Mitunter schrecklich (original) (raw)
STRAFVOLLZUG Mitunter schrecklich
Ein steiler Anstieg der Selbstmorde jugendlicher Gefangener beunruhigt in Hessen Politiker und Vollzugsfachleute. Bei der Suche nach den Motiven kamen alle streitenden Parteien zu verschiedenen Ergebnissen.
05.12.1971, 13.00 Uhr •ausDER SPIEGEL 50/1971
Lautes Röcheln vernahm der Nachtwächter der Höchster Haftanstalt, als er um vier Uhr früh bei seinem Kontrollgang das Licht der Zelle 247 einschaltete.
In dem Verlies, auf einem kleinen Holztisch, lagen aufgeschlagen eine Bibel mit angekreuzten Jesus-Sprüchen, daneben ein Kartenspiel, Pik-As obenauf, und zwei selbstbemalte Kärtchen mit den Worten »Peace« und »Freedom«. Im Abschiedsbrief stand der Satz: »Weil es nie wieder eine normale Existenz gibt, wenn ich ein freier Mensch wäre.«
Im Bett fand der Wärter den Untersuchungshäftling Günter Wisweh, 19, die beiden Pole eines Kopfhörer-Kabels in Herznähe auf seiner nackten Brust und auf dem Rücken mit einem Gürtel festgeschnallt, das Kabelende in die Fassung der Wandlampe geklemmt. Der ahnungslose Wärter hatte Wisweh beim Lichtmachen einen tödlichen Stromstoß durch den Körper gejagt.
Günter Wisweh war der dritte Jugendliche, der binnen kurzer Zeit in einer hessischen Vollzugsanstalt nach auffälligem Ritual freiwillig aus dem Leben schied:
* Am Nachmittag des 5. Oktober fanden die Wärter in Höchst den Untersuchungshäftling Michael Schimm, 20, tot in seiner Zelle. Er hatte sich einen Leibriemen um den Hals geknotet und sich am Heizungsrohr erhängt. An der Zellenwand hing ein Plakat mit der Aufschrift: »Fixen macht glücklich und tot.«
* Genau drei Monate zuvor starb in Wiesbaden der Häftling Karl-Heinz Gräf, 20, der sich in der Jugendstrafanstalt Dotzheim mit einer Nitrolösung übergossen und angezündet hatte. Einem Arzt hatte er gesagt: »Ich habe es aus Protest getan.« Diese Selbstmorde von jugendlichen Gefangenen signalisieren einen Trend, der für Hessens Justizminister Karl Hemfler (SPD) »beunruhigend« und »nur schwer zu erklären« ist: In den Strafanstalten seines Landes ist die Zahl solcher Todesfälle stark angestiegen -- auf bislang elf in diesem Jahr, gegenüber fünf im letzten Jahr und zwei im Jahre 1969.
Zwar haben für Hemfler all diese Fälle »demonstrativen Charakter« und »mit den Anstalten nichts zu tun«, über die Motive der Häftlinge aber kann auch Hemflers Strafvollzugs-Referent Dr. Heinz Meyer-Velde nur rätseln.
Vielleicht, so sinniert der Referent, seien »die in der Anstalt frei erhältlichen Publikationsmittel« schuld, die von »auslösenden Selbstmordereignissen berichten. Meyer-Velde: »Wenn sich Mönche in Saigon verbrennen oder der Student in Prag anzündet, dann lesen das die Gefangenen heute doch in Zeitungen.«
Die christdemokratische Opposition mochte sich mit solcher Mutmaßung nicht zufriedengeben. Denn: »Demonstrativer Charakter als Begründung«, so CDU-MdL Gottfried Milde, ein Staatsanwalt aus Darmstadt, »das reicht uns nicht, da wollen wir noch einmal einhaken.« Milde hat grundsätzliche Bedenken: »Wir liberalisieren das Strafrecht, wir liberalisieren den Straf-
* Auf dem Bett: das Kopfhörer-Kabel, mit dessen Hilfe Wisweh sich umbrachte.
vollzug, und die Zahl der Selbstmorde steigt.«
Und weil selbst Hemflers Parteifreunden des Ministers Begründung nicht hinreichte, steuerten auch sie eine Vermutung über die Mord-Motivation bei. »Ich weiß nicht, ob es jedem hier bekannt ist«, meinte die SPD-Abgeordnete Dorothee Vorbeck im Landtag, »daß es die Gesellschaft für richtig hält, 14jährige Kinder in Einzelzellen gefangenzuhalten.« Ihr Fraktionskollege Udo Schroeder fragte nach »mittelalterlich anmutenden Haftverschärfungen« in einzelnen Anstalten.
Beide meinten die Jugendstrafanstalt Rockenberg bei Butzbach, wo Häftlinge bei verschärftem Arrest in Einzelzellen auf einem Betonklotz schlafen und jeweils zwei Tage mit einem Liter Kaffee und 650 Gramm Brot auskommen müssen. Nur jeden dritten Tag schieben die Wärter das Bett und die normale Verpflegung durch die Zellentür.
»Diese Strafe muß nicht sein«, findet auch Anstaltsleiter Dr. Alexander Böhm, »da müßte mich mein Minister nur anweisen.« Aber er empfindet es auch als »ganz großen Schwindel, daß das mit Rockenberg oder mit Hessen aufgebracht wird«. In der Tat gibt es auch in den Strafanstalten der anderen Bundesländer für Erwachsene wie für Jugendliche den verschärften Arrest. Und »in konservativ geführten Anstalten, selbst bei strengem, repressivem Vollzug«, fuhr Vollzugsexperte Meyer-Velde den Landtagsgenossen in die Motiv-Suche, »haben wir in zehn Jahren keinen einzigen Selbstmord«.
Wieder andere Gründe für die Selbstmord-Serie erahnt Sven Franke, Anstaltsleiter in Höchst, Gefährdet sind für ihn vor allem die drogengewohnten Häftlinge, denen nach ihrer Einlieferung Entzugserscheinungen zu schaffen machen: »Da spielen sich mitunter schreckliche Szenen ab, die stöhnen dann immer entsetzlich, ein fürchterliches Martyrium.«
Selbst in der Zelle, schilderte Meyer-Velde, schlucken diese Jugendlichen noch pulverisierten Tabak, wickeln sich benzingetränkte Lappen um den Kopf oder rühren sich einen übelschmeckenden Sirup aus Kaffee-Extrakt. Und Beistand für die Verzweifelten ist rar. So gibt es im hessischen Rockenberg für 183 Strafgefangene zwei Psychologen (Anstaltsleiter Böhm: »Für deutsche Verhältnisse noch unglaublich schön"), in Wiesbaden-Dotzheim für 214 einsitzende Jugendliche bislang gar nur einen.
Trotz ärztlicher Aufnahmeuntersuchung kommen häufig suchtkranke Jugendliche in Untersuchungshaft, die eher in eine Klinik gehörten. »Sicher können wir nur bei denen sein«, meint Vollzugs-Referent Meyer-Velde, »die schon »high' bei uns ankommen.« Und die SPD-Abgeordnete Vorbeck kriti-
* Bei der Einlieferung in das Provinzialgefängnis Malaga.
siert denn auch in einer Anfrage an Minister Hemfler, daß »die Untersuchungshaftanstalten« immer mehr »zu Auffangstellen für körperlich und seelisch schwer geschädigte junge Menschen« werden.
Ob nun Entziehungsqualen, Betonklotzmartern oder einfach nur stimulierende Zeitungslektüre den rapiden Selbstmord-Anstieg in Hessens Zellen bewirkten, vermögen vorerst freilich weder sozial- noch christdemokratische Kritiker des Hemfler-Ministeriums zu belegen. Und der Höchster Anstaltschef Franke will seine Erkenntnisse für sich behalten.
»Wer Bilanz ziehen will«, so sagt er nichtssagend, »spricht nicht darüber vorher.«