Beat im Haus (original) (raw)
Die Misere des deutschen Strafvollzugs«, sagt der NDR-Redakteur Ludwig Schubert, »hat das Fernsehen schon oft beleuchtet. Aber kein TV-Team ist so lange im Knast gewesen wie unseres.«
Elf Monate lang, von Januar bis November 1970, beobachtete ein TV-Kollektiv (Autor Christian Geißler, Hajo Dudda und Lothar Janssen) den Alltag der Rocker und Rauschgifthändler, Schläger und Diebe im Hamburger Jugendgefängnis Vierlande. Letzten Freitag brachte das Dritte NDR-Programm den ersten Film seiner dreiteiligen Haft-Dokumentation, die am 12. (20.15 Uhr) und 15. Januar (21.00 Uhr) fortgesetzt wird: »Ein Jahr Knast«, die bislang ergiebigste TV-Bestandsaufnahme dieser Art, protokolliert das Scheitern eines unorthodoxen Erziehungsmodells.
»Ich kann es besser als die, die schon verschlissen sind« -- so selbstbewußt hatte sich Anstaltsdirektor Jan Braden, 41, Anfang letzten Jahres in sein Amt eingeführt. Der liberale Jugendrichter wollte in dem neuen, großzügig angelegten »Hotel hinter Gittern« ("Bild") eine humane, freiheitliche Resozialisierungs-Theorie verwirklichen.
Zunächst waren die 270 Sträflinge, die vorher in herkömmlichen Zuchtanstalten eingekerkert waren, mit ihrem komfortablen Kittchen auch ganz zufrieden. Sie lobten ihren Chef als einen »Mann, mit dem man reden kann und der mal was Neues macht«. Sie durften hausinterne Beat-Konzerte besuchen, auf dem Fußballplatz kicken, Elvis-Presley-Platten auflegen, Pin-ups an die Zellenwand kleben, lange Haare tragen und sogar ein wenig mitbestimmen.
Freilich, dieses milde Klima im Bau, diese »weiche Welle im Strafvollzug«, paßte vielen Hamburger Justizbeamten und Anstaltsaufsehern überhaupt nicht. In den Vierlanden, bemängelten sie, seien die Haft »schlapp« und »die Häftlinge frech, ohne Ordnung und Schliff«. Ein Wächter vor der Kamera: »Braden ist ein herzensguter Mann, aber er kommt nicht aus der Praxis.« Dem widerborstigen Aufsichtspersonal schien es deshalb an der Zeit, wieder für »Benehmen, Ordnung und Gehorsam« zu sorgen und »schärfer durchzugreifen«. Braden, nur halbherzig von seinen Dienstherrn unterstützt, mußte in diesem Streit unterliegen. Das oppositionelle Wachpersonal war durch einsichtigere Mitarbeiter nicht zu ersetzen.
Von diesem »Konflikt zwischen Tradition und Fortschritt« bekamen auch die Inhaftierten Wind. Die Jugendlichen reagierten mit dumpfer Aggression -- vor allem gegen Braden. Sie verhöhnten »die biblischen Sprüche, die er abgelassen hat«, und forderten noch mehr Mitbestimmung. Sie erregten sich über die stumpfsinnige Gefängnisarbeit und lästerten über die »verlogenen Methoden« der neuen Erziehungspraxis.
Als die Fernseh-,Mannschaft nach fünf Monaten in die Vierlande zurückkehrte, war im Kittchen wieder die Hölle los. Die verbitterten Sträflinge zertrümmerten ihre Zellen-Einrichtungen und »schnippelten« sich die Adern auf. Sie protestierten mit Arbeitsverweigerung und begehrten immer häufiger Beruhigungsmittel.
Die überlasteten Anstaltspädagogen« die den Hamburger Senat stets vergebens um neue Planstellen und Finanzhilfen gebeten hatten, resignierten -- vier der sechs Haft-Reformer wollen die Anstalt verlassen. Braden, so klagte die Psychologin Eva Rühmkorf den Fernsehleuten, »ist ein Teil des Apparates und der Hierarchie. Er kann nicht, wie er will«.
Der Reformversuch, so resümiert Autor Geißler, scheiterte an dem »Widerspruch zwischen dem schicken, modernen Anspruch und den von der Gesellschaft bereitgestellten Mitteln«.
»Adieu, du moderner Strafvollzug«, grölt ein Gefangener zum Schluß ins Fernsehmikrophon, »adieu, du moderner Strafvollzug.«