Nicht böse (original) (raw)

Die Zellentüren sind tagsüber nur selten verschlossen, die Gefangenen werden mit »Herr« vor dem Namen angeredet, Unbotmäßigkeiten nicht mit Strafe geahndet, sondern durch Gespräche beigelegt. So leger sind die Bräuche in der »sozialtherapeutischen Abteilung« der Strafanstalt Hohenasperg bei Stuttgart.

Erstmals im westdeutschen Strafvollzug unternehmen dort Experten verschiedener Fakultäten den »Versuch, den Täter mit den Mitteln der Psychoanalyse und der Psychologie zu einem sozial-adäquaten Verhalten zu bringen«, wie Abteilungsleiter Dr. Rudolf Engell erläutert. Denn es ist eine »feststehende Erkenntnis«, begründet Anstaltsarzt Dr. Gerhard Mauch die Im bundesrepublikanischen Vollzugswesen bislang beispiellose Reform, daß »bloßer Freiheitsentzug auf die meisten chronisch Kriminellen Reine verändernde Wirkung ausübt«.

Aus dieser Erkenntnis hat Baden-Württembergs SPD-Justizminister Rudolf Schleier seinen Kollegen in den anderen Bundesländern voran praktische Konsequenzen gezogen. So spielen im Landesgefängnis Rottenburg Häftlinge mit Studentinnen Theater. So gibt es in baden-württembergischen Jugendstrafanstalten mehr »Freigänger« und häufiger Urlaub als gemeinhin üblich. Vor allem aber sollen künftig zu Freiheitsentzug Verurteilte nicht mehr wahllos ins nächstliegende Gefängnis, sondern nach Persönlichkeitsanalyse in Strafanstalten mit differenzierter Zweckbestimmung geschickt werden, soll außerdem amtlich gebilligter Geschlechtsverkehr der »Gewöhnung an sexuelle Ersatzhandlungen« (Schleier) Einhalt gebieten.

Und im Muster-Knästle auf dem Weinberg Hohenasperg ist nun -- neben einer Psychopathen-Station -- auch eine sozialtherapeutische Abteilung eingerichtet worden. Dort werden in ein- bis dreijähriger Behandlung Strafgefangene therapiert, die entweder eine schwere Persönlichkeitsstörung aufweisen oder aber wegen Sexualdelikten verurteilt worden sind. Behandelt werden ferner Vorbestrafte unter 27 Jahren, bei denen die Gefahr besteht, sie könnten sich zu Hangtätern entwickeln; schließlich auch vermindert Zurechnungsfähige, deren Resozialisierung eher durch sozialtherapeutische als durch rein psychiatrische Behandlung zu erwarten steht.

Diese teils erheblich belasteten, teils entwicklungsgehemmten oder fehlgeleiteten Straffälligen wenigstens hinter Gittern zu heilen, bemühten sich aus eigener Initiative vier Asperg-Ärzte bereits in den fünfziger Jahren. Damals »ging das«, erinnert sich Strafvollzieher Engell, »zunächst alles illegal über die Bühne und gegen dicken Widerstand in der Ministerialbürokratie«. Das Thema »mußte offenbar erst einmal mit Klingelpütz und ähnlichem ins Gespräch kommen«, bedauert der Hohenasperger Anstaltsleiter Hermann Scham. Nun behandeln drei Psychiater, vier Psychologen, ein psychotherapeutisch vorgebildeter Arzt sowie ein Internist, ein Theologe, eine Sonderschulpädagogin und drei Sozialarbeiter 40 Häftlinge, die auf eigenen Antrag ausgewählt worden sind.

»Ich will auf keinen Fall wieder rückfällig werden«, begründet zum Beispiel ein gelernter Kaufmann, der wegen schweren Raubes und 16 Einbrüchen einsitzt, seine Bitte um Sozialtherapie. Denn: »Ich fühl' mich jetzt verantwortlich für meine Braut und das Kind.« Doch da er bisher die Umwelt -- und sie ihn -- nicht verstanden hat ("20 Mark Weihnachtsgeld, dann war ich entlassen«; »bei manchen war ich ehrlich, da wurde ich wegen meiner Vorstrafen gleich abgelehnt"), hat er Angst vor der Freiheit.

Er soll nun wie die anderen Patienten lernen, »seine infantilen, zwanghaften Reaktionen zugunsten reiferer, sozialadäquater Aktionen aufzugeben« und einen »tragfähigen menschlichen Kontakt herzustellen« (Anstaltsarzt Mauch). Es geht jedoch nicht, so der Mediziner, um das »Hervorrufen bloßer Verhaltens-Schemata«, sondern um Anpassung als »Ausdruck eines inneren Strukturwandels und einer Nachreifung«. Beschäftigungs-, Arbeits-, Milieu-, Kontakt-, Psychotherapie und Gruppenbehandlung sollen diesen Reifeprozeß ermöglichen.

Wenn seine Probanden trotz aller Bemühungen »wiederkommen«, ist Anstaltsarzt Mauch ihnen dennoch »nicht böse«, denn Rückfall gibt ihm keineswegs Grund, »die Leute abzuschreiben«. Und ebenso glaubt der evangelische Hohenasperg-Pfarrer Martin Skambraks an das Gute in allen Menschen: »Vielleicht liegt in der Resozialisierung der Strafgefangenen eine Aufgabe für die Gesellschaft, auf die sie wartet, die sie nur noch nicht erkannt hat.«