Einfach Bambule (original) (raw)
Der eine verschluckte ein Messer und wurde operiert. Als er aus der Narkose erwachte und der Arzt ihm mit Worten der Ermahnung den scharfen Stahl zeigte, griff er zu und schluckte die Klinge ein zweites Mal.
Ein anderer schnitt sich die Haut auf und schmierte Schmutz in die Wunden. Der dritte zerbiß sich die Schleimhaut, hielt Mund und Nase zu und preßte so lange Luft in die Mundhöhle, bis er ein Emphysem bekam. Und ein Vierter stach sich mit einem Kopierstift unter die Hornhaut seines Auges.
Wie diese vier Männer -- allesamt Berliner Strafgefangene -- legen jährlieb Hunderte deutsche Gefängnisinsassen Hand an sich selbst: Sie martern und verstümmeln sich -- oft in Gefahr, aber keineswegs in der Absicht, das Lehen zu verlieren.
Wie Kronjuwelen in musealen Schatzkammern werden in manchen Gefängniskrankenhäusern die Marterwerkzeuge in Vitrinen ausgestellt: Glasscherben und Brillengestelle, Rasierklingen und Kugelschreiber, Matratzenfedern und Eimerhenkel oder auch ein Transistorradio.
Manche mögens und erduldens mehrfach: So wurde Ende Februar im Düsseldorfer Gefängniskrankenhaus ein Häftling zum siebtenmal operiert. Seine Spezialität: hakenkreuzförmig gebogene Drähte, die in der Speiseröhre hängenbleiben. Neu im Schlucker-Schwange sind die sogenannten
Sputniks -- V-förmige Drahtgabeln, deren Enden mit Papier zusammengedrückt werden: Die Magensäure zerfrißt das Papier, die Gabel springt auf, der Fall ist lazarettreif.
Reif fürs Lazarett zu sein -- das ist nach Ansicht vieler deutscher Gefängnisärzte und Zuchthaus-Direktoren das Hauptmotiv der Schlucksucht. »Die schönen weißen Betten in unserem Lazarett reizen die Herren immer mehr«, klagt der Chef des Düsseldorfer Gefängniskrankenhauses, Dr. Philipp Hindringer, 58, der 1967 mit beinahe einhundert Schluckern 70 bis 80 Fälle mehr als in den Jahren zuvor verarzten mußte.
Der Leiter der Strafanstalt Lingen, Regierungsdirektor Max Schermer, meint: »Die Krankenhauskost ist besser ... Manche wollen mal Luftveränderung haben. Und schließlich sind da noch die, die einfach Bambule machen wollen, das heißt sich wichtig tun.«
Was buchstäblich nur arme Schlucker sind -- der Celler Zuchthaus-Chef Horst Bernhardi: »Ein intelligenter Gefangener tut so etwas nicht« -- nennt Kollege Karl van der Meulen von der Strafanstalt Freiendiez gern »Fakir-Typen« und »debile, oppositionelle Figuren«. Solchem Befund entspricht denn auch die Therapie. »Diesem Unfug kann man nur ein Ende setzen, wenn die Gefangenen die erschlichene Lazarettzeit nachsitzen müssen«, schlägt Medizinaldirektor Hindringer vor,
Freilich -- nicht alle Anstalts-Oberen suchen die Schuld beim Häftling. Der Berliner Gefängnisarzt Dr. Reinhard Meitzner: »Die Schlucker sind in den seltensten Fällen geisteskrank. Jedoch kann man sagen, daß ihre Störungen Krankheitswert haben, wobei man die Gefängnissituation ganz besonders beachten muß.«
Tatsächlich weiß denn auch der Anstaltsarzt in der größten hessischen Strafanstalt, Rolf Maykemper in Butzbach, »in den letzten zwei Jahren« von »praktisch keinem einzigen Fall mehr« zu berichten. Seine Begründung: Die 700 Inhaftierten hörten Hausfunk nach selbstgewähltem Programm, dürfen »Freizeitausschüsse« bilden und nach Anleitung eines Lebenslänglichen Sport treiben. Butzbach-Chef Günter Johanns konstatiert: »Unser Betriebsklima ist gut.«
Lediglich einen Butzbacher Schlucker findet Maykemper erwähnenswert -- einen ehemaligen Häftling, der 1956 wegen Schluckens operiert werden mußte. Jüngst traf er ihn auf dem Butzbacher Volksfest wieder: Dort schluckte er Schwerter.
* Von links: Transistorradio Im Magen eines Häftlings; Schrauben, Nägel und Metallhaken, die ein Häftling im Hamburger Zuchthaus Fuhlsbüttel verschluckt hatte; Matratzenfeder im Magen eines Häftlings.
** Mit einer Sammlung geschluckter Gegenstände.