Langsam am Verblöden (original) (raw)
Es war Weihnachten in Hamburgs Strafanstalt Fuhlsbüttel ("Santa Fu"). Ein Tannenbaum leuchtete hinter Maschendraht. Fernsehen fiel am Abend des ersten Feiertages aus, und als um 18.45 Uhr die Nachtwache den Tagesdienst ablöste, saßen alle 529 Häftlinge eingeschlossen in ihren Einzelzellen, viele vor brennender Kerze.
Minuten später fing im Flügel C der Mann von Zelle 149 zu schreien an. Es hallte und schallte durch die Flure des fünfstrahlig angelegten Gebäudes, wo ein Wachhabender alles wahrnimmt, »panoptisch« und »panakustisch«, wie es die Architekten der roten Ziegel-Zwingburg aus dem Jahre 1906 gewollt hatten.
Der Nachhall war immens: In Santa Fu begann Bambule, an die 200 Häftlinge machten Rabatz. Es dröhnte und trommelte, kreischte und skandierte ("Ihr seid alle Faschisten").
Für 1971 war es das letzte, aber schon dritte Mal, daß Fuhlsbüttler Häftlinge meuterten. Denn hinter den teils fünf, teils sechs Meter hohen Mauern hat sich inzwischen nachvollzogen, was draußen längst üblich geworden ist: Wie andere Randgruppen der Konsumgesellschaft halten immer mehr Häftlinge ihre Lage für unverschuldet. »Sie sagen«, berichtete Fuhlsbüttels Vollzugsleiter Heinz Schmidt, »alle sind gut, wir sind auch gut, schuld ist nur die Gesellschaft, dieses nebulöse Gebilde.«
Der stellvertretende Leiter des Hamburger Strafvollzugsamtes, Arno Weinert, deutet die Zeichen so: »Die Bereitschaft, sich mit irgend etwas abzufinden, schwindet.« Schwer hinzunehmen aber ist in Fuhlsbüttel vieles. »Für das Vollzugsziel Resozialisierung ist die Anstalt« -- so sagt selbst Weinert -»nicht geeignet; was bleibt, ist allein Aufbewahrung.
Es gibt nur Einzelzellen, fast alle nur acht Quadratmeter groß -- Wohnklos, wie ihre Bewohner sie nennen. Für Gemeinschaftsveranstaltungen hat das Gefängnis lediglich vier Gruppenräume.
Wenn um 16 Uhr der Arbeitsvollzug (Tagesbelohnung: 95 Pfennig bis 4,50 Mark für Akkordarbeit) zu Ende ist, dann hat der Gefangene bestenfalls anderthalb Stunden Zerstreuung, mal Kursus, mal Fernsehen, mal Männerchor (Motto: »Sing Sing in Fu").
Dann aber kommt der Verschluß hinter Schloß wie Riegel -- »schon für normale Menschen schwer zu ertragen, geschweige denn für Verhaltensgestörte, wie es Häftlinge in der Regel sind« (Weinert). Wegen Personalmangels wird nur ein Minimum der vorgeschriebenen Bewegung im Freien (eine halbe Stunde) zugestanden, der Morgenkaffee ist oft nicht heiß, das Mittagessen häufig nur lauwarm.
Solchen Strafvollzug zu ertragen ist allein Langzeitern vorbehalten. Nur wer in Hamburg mehr als drei Jahre, in Bremen und Schleswig-Holstein mehr als fünf Jahre sitzen muß, kommt nach Fuhlsbüttel, der sichersten Anstalt der drei in einer Strafvollzugsgemeinschaft zusammengeschlossenen Bundesländer. Mithin ist Santa Fu eher Hochschule denn bloße Schule des Verbrechens: ein Drittel Gewalttäter (darunter 77 Mörder), die anderen in der Regel Rückfalltäter.
Erst im Oktober setzten zwei Häftlinge einem Beamten ein 30 Zentimeter langes Fleischmesser an die Kehle, nahmen ihm die Schlüssel ab und flüchteten; sie wurden nach 18 Minuten wieder eingefangen. Im November fanden Beamte eine Pistole in der Zelle eines berüchtigten Ein- und Ausbrechers. Seither sind Zellendurchsuchungen und Leibesvisitation in Fuhlsbüttel an der Tagesordnung.
»Auf die Dauer«, so formulierte ein Häftling in den von Gefangenen für Gefangene herausgegebenen Hausnachrichten ("HN"), »läßt sich in dieser von Mißtrauen, Groll und Aggressionen vergifteten Atmosphäre nicht leben.«
In solch aufgeladener Atmosphäre reichen Kleinigkeiten für die Entladung: Zweimal war es im letzten Jahr das Essen, an Weihnachten der Alkohol, irgendwo in einer Ecke der Anstalt immer wieder heimlich gebrannt aus Zucker, Honig und Hefe. Der Anpeitscher aus Zelle 149 war von schwarzem Schnaps »schietendick«, wie er später gestand, ein zweiter Rädelsführer high von Haarwasser, ein dritter angeturnt durch eine Mixtur aus Kaffee und Tabletten, ein weiterer Wortführer wütend wegen verweigerten Weihnachtsurlaubs und einer schließlich allgemein frustriert ("langsam am Verblöden").
Fast vier Stunden lang wiegelten sie ihre Kumpane auf, wüteten sie in ihren Zellen. Scheiben klirrten, flammende Fetzen flogen auf den Hof, eiserne Bettgestelle schepperten gegen die hölzernen, innen nur mit Blech beschlagenen Zellentüren. »Quast« (der Inspektor vom Dienst) sollte »an den Ast«, die Gefängnisleitung »weg, hat keinen Zweck«.
Während die anderen Aufruhr machten, schrieb ein Häftling in einem Brief: »Heute tobt seit einigen Stunden die heftigste Meuterei, die es hier je gab. Zellen werden zerschlagen, das Wasser strömt aus abgerissenen Hähnen die Flure entlang, Gefangene werden am laufenden Band in Arrestkeller gepfercht.«
Als nach der ersten Stunde der Lärmpegel stieg, fuhren um 19.51 Uhr im Vorhof der Strafanstalt zehn Peterwagen mit Blaulicht und Sirenengeheul auf. »Ihr Schweine, ihr Schweine«, tönte es ihnen entgegen, indes: Die Polizisten liehen den Wärtern lediglich ihre Schutzhelme aus.
Bewehrt mit Waschkörben, beflügelt vom Zuspruch des Justizsenators Ernst Heinsen, schlugen die Vollzugsbeamten sodann den Aufruhr unblutig nieder. Sie holten die Wortführer aus ihren total demolierten Zellen und verlegten sie. Um 22.35 Uhr war Ruhe; in Santa Fu gingen die Lichter aus.
Wann wieder Bambule sein wird in Fuhlsbüttel, ist offenbar nur eine Frage der Zeit. Weinert: »Es kann immer wieder passieren.«