Gesteh und geh (siehe TitelbiId) (original) (raw)

Genau wie der kaiserliche, so hielt es auch der republikanische Gesetzgeber für untunlich, Kriminalpolitik über den Eifer der Polizei zu betreiben. Als erster Schritt einer geplanten großen Haftrecht-Reform wurde 1926 das periodische Haftprüfungsverfahren eingeführt. Es sollte wenigstens sichern, daß die Häftlinge nicht länger festgehalten wurden als die Haftgründe bestanden.

Die Nationalsozialisten beseitigten freilich diese Schutzvorschrift - als »liberalistische Schwäche« - schon 1934 wieder. Und ein Jahr später kodifizierten sie zwei neue Haftgründe, die bis auf den heutigen Tag nicht nur im Unterbewußtsein vieler Polizisten eine Rolle spielen: » Wiederholungsgefahr« und »Öffentliche Erregung über die Tat«. Die Untersuchungshaft, an sich nur äußerster Verfahrensbehelf, war damit - und zwar nunmehr auch offiziell - zur präventiv-polizeilichen Maßnahme deformiert.

Nach dem Kriege knüpfte der Bundestag an die alten Vorarbeiten an. Er strich nicht nur die nationalsozialistischen Haftgründe. Zusätzlich wurde die Annahme von Fluchtverdacht und Verdunkelungsgefahr erschwert. Der Haftrichter sollte jetzt aktenkundig prüfen:

- bei Fluchtverdacht - ob diese Befürchtung auch bei »Würdigung der Umstände des Einzelfalles, insbesondere der Verhältnisse des Angeschuldigten und der Umstände, die einer Flucht entgegenstehen«, begründet sei;

- bei Verdunkelungsgefahr, dem sogenannten Kollusionsverdacht - ob »bestimmte Tatsachen vorliegen, welche die Gefahr begründen, daß der Angeschuldigte ... die Ermittlung der Wahrheit erschweren werde«.

Ausdrücklich hieß es in der regierungsamtlichen Erläuterung: »Mit Rücksicht auf die grundsätzliche Bedeutung der Freiheit der Person hat ... das Gesetz ... die Voraussetzungen der Untersuchungshaft schärfer umschrieben.«

Indes, auch die Bonner Rücksichten auf die Freiheit der Person beeindruckten Polizei und Staatsanwaltschaften nicht stärker, als ehedem kaiserliche und republikanische Verfolgungsbehörden durch die Anstrengungen des Reichstags beeindruckt waren. Und unlängst konnte der auch von dem CDU -MdB Konrad Adenauer geschätzte Bonner Anwalt Dahs erklären, die Untersuchungshaft rücke »in die gefährliche Nähe der Ungehorsams- und Verdachtsstrafen, die sich im Mittelalter bis zur Tortur steigern konnten«. Gerade wenn sie nichts wisse, sei der Verhaftungstrieb der Polizei am größten.

Genau diese Tendenz, nämlich erst zu verhaften, dann aufzuklären, war offensichtlich ursächlich für die spektakulärsten Fehlverhaftungen der letzten Jahre:

- Im Frühjahr 1961 wurde der Bonner Ministerialdirektor Stalmann unter dem Verdacht der schweren passiven Bestechung überraschend festgenommen und ins Untersuchungsgefängnis eingeliefert. Der Haftrichter zum Beschuldigten: »Geben Sie doch alles zu, binnen kurzem sind die Beweise da.« Eine Woche später mußte Stalmann wieder auf freien Fuß gesetzt werden. Er war verhaftet worden, bevor die Staatsanwaltschaft überhaupt Ermittlungen eingeleitet hatte.

- Im August 1961 wurde die griechische Studentin Athanasia Syngellaki durch das Schöffengericht Freiburg vom Vorwurf des Reisescheckbetrugs freigesprochen. Sie hatte auf dieses Urteil 20 Monate lang in deutschen und italienischen Untersuchungsgefängnissen gewartet. Für ihr Vergehen - das die alemannischen Schöffen dann nicht für erwiesen hielten - beantragte der Staatsanwalt nur acht Monate Gefängnis. Die in den Haftanstalten neurotisch gewordene Frau erlitt nach dem Freispruch einen Nervenzusammenbruch.

- Ende 1961 saß der Bundeswehrhauptmann Laas vom Wehrbereichskommando II in Hannover annähernd vier Wochen in Untersuchungshaft, bis die erst nachträglich angelaufenen Ermittlungen ergaben, daß er nicht die mindesten Beziehungen zum östlichen Nachrichtendienst unterhielt.

- Im Herbst 1962 wurde das Verfahren gegen den des Gattenmordes beschuldigten Starnberger Diplomingenieur Dr. Vierling eingestellt. Der »dringende« Mordverdacht hatte, wie sich später herausstellte, wesentlich auf dem Umstand basiert, daß sich Vierling unter Ohrenzeugenschaft der Nachbarn etliche Male mit seiner Frau stritt. Vierling saß sieben Monate lang in Untersuchungshaft und verlor seine Existenz.

- Im Sommer 1963 wurde der Freiburger Polizeirat Uhl nach zweijähriger Untersuchungshaft auf freien Fuß gesetzt. Der Vorwurf, während des Krieges an Verbrechen gegen die Menschlichkeit beteiligt gewesen zu sein, hatte sich als bloße Vermutung aufgrund widersprüchlicher Zeugenaussagen erwiesen.

»Wie häufig begegnet man Haftbefehlen«, so der Frankfurter Anwalt Schmidt -Leichner, »die nach einiger Zeit - etwa drei Monaten - aufgehoben werden, ohne daß sich irgendwelche entlastende Momente ergeben hätten ... Fragt man, weshalb Tatverdacht und Fluchtgefahr unter diesen Umständen jetzt weniger 'dringend' seien als im Zeitpunkt des Erlasses des Haftbefehls, so erhält man oft die Antwort, es hätten sich keine weiteren Belastungen ergeben.«

Logischer Schluß: »Als ob ein 'dringender' Tatverdacht - wenn er wirklich vorgelegen hat - dadurch entfallen könnte, daß er nicht noch 'dringender' geworden ist.«

Jüngstes Beispiel: Ende Februar wurde der amerikanische Opernsänger

Long in der Hauptverhandlung auf freien Fuß gesetzt. Zwei volle Jahre lang hatte er den Münchner Haftrichtern als so »mordverdächtig« gegolten, daß kein Haftprüfungstermin positiv für ihn ausging.

Fehlt es häufig schon am »dringenden Tatverdacht«, so wird bei der Prüfung der eigentlichen Haftgründe noch pauschaler verfahren. Westdeutschlands Haftrichter empfinden offenkundig, daß der Tatverdacht an sich schon genüge, um einen Bundesbürger in die Zelle zu stecken. Der »Fluchtverdacht« wird dann einfach unterstellt.

Anstatt, wie das Gesetz es vorschreibt, individuell zu prüfen, ob nach den Verhältnissen des Beschuldigten - etwa eines verheirateten Geschäftsmannes mit schulpflichtigen Kindern und Realvermögen - mit Flucht zu rechnen ist, wird routinemäßig nach bestimmten Faustregeln entschieden. Fluchtverdacht wird angenommen mit dem Hinweis

- auf die Höhe der zu erwartenden Strafe, wobei nach ungeschriebener Übereinkunft davon ausgegangen wird, daß Gefängnisstrafen über ein Jahr den durchschnittlichen Bundesbürger zur überstürzten Emigration bewegen, dies, obwohl nach einer Erklärung des BGH-Präsidenten Sarstedt die Fluchtmöglichkeiten heutzutage durch die modernen Kripo-Methoden äußerst reduziert sind;

- daß »ein Verbrechen den Gegenstand der Untersuchung bildet«, obschon bei Verbrechen dem Haftrichter nur die sonst vorgeschriebene Begründung für den Fluchtverdacht, keineswegs aber auch die allgemeine Prüfung erlassen ist.

Eine Vorstrafe ist in der Praxis mancher Gerichte geradezu konstituierend für Fluchtverdacht. Ob diese Strafe wegen einer Lappalie verhängt wurde, wegen einer Verkehrs-, Steuer- oder Zollsache, scheint keine wesentliche Rolle zu spielen.

Überhaupt schätzen deutsche Haftrichter die Gefahr der Flucht umgekehrt proportional zur Lebenserfahrung ein. Solange das Beweismaterial der Polizei dürftig ist, mithin der Beschuldigte gute Aussichten hat, einer Strafe zu entgehen, ist nach Haftrichter-Meinung die Fluchtgefahr am größten. Ist der Beschuldigte überführt, die Anklage erhoben und die Strafe sicher, so glauben nur noch wenige Haftrichter daran, daß er sich dem Urteil durch die Flucht entziehen werde.

Schmidt-Leichner: »Je länger die Ermittlungen andauern, um so mehr wächst die Bereitschaft, in der Haftfrage Konzessionen zu machen ... Ein Geständnis des Beschuldigten wirkt häufig wie eine Erlösung von der Untersuchungshaft.«

Beim Haftgrund »Verdunkelungsgefahr« ist die Kluft zwischen Gesetz und Praxis womöglich noch eklatanter. Paragraph 112 StPO verlangt, daß »bestimmte Tatsachen vorliegen«, welche die Verdunkelungsgefahr begründen. In den deutschen Haftbefehlen hingegen, die sich auf Verdunkelungsgefahr stützen, findet sich kaum jemals eine »bestimmte Tatsache« als Begründung des Freiheitsentzugs angeführt.

Um so häufiger aber tauchen Floskeln auf, es seien noch flüchtige Mittäter vorhanden, es bestehe die Möglichkeit, daß sich der Beschuldigte mit Zeugen in Verbindung setzen werde, oder einfach: »Weil die Ermittlungen noch nicht abgeschlossen sind.«

Das sind aber alles Umstände, die der Beschuldigte nicht zu vertreten hat. Sie mögen es wahrscheinlich machen, daß später einmal jene »bestimmten Tatsachen« sich ergeben, die auf Verdunkelungsabsichten hindeuten. Sie können aber - schon rein begrifflich - die Tatsachen nicht ersetzen, die im Zeitpunkt des Haftbefehls vorliegen müssen.

Gegenwärtig liegt beispielsweise beim Europäischen Gerichtshof in Straßburg die Beschwerde des - offiziell wegen Verdunkelungsgefahr, tatsächlich wohl wegen Ermittlungsschwierigkeiten in Haft gehaltenen - Berliners Karl -Heinz Wemhoff, der unter Berufung auf die »Konvention zum Schutze der Menschenrechte« eine Überprüfung seines Haftfalles fordert. Wemhoff, ehedem leitender Angestellter bei der Berliner August-Thyssen-Bank, soll zu betrügerischen Scheckmanipulationen des Thyssen-Prokuristen Gericke Beihilfe geleistet haben. Er sitzt bereits 28 Monate.

In Wirklichkeit schimmert gerade bei den auf Verdunkelungsgefahr gestützten Haftbefehlen der illegale Ermittlungszweck besonders aufdringlich durch. Hier feiert das Interesse der Polizei seine exzessivsten Triumphe.

Dem Beschuldigten wird das Ermittlungsrisiko aufgebürdet, Und nicht nur das echte Ermittlungsrisiko. Er leidet auch unter den Verschleppungen, wobei es für den Gefangenen gleichgültig ist, ob die Wartezeiten durch den Personalmangel der Behörden, durch bürokratische Umstandskrämerei oder einfach durch Gleichgültigkeit verursacht sind.

Die Konsequenzen sind für einen Rechtsstaat unerträglich. Die Griechin Syngellaki, die nach 20 Monaten Untersuchungshaft in Freiburg freigesprochen wurde, hätte, auch wenn ausreichende Beweise für einen Scheckbetrug vorhanden gewesen wären, bestenfalls zu einem Jahr Gefängnis verurteilt werden können. Von dem 13. Monat Untersuchungshaft an stand mithin fest, daß das Mädchen von

nun an ungerechtfertigt aus dem Blechnapf aß - mit zweimal 30 Minuten Hofgang täglich.

Sie wurde schwermütig. Andere Häftlinge entwickeln nur leichte Neurosen. Allen aber drückt das Gefängnis seinen Stempel auf, der lebenslang haftet.

In ungezählten, durchweg zu engen, meist auch zu dunklen Zellen zwischen Donau und Förde sitzen sie. Stumpf warten Schuldige und Unschuldige auf die nächsten Schritte der Justiz: auf einem Hocker ohne Lehne, neben der Notdurftecke, die sich in den alten Anstalten als Fäkalienkübel präsentiert, und unter einem Gitterfenster, das in der Regel so hoch liegt, daß man nicht hinaussehen kann. In fast allen Anstalten ist die Pritsche tagsüber hochgeschlossen.

An der Türe ist ein Karton befestigt, auf dem in Versalien »UK« oder »UE« steht - »Untersuchungshäftling katholisch« oder »Untersuchungshäftling evangelisch«. Daneben mitunter ein zweites Stück Pappe: »Selbstmordgefahr« oder »Kein Messer«.

Das ist der vom Gesetz versprochene, jedoch nicht garantierte Idealfall der Einzelzelle. Viele vegetieren zu dritt, viert oder fünft in Gemeinschaftszellen, teilweise hautnah mit Verbrechern. Alle absolvieren den gleichen Trott, im dumpfen Rhythmus der »Vollzugsordnung":

- Wecken - meist sechs Uhr; Licht

aus - meist 21 Uhr.

- Besuche - etwa alle 14 Tage, 15

Minuten.

- Briefe - zwar erlaubt, aber nur nach Zensur; ausgehende Briefe, die »unrichtige oder gröblich entstellende Behauptungen über die Verhältnisse in der Anstalt« enthalten, werden zurückgehalten.

- Zeitungen - meist nur eine erlaubt Radio allenfalls in Ausnahmefällen.

- Zigaretten - kontingentiert auf fünf, in anderen Anstalten auf sieben, in anderen auf zwölf; Alkohol ausnahmslos verboten.

- Pakete - »grundsätzlich nicht gestattet«, nur »aus besonderem Anlaß kann der Anstaltsleiter Ausnahmen zulassen«.

Die Vollzugsmodalitäten sind es, die jenen tausend Jahren, die Jahr für Jahr in Westdeutschland überflüssig verbüßt werden, ihre für den Außenstehenden kaum vorstellbare Brutalität verleihen. Wie bei der Anordnung der Untersuchungshaft der illegale Ermittlungszweck zu überwiegen scheint, so dominiert bei-ihrem Vollzug ganz offensichtlich der ebenso illegale Strafzweck.

Dabei sieht es nach dem Wortlaut der Strafprozeßordnung so aus, als werde der Untersuchungshäftling lediglich gehindert, zu fliehen und zu verdunkeln. Es dürfen ihm nämlich nach Paragraph 116 StPO »nur solche Beschränkungen auferlegt werden, die zur Sicherung des Zwecks der Haft öder zur Aufrechterhaltung der Ordnung im Gefängnis notwendig sind«.

Und tatsächlich hält sich in der Öffentlichkeit bis heute die Vorstellung, der Untersuchungsgefangene spanne in seiner Zelle aus, er genieße das Essen aus dem benachbarten Restaurant, er lese und rauche.

Der Irrtum wird genährt durch die »Untersuchungshaft -

Vollzugsordnung« vom 12. Februar 1953, die mit gehaltvollen Sätzen nicht spart: »Die Untersuchungshaft ist so zu vollziehen, daß der Gefangene keinen sittlichen oder körperlichen Schaden leidet«, oder: »Der Untersuchungsgefangene ist würdig, gerecht und menschlich zu behandeln.«

Indes, die »Vollzugsordnung« von 1953 ist ebenso wie die nachgeordneten »Vollzugsordnungen« der Bundesländer nur Verwaltungsvorschrift. Kein Gefangener kann sich auf sie wie auf ein Gesetz berufen. Sie verpflichtet aber die Gefängnisleitungen zur »Aufrechterhaltung der Ordnung und Sicherheit in der Anstalt«.

Und dieser Verpflichtung kommen die Direktoren denn auch nach. Praktisch orientiert sich der ganze Betrieb nach den Schwerstkriminellen; den Schlägern und eingefahrenen Knastologen. Der Gefangene sitzt den Tag über auf dem Schemel, da ist er nämlich durch das Gucklock, den »Spion«, am besten zu observieren. Er steht auf und macht Meldung, wenn ein Aufsichtsbeamter die Zelle betritt, da ist die Gefahr geringer, daß er ein Schlagwerkzeug versteckt hält.

Verläßt der Häftling seine Zelle, so wird er »geführt«. Muß er irgendwo warten - vor dem Fürsorge-Büro etwa, wenn er um Sicherstellung seiner Habseligkeiten aus einem möblierten Zimmer bitten möchte -, dann tritt er an die Wand, Hände auf dem Rücken, immer fünf Schritte vom nächsten Häftling.

Diese schlüsselklirrende Tristesse der Anstalt trifft den einzelnen mit völlig verschiedener Intensität. Für den Asozialen und den Vorbestraften, deren Eigenwert-Gefühle nicht vorhanden oder schon gebrochen sind, mag die Zelle unbequem, aber immerhin erträglich sein. Auf den Menschen, der bis dahin über sein Leben selbst bestimmte, wirkt der Einzug in die Zelle stets wie ein Schlag. Dabei ist es nicht so sehr die Unbequemlichkeit als vielmehr der mit dem Gitterfenster und dem Abortkübel nun einmal verbundene Angriff auf die Menschenwürde, der so fatal wirkt.

Noch immer gibt es in der Bundesrepublik den Eisenbahntransport in Gruppen, den das Land Preußen mit Verordnung vom 8. Dezember 1906 einführte, nachdem bis dahin die Verhafteten - mit dem Riemen an den Steigbügel des Gendarmen gefesselt - im Fußmarsch verlegt wurden.

Unter dem Datum vom 11. Juni 1955 trug beispielsweise der hannoversche Verwaltungsamtmann Voigt in sein Revisionsbuch ein: »Am Sonnabend kontrollierte ich den 15.27 Uhr aus Richtung Hamburg kommenden Sammeltransport auf dem Hauptbahnhof. Abgesehen davon, daß um diese Zeit die Bahnsteige von Reisenden geradezu überflutet waren, und der seltsame Zug von Gefangenen - es waren 23 Transportaten, von ihnen waren sechs zusammengeschlossen, zwei trugen Sträflingskleidung - an sich schon stärkstem Interesse begegnete, zog er die Aufmerksamkeit der Reisenden aus besonderem Anlaß auf sich.

»Am Schluß trugen nämlich zwei Transportaten auf verschlungenen Händen einen Transportaten, dem beide Beine fehlten (Oberschenkelamputation). Den Abschluß bildete ein Transportat, der die beiden künstlichen Beine des getragenen Mannes trug. Die künstlichen Glieder, die mit Strümpfen und Schuhen versehen waren, wirkten grotesk. Der ganze Zug wurde eskortiert von etwa zehn uniformierten Justiz - und Polizeibeamten.«

Der Verwaltungsamtmann kommentierte später: »Auch sonst ist das 'Verladen' von Menschen ein unerfreuliches Bild. Das Gewimmel, das heute auf jedem Großbahnhof herrscht, bedeutet für die zu transportierenden Gefangenen eine schwere Belastung.«

Wieviel Geld die Länder auch in ihren Haftvollzug noch investieren mögen, lediglich die schlimmsten Auswüchse lassen sich in absehbarer Zeit beseitigen: Zellenomnibusse statt Eisenbahntransport. Spulklosetts statt Kübel. Der penetrante Gefängnisgeruch wird aus den Zellenburgen nicht weichen. Auf den Gängen werden die gleichen naturgemäß auf den Verbrecher eingestellten Vollzugsbeamten patrouillieren.

Wer unschuldig einsitzen muß oder wer doch jedenfalls nicht so schuldig ist, daß ein Gericht ihn später zu Freiheitsentzug verurteilen mag, wird geschädigt: mitunter sogar körperlich, häufiger psychisch und stets in seinem Vertrauen auf Polizei und Justiz. Der Hamburger Professor Rudolf Sieverts bezeichnet diese letzte Folge der ungerechtfertigten Untersuchungshaft als Verletzung des Rechtsstaats-Bewußtseins.

Sieverts kommt in einer kriminalpsychologischen Untersuchung zu dem Schluß, bei dazu veranlagten Gefangenen können diese Erlebnisse ... die Anfänge zur Hypochondrie des Rechtsgefühls ... und zu den pathologischen Formen des Querulantentums schaffen"*.

Wie unbescholtene Bürger empfinden, die das Pech hatten, mit dem Haftvollzug bekannt gemacht zu werden, dafür gibt es Belege - viele davon in den Krankenakten der Psychiater.

Eine Lehrerin: »Ich wurde drei Wochen in Einzelhaft behalten ... Früher harmlos in jeder Art, bin ich jetzt voll zynischer Anschauungen und sehe mit den Augen einer Unterdrückten voll inneren Zornes ... Oft befallen mich Weinkrisen, die stundenlang dauern ...«

Ein Schauspieler und Regisseur nach fünf Wochen: »Ich lebte nach der Haftentlassung in steter Furcht und Angst, wenn auch unbegründet. Und noch heute hält das widerliche Erlebnis mich befangen.«

Ein Zigarrenhändler: »Ich bin durch die Haft so nervös geworden, daß ich, wenn ich wieder daran denke, furchtbar gereizt bin und alles Bestehende umstürzen könnte.«

Dauert die Untersuchungshaft länger, so kumulieren beim Haftungewohnten die Depressionen und Zwangsvorstellungen - »Knastmeise«, »Knastmauke« - nicht selten in jener Explosion, die eingefahrene Vollzugsbeamte »Zuchthausknall« nennen: Der Gefangene tobt, häufig aus nichtigstem Anlaß.

Die Folge ist die »Beruhigungszelle«. Hält die Renitenz an, die es erfahrungsgemäß beim Kriminellen fast nie gibt, so beginnt sich - von der Anstalt veranlaßt, vom Richter bedient - die Schraube der Hausstrafen zu drehen: bis zum »Arrest mit hartem Lager«. Das »harte Lager« stellt sich in Hamburgs Anstalt Holstenglacis beispielsweise als Holzkiste mit riesigem festem Kopfkeil dar, der zum Sitzen zu flach und zum Liegen zu steil ist.

So hilflos der Häftling der Vollzugsordnung gegenüber ist, so wehrlos ist er im Grunde gegen die Untersuchungshaft überhaupt.

Zwar hat der Gesetzgeber nicht nur die Voraussetzungen eng gehalten. Er stellte in bester Absicht auch einen fast überreichen Katalog von Rechtsbehelfen gegen die Haft zur Verfügung:

- Der Gefangene kann beantragen, daß mündlich über den Haftbefehl verhandelt wird; die Verhandlung muß spätestens eine Woche nach Eingang des Antrags anberaumt werden (Paragraph 114 d StPO).

- Der Beschuldigte kann auch mit der sogenannten Beschwerde gegen den Haftbefehl vorgehen, über die dann das nächsthöhere Gericht entscheidet, freilich nur nach Aktenlage und ohne mündliche Verhandlung (Paragraphen 115, 304, 309 StPO).

- Er kann schließlich, nachdem das Landgericht seine Beschwerde abgewiesen hat, eine weitere Beschwerde an das Oberlandesgericht richten (Paragraph 310 StPO).

- Unabhängig von der Initiative des Gefangenen hat das Haftgericht von Zeit zu Zeit im Haftprüfungsverfahren festzustellen, ob die Haftvoraussetzungen noch bestehen, erstmalig nach einem Monat, dann spätestens alle drei Monate (Paragraph 115 a StPO).

Von allen diesen Schutzvorschriften pflegt der Untersuchungshäftling jedoch nur selten einmal zu profitieren. Die mündliche Verhandlung nützt ihm regelmäßig schon deshalb nichts, weil diese »Verhandlung« vor demselben Richter stattfindet, der wenige Tage zuvor den Haftbefehl erlassen hat. Weder der Häftling noch sein Anwalt kennen die Akten. Sie können zur Entlastung wenig vortragen, da sie nicht wissen, auf welche Beweismittel, Urkunden und Zeugenaussagen sich die polizeilichen Vermutungen stützen könnten.

Was für die mündliche Verhandlung gilt, trifft sinngemäß auch für die obligatorischen Haftprüfungstermine zu. Der Häftling kann bestenfalls hoffen, daß der Richter während der abgelaufenen Wochen seine Meinung über den Wert der polizeilichen Angaben geändert hat.

Die Haftbeschwerde ist demgegenüber zwar aussichtsreicher - aber auch riskanter. Ihre einzig sichere Wirkung ist nämlich, wie Anwalt Dahs es ausdrückt, »die vorläufige Beendigung der Ermittlungsarbeit und die außerordentliche Verzögerung des Verfahrens auf beträchtliche Zeit«.

Die Strafkammer fordert von der ermittelnden Staatsanwaltschaft die Akten an, in die sich dann der Vorsitzende und sein Berichterstatter einarbeiten. Das alles erfordert Zeit. Die Ermittlungen ruhen - und die Untersuchungshaft verlängert sich.

Noch zweischneidiger ist die weitere Beschwerde. Zwar haben die westdeutschen Oberlandesgerichte in den letzten Jahren zahlreiche Haftbefehle wegen ihrer ungenügenden Begründung aufgehoben. Die weitere Beschwerde verdoppelt aber naturgemäß auch den Zeitverlust und erhöht so wiederum die Belastung des Häftlings.

Längst haben sich die Anwälte deshalb angewöhnt, nur noch in Sonderfällen Beschwerde einzulegen. Normalerweise dringen sie bei der Staatsanwaltschaft im kurzgeschlossenen Dienstweg auf Beschleunigung der Ermittlungen und anerkennen damit mittelbar, daß ihr Klient auf die Gnade der Verfolgungsbehörde angewiesen ist.

Tatsächlich ist es so, daß ein Untersuchungsgefangener, der mit einem Bewährungsurteil oder mit Geldstrafe rechnen kann, durchweg schlecht beraten ist, wenn er von dem Instanzenzug Gebrauch macht, den ihm das Gesetz offeriert. Er setzt sich dann nämlich der Gefahr aus, länger als notwendig im Gefängnis zu sitzen, weil er im Urteil nicht kompensiert werden kann.

Die Frage, Haftbeschwerde oder nicht, stellt sich deshalb gerade in den Fällen am dringendsten, wo einerseits Freispruch oder allenfalls geringe Bestrafung höchstwahrscheinlich, andererseits aber - aus eben diesem Grunde - die Verhängung der Untersuchungshaft auch besonders anfechtbar ist.

Noch eine weitere Überlegung mag den Untersuchungsgefangenen veranlassen, auf seine Rechtsmittel zu verzichten. Fraglos gibt es - freilich schwer beweisbare - Zusammenhänge zwischen der Dauer der Untersuchungshaft und der Länge des Freiheitsentzuges, den das Gericht später verfügt: Die Freiheitsstrafe wird mit Vorliebe so bemessen, daß die schon abgerissene Haftzeit zumindest gedeckt ist.

Urteile, wie das des Bundesgerichtshofes, der kürzlich einen gewissen Waldemar Jende wegen landesverräterischer Beziehungen nach elfmonatiger Untersuchungshaft mit nur neun Monaten Gefängnis bestrafte, sind eine Ausnahme. Viel häufiger ist, daß die angeblich allein am Maß der individuellen Schuld orientierte Strafe auf wundersame Weise mit jener Zeit übereinstimmt, die von Polizei und Staatsanwaltschaft für die Ermittlungen aufgewendet wurde.

Das Schwurgericht Flensburg warf beispielsweise für den ehemaligen Schleswiger FDP-Ratsherrn Martin Fellenz, dem die Tötung etlicher tausend Juden und vier persönliche Morde vorgeworfen waren, wegen Beihilfe zum Mord in zwei Fällen je drei Jahre Zuchthaus aus. Sodann zog es die Strafe zu vier Jahren Zuchthaus zusammen, erkannte, daß die Untersuchungshaft voll angerechnet werde, und hob sofort den Haftbefehl auf: es bestehe keine Fluchtgefahr mehr.

In der Tat, das Strafmaß war so sorgfältig ausgewogen, daß der einstige SS-Sturmbannführer noch einen Monat absitzen mußte. Er konnte nämlich - und der Vorsitzende wies darauf schon in der Urteilsbegründung hin - nach Verbüßung von zwei Dritteln seiner 48 Monate Zuchthaus, also nach 32 Monaten, zur Bewährung entlassen werden. Genau 31 Monate hatte Fellenz in Untersuchungshaft verbracht.

Das Gericht beabsichtigte anscheinend, nur gerade noch die zweieinhalb Jahre Haft abzudecken. Wäre Fellenz länger inhaftiert gewesen; so hätte sich das Strafmaß offenbar erhöht - und umgekehrt. Diesen Eindruck jedenfalls vermittelte die kunstvolle Saldierung am Schluß der Urteilsbegründung. Das Urteil ist mittlerweile vom Bundesgerichtshof aufgehoben worden.

Schlechterdings maßstabgerecht wurde im Januar dieses Jahres der Waffenhändler Ernst-Wilhelm Springer vom Landgericht Kiel bedient. Der internationale Geschäftsmann erhielt wegen »fortgesetzten Verstoßes gegen das Sprengstoff- und Waffengesetz« sieben Monate und zwei Wochen Gefängnis. Die Frage, wie das Gericht bei dem unklaren Sachverhalt und der ebenso vagen Schuld die »gerechte Strafe« so akkurat bemessen konnte, läßt sich wohl nur durch den beantworten, der sich die Mühe macht, Springers U-Haft-Tage zu addieren: Der Waffenhändler hatte sieben Monate und 27 Tage in der Zelle gehockt.

Am kompromittierendsten für die Justiz sind die Fälle, in denen das erkennende Gericht selbst die Haft verlängerte - und sich dann später schier verzweifelt mühen muß, eine Strafe zu begründen, die der Haftdauer entspricht. Das Beispiele des Jahres 1963 lieferte das Landgericht Kempten.

Die Strafkammer hatte zweimal Anträge des aus dem Untersuchungsgefängnis vorgeführten, des Betrugs und der Untreue bezichtigten ehemaligen Kemptener Sparkassendirektors Gäßler auf Haftentlassung abgelehnt, weil bei Gäßler »mit Rücksicht auf die Höhe der zu erwartenden Strafe« Fluchtverdacht bestehe. Nicht einmal ein Kautionsangebot in Höhe von 250 000 Mark vermochte die Richter umzustimmen.

In der wochenlangen Hauptverhandlung stellte sich dann heraus, daß Gäßler den Geschäftsbetrieb seines Instituts auf recht unorthodoxe Weise erweitert hatte, daß er aber - wie der Staatsanwalt am Ende selbst einräumte - »keinen Pfennig unrechtmäßig in die eigene Tasche steckte«.

Die Allgäuer Landgerichtsräte verdonnerten Gäßler in einem juristischen Kraftakt zu zwölf Monaten Gefängnis - »wegen Betrugs zum Nachteil Von fünf Aktienverkäufern«. Der Sparkassendirektor hatte bereits 401 Tage gesessen.

Nach dieser ausgewogenen Leistung

- 365 Straftage als Äquivalent für 401 Hafttage - fragte die Münchner »Süddeutsche Zeitung": »Besitzt ein Angeklagter noch die reelle Chance, zu seinem Recht zu kommen, wenn ihm das gleiche Gericht schon vor der Verhandlung, verbunden mit der Aufrechterhaltung der Haft, eine saftige Strafe angekündigt hat?«

Kommentator Müller-Meiningen jr. antwortete sich selbst: »Er müßte sie erwarten können, gewiß, aber es gibt da eine gefährliche Eigengesetzlichkeit des Prestigedenkens.«

So schließt sich der Kreis: Weil angeblich eine hohe Strafe droht, ist der Fluchtverdacht begründet und wird verhaftet. Und wenn die Haft lange dauerte, wird der Freispruch seltener und fällt die Strafe höher aus.

Die Automatik arbeitet ebenso lautlos wie beständig, vor Einzelrichtern, Schöffengerichten, Strafkammern. Die Polizei beschickt die Haft-Zentrifuge der Justiz. Und anonyme Opfer bezahlen den Eifer mit Monaten verlorener Freiheit und schließlich sogar noch mit der - indirekten - Verkürzung ihrer Rechtsmittel.

Die Verlustliste der Gerechtigkeit ist geheim. Sie ist aber Mindestens so lang wie die der Verkehrstoten.

Nur die Länder Nordrhein-Westfalen und Bayern führen über die absolute Zahl der Haftbefehle Buch. Im Jahre 1959 wurden dort 24 735 Personen in U-Haft genommen. Setzt man diese Länder - für Westdeutschland soziologische Pole - als repräsentativ, so werden in der Bundesrepublik pro Jahr durchschnittlich 50 000 Haftbefehle vollstreckt.

Die Berechnung der Fehlleistungsquote basiert auf der Jahresbilanz eines einzelnen Landes. Niedersachsens Justiz erließ im Laufe des Jahres 1959 Haftbefehle gegen insgesamt 6105 Personen. Gegen nicht weniger als 1396 wurde das Verfahren nicht zu Ende geführt (meist eingestellt) oder das Urteil lautete nur auf Geldstrafe oder der Richter ordnete »Aussetzung zur Bewährung« an; 137 wurden glatt freigesprochen, und 249 erhielten Strafen, die kürzer waren als die Dauer der bereits vollstreckten U-Haft.

Ungedeckte oder nicht völlig gedeckte Verhaftungen mithin: 1782 von 6105. Das sind knapp 30 Prozent.

Da das Bauernland Niedersachsen allenfalls seltener verhaftet als andere Bundesländer, so müssen sich unter den 50 000 Haftbefehlen, die Westdeutschlands Justiz jährlich produziert, wenigsteng 15 000 befinden, die den Grundsatz verletzen, daß kein Strafübel ohne Urteil auferlegt werden darf.

Schließlich: Nach einer Untersuchung aus dem Jahre 1960 dauert die Untersuchungshaft in der Bundesrepublik durchschnittlich 71 Tage, wenn das, ganze Verfahren berücksichtigt wird, und 45 Tage, wenn nur das sogenannte Vorverfahren, die Zeit der Ermittlungen, Anrechnung findet*. Die durchschnittliche Dauer der Fehlverhaftungen dürfte indes noch etwas unter dem allgemeinen Schnitt des Vorverfahrens liegen.

Das Ergebnis ist dennoch tragisch genug: Wenn jeder der 15 000 Bundesbürger, die Jahr für Jahr durch den Haftrichter, nicht aber auch durch den Tatrichter ins Gefängnis gesteckt werden, nur 30 Tage absitzt, so sind das 450 000 Tage oder 15 000 Monate oder 1250 - verlorene - Jahre.

Nun ist freilich nicht jede Untersuchungshaft, die nicht oder nicht voll durch ein freiheitsentziehendes Urteil gedeckt wird, schon rechtswidrig. Sie ist aber - mit wenigen Ausnahmen - ungerechtfertigt. Die Riesenzahl der später nicht gerechtfertigten Verhaftungen allein genügt als Nachweis, daß zu leichtfertig mit der Freiheit der Rechtsunterworfenen umgesprungen wird.

Umgekehrt sind ungezählte Haftbefehle schon formal fehlerhaft, mit Sicherheit beruhen über die Hälfte auf illegalen Haftzwecken. Diese Haftbefehle werden nicht dadurch etwa rechtmäßig, daß der Betroffene später tatsächlich zu einer adäquaten Freiheitsstrafe verurteilt wird.

Stellt sich mithin die ganze deutsche Haftpraxis als Reservation dar, in der stillschweigend die Inquisition konserviert wird, so hat es der moderne Gesetzgeber zu allem hin auch noch versäumt, die Folgen von Fehlverhaftungen wenigstens wirtschaftlich auszugleichen: Ein Drittel aller Häftlinge sitzt länger als durch das spätere Urteil gerechtfertigt ist, aber nur etwa jeder hundertste hat die Chance, vom Fiskus für den Freiheitsverlust entschädigt zu werden.

Die Ersatzpflicht regelt sich nach dem »Gesetz betreffend die Entschädigung für unschuldig erlittene Untersuchungshaft« aus dem Jahre 1904. Voraussetzung für den - auf 75 000 Mark beschränkten - Anspruch ist, daß der Angeklagte »wegen erwiesener Unschuld« freigesprochen wurde.

Ein Freispruch »mangels Beweises«, wie ihn die Gerichte gerade nach langen Haftzeiten mit Vorliebe absetzen, genügt nicht.

In den nach der niedersächsischen Modell-Statistik so zahlreichen Fällen der »Freisetzung« des Beschuldigten (ohne daß es überhaupt zu einer Anklage kommt) gibt es allenfalls dann Schadensersatz, wenn der Nachweis gelingt, es habe niemals »ein begründeter Verdacht« vorgelegen. Diesen Nachweis

aber kann der Freigesetzte kaum jemals fuhren, weil kein Gericht seine Entlastungszeugen gehört und seine Belastungszeugen zum Eid gezwungen hat. Die Entscheidung über sein Schadensersatz-Begehren erfolgt daher notwendigerweise nach Lage der Akten, jener Akten nämlich, auf die sich seinerzeit die Verhaftung wegen »dringenden Tatverdachts« stützte.

Daneben hat der entlassene Häftling allenfalls noch die Möglichkeit, den Fiskus zivilrechtlich in Anspruch zu nehmen: Wenn er dartun kann, daß ein Beamter im Zusammenhang mit der Verhaftung seine Amtspflicht verletzte (Art. 34 Grundgesetz und Paragraph 839 BGB). Dieser zivilrechtliche Anspruch ist der Höhe nach unbegrenzt.

Freilich kann sich kaum ein deutscher Anwalt rühmen, je einen Amtshaftungsanspruch wegen fehlerhaft angeordneter Untersuchungshaft durchgezogen zu haben. Er hätte dem - seinerzeit von der Polizei informierten - Haftrichter nämlich mindestens Fahrlässigkeit nachweisen müssen, ein Unterfangen, dem die Obergerichte aus naheliegenden Gründen skeptisch gegenüberstehen.

Anwalt Schmidt-Leichner fand denn auch wenig Echo bei den Kollegen, als er 1959 in der »Neuen Juristischen Wochenschrift« per Grundsatzreferat aufforderte, dem »Unrecht der Untersuchungshaft« auch »über den Weg der Amtshaftungsklage entgegenzutreten ... nicht um der Strafrechtspflege, die in mancher Hinsicht einer Stärkung bedarf, zu schaden, sondern um der Gerechtigkeit zu dienen«.

Dem »Unrecht der Untersuchungshaft«, vor dem schon Generationen deutscher Anwälte resignierten, will nunmehr - wieder einmal - der Gesetzgeber entgegenwirken. Seit über drei Jahren wandert der »Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Strafprozeßordnung und des Gerichtsverfassungsgesetzes« in Bonn zwischen Rechtsausschuß, Plenum, Bundesrat und Regierung. Alle Beteiligten sind sich darüber einig, es sei »sicherzustellen, daß die Untersuchungshaft nur ausnahmsweise und nur, soweit sie wirklich notwendig ist, angeordnet wird« (Bundestags -Berichterstatter Dr. Kanka).

Es ist schon fast selbstverständlich, daß sich auch diese Novelle sprachlich um weitere Objektivierung der Haftgründe müht. Künftig soll nicht mehr »die Befürchtung« genügen, daß der Beschuldigte fliehen werde. Es muß »aufgrund bestimmter Tatsachen ... die Gefahr« bestehen, daß er sich dem Strafverfahren entzieht.

In ähnlicher Weise soll auch aus dem Haftgrund »Verdunklungsgefahr« Nebenluft abgelassen werden: »Aufgrund bestimmter Tatsachen« muß »die Absicht des Beschuldigten erkennbar sein«, zu verdunkeln. Gegenwärtig genügen noch »bestimmte Tatsachen«, welche »die Gefahr« des Verdunkelns »begründen«.

Die mit Abstand wichtigste Änderung der Novelle wäre freilich der sogenannte Verhältnismäßigkeits-Grundsatz: Die Untersuchungshaft darf nicht angeordnet werden wenn ohne weiteres feststeht, daß »sie zu ddr Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe ... außer Verhältnis steht«.

Dazu: »Ist die Tat nur mit Gefängnis bis zu sechs Monaten, mit Haft oder mit Geldstrafe ... bedroht, so darf Untersuchungshaft nicht angeordnet werden.«

Ferner wird dem Richter auferlegt, die Gründe seiner Maßnahme im Haftbefehl ausführlich darzulegen. Den Vollzug des - ausgefertigten - Haftbefehls soll er aussetzen, wenn sich der Haftzweck auch durch »weniger einschneidende Maßnahmen« erreichen läßt: etwa durch die Auflage, sich regelmäßig zu melden, oder durch Sicherheitsleistung.

Schließlich allerdings sieht die »Kleine Strafprozeß-Novelle« auch noch ein Zugeständnis an die Wünsche der Praktiker und gleichzeitig an die öffentliche Meinung vor. »Um dem Aufkommen apokrypher Haftgründe entgegenzuwirken«, beschloß der Rechtsausschuß die Aufnahme zweier zusätzlicher Haftgründe. Untersuchungshaft soll in Zukunft - außer bei Flucht- und Verdunkelungsgefahr - auch angeordnet werden dürfen,

- wenn »bestimmte Tatsachen die Gefahr begründen«, daß der eines schweren Sittlichkeitsverbrechens Beschuldigte seine Tat vor der Aburteilung wiederholen werde, und

- wenn dem Beschuldigten ein Verbrechen wider das Leben vorgeworfen ist.

Unbestreitbar wäre die Novelle geeignet, einige der schlimmsten Ausuferungen der westdeutschen Haftpraxis einzudämmen: Untersuchungshaft wegen Zechprellerei würde undenkbar werden. Sogar die beiden neuen Haftgründe könnten - mit Vorbehalten - akzeptiert werden.

Aber auch der Sinn der gegenwärtig gültigen Haftbestimmungen, ist unmißverständlich. Und dennoch konnte Dr. Fritz Bauer, Westdeutschlands freimütigster Generalstaatsanwalt, unwidersprochen sagen, alle Versuche des Gesetzgebers, den deutschen Haft-Elan zu bremsen, seien »verlorene Freiheitsmüh« gewesen: »Weshalb kommen denn andere Länder mit viel weniger Verhaftungen aus, ohne daß die Rechtspflege sichtbar darunter leidet?«

Der Vergleich mit anderen Rechtsordnungen ist in der Tat aufschlußreich. Er führt nämlich zu dem überraschenden Ergebnis,

- daß die Untersuchungshaft in allen westlichen Rechtsordnungen nahezu gleich geregelt ist, die Haftgründe mehr oder minder identisch sind, ja daß die Bundesrepublik sogar schon heute den Beschuldigten formal am wortreichsten schützt,

- daß aber dennoch die Haftfrequenzen in den einzelnen Ländern so verschieden sind, wie die Effektivität der Verbrechensbekämpfung ähnlich ist.

Offenbar kommt es viel weniger auf den Gesetzestext als vielmehr auf den Geist der Haftrichter an: auf die Bewertung nämlich, die von der Justiz den Staatsinteressen im Verhältnis zu den Individualinteressen zuteil wird.

In Frankreich beispielsweise wird gegenwärtig sicherlich noch häufiger aus vom Haftrecht nicht gedeckten Gründen verhaftet als in der Bundesrepublik, in Norwegen etwa gleich häufig. In der Schweiz und in Dänemark dagegen seltener. In England etwa ebenso häufig wie in der Schweiz und in Dänemark, freilich sind die Haftzeiten durchweg viel kürzer. Mit Abstand die niedrigste Haftquote, weist Schweden auf.

Norwegen, Dänemark und Schweden divergieren bei nahezu gleicher Rechts lage, ähnlichen soziologischen Verhältnissen und einer verwandten Geschichte in schier grotesker Weise. Das geht aus einer in Deutschland kaum bekannten statistischen Untersuchung über »Festnahme und Verhaftung« hervor, die der norwegische Jurist Bratholm anstellte*.

In den Jahren 1950 bis 1952 war der Haftprozentsatz für Oslo doppelt so hoch wie für die benachbarte Hauptstadt Kopenhagen. Im Landesdurchschnitt lag Norwegen um etwa 25 Prozent über Dänemark. Gleichzeitig aber lag es - immer bezogen auf die Verurteilungen

- um etwa 300 Prozent über Schweden.

In Oslo wird gar fünfmal so häufig verhaftet wie in Stockholm.

Dabei sind in Schweden die Festnahme- und Vernehmungs-Rechte der Polizei eher umfassender als in Norwegen. Sie sind sicherlich weiter als in der Bundesrepublik. Das schwedische Recht kennt auch nicht die Entlassung aus der Untersuchungshaft gegen Sicherheitsleistung, jenen Rechtsbehelf, dem die angelsächsischen Länder in erster Linie ihre niedrigen Haftzeiten danken.

Freilich ist das Königreich an der Ostsee auch allen übrigen westlichen Ländern gegenüber in einer besonders glücklichen Lage. Unter seinem Hofgerichtspräsidenten und zeitweiligen Justizminister Karl Schlyter brach es während der letzten 30 Jahre rigoros mit allen mittelalterlichen Relikten im Strafrecht. Schlyter gelang das Kunststück, nicht nur die Paragraphen, sondern auch das Denken der schwedischen Richterschaft zu evolutionieren.

Die deutsche Justiz aber hat zwar innerhalb eines Menschenalters dreimal - 1918, 1933 und 1945 - ihr staatsrechtliches Fundament unter den Füßen verloren, die Pickelhaube der Obrigkeit stülpte sie sich nur immer fester auf den Kopf. In jenem - in der Demokratie an sich begriffsnotwendig fiktiven - Widerstreit zwischen Staatsbelangen und Bürgerinteressen agiert das Haftrichterkorps traditionell so, als läge es an ihm, die liberalen Torheiten des Gesetzgebers auszubügeln.

So sind denn auch die Hoffungen gering, der Reibungsverlust der deutschen Gerechtigkeit werde mit der Strafprozeß-Novelle schwinden.

Zu den legislatorischen Bemühungen

erklärte der »Deutsche Richterbund« schon im vorhinein: »Das Prinzip der Wahrheitsforschung ist das sicherste Mittel, den wirklich Schuldigen von dem Unschuldigen zu unterscheiden, und dabei läßt sich ein weitgehender Eingriff in die Persönlichkeitssphäre des Beschuldigten nicht vermeiden.«

* Rudolf Sieverts: »Die Wirkungen der

Freiheitsstrafe und Untersuchungshaft auf die Psyche der Gefangenen«; J. Bensheimer, Mannheim/Berlin/Leipzig.

* Kurt-Lennart Ritter: »Der praktische Gang der Strafrechtspflege«, Kriminologische Untersuchungen, Heft 9. Ludwig Röhrscheid Verlag; Bonn.

* Anders Bratholm: »Pagripelse og varetektsfengsel«, mit deutscher Zusammenfassung von Dr. jur. Friedrich Geerds, Kiel; Universitetsforlaget, Oslo; 1957.

Untersuchungsgefängnis Holstenglacis in Hamburg: 1000 verlorene Jahre ...

Haftzelle, Fensterseite

... zwischen Klappbett ...

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... und Klosett

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Simplicissimus (1904)

»Daß Sie den Redaktär dreiviertel Jahr in Untersuchungshaft behalten, haben? Die Freisprechung war doch eigendlich vorauszusäh'n?« - »Ämdesweg'n, ämdesweg'n, Herr Colleje, jetz' had der Lumich zuwenigstens seine Schtrafe weg!«

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