefunden.

»Den Richtern verging der Appetit« ("Frankfurter Rundschau"), als ihnen letzte Woche solche Details auch von anderen Häftlingen und sogar von Tegeler Beamten aufgetischt wurden. Der Fleischer und Gastwirt Rudi Bunkowski, 27, Nachfolger des Chefkochs Weisemann, beispielsweise sagte aus, daß er

* Mit einer Ausgabe des »Extra-Dienstes« im Hof der Strafanstalt Tegel.

auch »in den Vorratsräumen« Mäuse und anderes Ungeziefer gefunden habe. Hinter einem Warmhalteschrank hätten sich so viele Küchenschaben angesiedelt, daß er sie »mit einer Schippe in einen Eimer« habe schaufeln müssen.

Adolf Steppich, Küchenverwaltungsbeamter in Tegel, sah einmal gar »drei bis vier Mäuse aus dem Fischbrater springen«. Amtstierarzt Dr. Gerhard Tegge bestätigte vor Gericht, »von dem Küchenchef« habe er im November 1968 erfahren, »daß die Lungenlieferungen vom 5. November knoten- oder abszeßähnliche Gebilde aufwiesen« -- Günther Steinberg, 51, wie die anderen Tegel-Köche gelernter Fleischer und damals »Diätkoch« in Tegel. befand: »Es handelte sich um reine Eiterbeulen, weiter nichts.« Die Küchenarbeiter Peter Waszak und Wolfgang Zeidler erinnerten sich: »Die Knochen waren schmierig und schillernd ... Es stank wie im Leichenhaus.«

Derlei »Mißstände« habe der »Extra-Redakteur Buchholz, wie ihm das Schöffengericht zugute hielt, »offenbar ... aufdecken und dadurch etwas Vernünftiges erreichen« wollen. Da der Angeklagte mit seinem Bericht aber »erheblich über das Ziel hinausgeschossen« sei, verurteilte ihn das Gericht zu 800 Mark Geldstrafe, ersatzweise 32 Tagen Haft, und erlegte ihm die Verfahrenskosten -- rund 3000 Mark -- auf.

Auch heute noch gibt es in der -- mittlerweile renovierten -- Tegeler Großküche Mäuse und Schaben. Erich Pyritz, 51, amtlicher Desinfektor, verteidigte sich vor Gericht: »Ich kann mich doch nicht mit 'ner Flöte vor die Löcher stellen und die Tierchen rauslocken.«