EIN STAATSANWALT MUSS SCHLAFEN KÖNNEN (original) (raw)

Anschließend hat er sich korrigiert. Es sei »seine persönliche Überzeugung«, daß in Gegenwart Kramers über den Fall Haase gesprochen worden ist.

Kramers leitender Beamter in der Gefängnisbehörde, der Regierungsdirektor Erich Sinke, 57, nimmt Platz. Er ist wohl von Oesterreich unterrichtet worden, an ein persönliches Gespräch allerdings erinnert er sich nicht. »Es ist aber möglich, daß er mich telephonisch informiert hat.« Ja, es muß das Telephon gewesen sein. Strafrechtliche Akzente habe die Sache Haase, damals, als sie akut war, nicht gehabt. Sinke ist der Ansicht, es werde heute in diese Geschichte projiziert, was bis heute aus ihr geworden sei.

Der zweite Tag endet unter dem deprimierenden Eindruck der Aussage Oesterreichs. Und damit, daß sich Sinke noch einmal meldet: Er hat Kramer nichts nachsagen wollen. »Ich habe zu Herrn Senator gesagt, daß ich daraus, daß er sich nicht erinnern kann, annehme, daß ich vergaß, ihm zu berichten.« Neue Fragen, Sinke, erschöpft: »Ich weiß es überhaupt nicht. Ich weiß nicht, ob ich es gesagt habe.«

Dritter Tag, Dschungel sprießt mitten in Hamburgs Ratsgehege. Oesterreich hat - »in eigener Sache« der Anstalt, der ihm unterstellten Beamten - nur ermittelt, weil die Staatsanwaltschaft drängte. Er konnte sich »nicht wehren«. Auch ist in anderen, ähnlichen Fällen genauso ermittelt worden. Aktenvermerke? »In unserem Hause müssen oft unter Umständen in Sekundenschnelle Entscheidungen getroffen werden.«

Und wieder Sinke: Ob es üblich gewesen sei, für besondere Maßnahmen gegenüber Häftlingen, etwa die Verbringung in die »Glocke«, die richterliche Anordnung oder die nachträgliche richterliche Zustimmung einzuholen. »Aus eigener Kenntnis weiß ich über die Praxis nichts.« Ob diese gesetzliche Bestimmung befolgt wurde, hat Sinke nicht geprüft, er sah »das als selbstverständlich an«. »Ich kann doch nicht die Einhaltung jeder Vorschrift kontrollieren.« Im Fall Haase lag keine richterliche Zustimmung vor, sie wurde auch nicht nachträglich eingeh... (Text nicht lesbar).

»Hunderte« von Anzeigen gegen Beamte bekommt Sinke, da muß natürlich »gesiebt« werden. In schweren Fällen ermittelt die Staatsanwaltschaft, doch muß andererseits die Anstalt selbst erst einmal erkunden, ob an der Beschuldigung etwas dran ist. »Ungeschickt« sei man im Fall Haase vorgegangen, doch nicht »ungesetzlich«.

Vierte Sitzung, das Tempo zum Ende hin wird beängstigend. Oberstaatsanwalt Gerhard Herrmann, 64, Abteilungsleiter bei der Staatsanwaltschaft am Landgericht Hamburg. »Einer hat Münzen ... Und ich habe die Leichensachen.« »Es ist meines Erachtens zuviel Anfall, aber dafür kann ich auch nichts ...« Jeden Mittag bekommt er »eine Mappe mit Leichensachen von der Polizei«. »Wenn ich recht erinnere, bin ich in der Weise befaßt worden, daß ...« Hauptkommissar Handke, Mordkommission, habe ihm gesagt: »Mit der Sache stimmt etwas nicht.« Der Mann sei geschlagen worden. Es gehe um eine Schwesterbehörde, ob da nicht bitte die Staatsanwaltschaft ermitteln wolle.

Sagte Herrmann zu Handke, daß er sich um den Todesfall im UG kümmern werde? »Ob ich gesagt habe, ja, ich mache die Sache, das kann sehr wohl sein ...«

»Jetzt habe ich mir«, so oder so, »gedanklich einen Ablauf gemacht, wie gehe ich jetzt vor.« Herrmann rief Oesterreich an - und der soll gesagt haben, er sei in der Sache schon tätig: »Wir wissen, es kommen acht Personen in Frage.« »Das geschah in so bestimmter Form«, meint Herrmann heute, daß er nicht weiter insistieren durfte. »Herr Oesterreich war doch im Begiff, die Sache für sich im Wege der Dienstaufsicht zu prüfen, da konnte ich ihm doch nicht dazwischenkommen.« Bedenken? Ja - nein - andererseits - doch - hinwiederum. Ein Ausschußmitglied: »Ich bitte Sie also zu sagen, hatten Sie Bedenken oder hatten Sie keine Bedenken?« »Ja, also das kann man jetzt -.«

Jedenfalls hielt er sich »für unbefugt«, Oesterreich »weitere Ermittlungen zu untersagen«, obwohl er auch anmerkt, klagend, ihm sei »der Anfang der Sache aus der Hand genommen worden«. Und die Protokolle, die er endlich vom UG erhielt, mit denen war natürlich nichts anzufangen. Trotzdem wollte er damals durchaus weiter recherchieren, nur war ja das Terrain erst einmal zugedeckt, nachdem die Beamten des UG bereits von anderen Beamten des UG gehört worden waren. Erst einmal mußte sich das alles setzen.

Während Herrmann in Urlaub war, ist die Sache Haase vom Vertreter sofort dem Leitenden Oberstaatsanwalt vorgelegt worden, ein Ausschußmitglied sieht darin einen Beleg dafür, daß man die Sache Haase sehr wohl für brandwichtig halten konnte. Herrmann über seine Urlaubsvertretung: »Der hat ja auch noch gar nicht in Leichensachen gearbeitet.« Und endlich platzt Herrmann heraus: Er hat nur verletzte Aufseher, aber keine Verurteilung eines Aufsehers in all seinen Dienstjahren erlebt.

Herrmann fordert den Ausschuß auf, sich in die Lage von Menschen zu versetzen, die Häftlinge zu beaufsichtigen haben. »Ich kann nur Gott danken, daß ich nicht Herrn Haase habe gegenübertreten müssen, ich wäre vielleicht auch zum Totschläger geworden.«

Fünfte Sitzung und ein Friedhof auf offener Bühne. Der Leitende Oberstaatsanwalt Heinrich Scholz, 61, fein, besonnen, offen. Im September 1964, während des Urlaubs von Herrmann, wurde ihm der Fall Haase vorgelegt. Er machte sofort eine Berichtssache aus ihm. Nur - ihm ist dann später nicht berichtet worden. Und das führt nicht nur tief hinein ins Listen- und Kontrollwesen der Strafverfolgungsbehörde. Das läßt auch die Überlastung, die so oft angerufene, einen weiteren Auftritt haben.

Scholz hat schon seit langem das Mittagessen ausgespart, er war seit Jahren nicht mehr im Theater oder Konzert. Er tut, was er kann, und sicher sogar mehr. Indessen sollte ein Leitender Oberstaatsanwalt in Ruhe schlafen können, um von Mittagessen, Konzert und Theater nicht erst zu reden. Der Untersuchungsausschuß ist nicht nur im fünften Akt, er ist auch an jenem Rand der Welt angelangt, an dem melancholische Karnevalsstimmung aufzukommen pflegt, weil eben doch nichts zu ändern ist. Oberstaatsanwalt Hans Thiemann, 55, kühl, souverän, nicht zuletzt in Zahlen. Die Last, die von der Staatsanwaltschaft bewältigt werden soll, türmt sich wie der Himalaja. 26 neue Herren sind im vergangenen Jahr bewilligt worden. Von 26 sind inzwischen 18 oder 19 da, während allerdings weitere schon wieder ausscheiden. Ein Ausschußmitglied plädiert für die Stellen bewilligende Bürgerschaft, denn sonst - »sind letztlich wir also schuld an dem ganzen Fall Haase«. Gelächter.

Pause für eine Pressekonferenz des Senats: Oesterreich ist seines Amtes entbunden worden. Der UG-Arzt Ewald Jessel ist Gegenstand disziplinarer Vorermittlungen.

Der Generalstaatsanwalt Ernst Buchholz, 60, zunächst hat auch er eine Salon-Intrige zu bestehen. Denn der Oberstaatsanwalt Herrmann hat inzwischen gewisse Erinnerungen an Gespräche beim Kaffee gehabt, nach denen Buchholz vielleicht doch schon Ende September, Anfang Oktober 1965 im Amt vom Fall Haase gehört hat und nicht erst am 15. Dezember 1965 durch einen Journalisten. Der General wird hinauskomplimentiert, Herrmann herein, der General kommt zurück, muß jedoch gleich wieder für Senator und Präses Kramer weichen, denn dessen Zug geht um 22.56 Uhr von Hamburg -Hauptbahnhof nach Bonn ab.

»War Ihnen die Praxis der Gefängnisbehörde bekannt, in eigener Sache zu ermitteln?« »Ich habe das mit Erschrecken der Presse entnommen. Mir ist unverständlich, wie so etwas geschehen konnte.« Hätte er nur gewußt, er hätte »abgestellt«.

Ein Ausschußmitglied erinnert Kramer an seine Vertrauenserklärung am ersten Tag, Diskussion, ob man ihn das fragen darf, die Frage bleibt schließlich. Der Senator und Präses findet eine elegante Antwort, doch in ihrem Witz kommt sie eher dem Umdrehen des Dolches in der eigenen Brust gleich: Kramer hat sich, als er vor seine Beamten trat, eine Rüge eingehandelt, »zu Recht«. »Ich möchte jetzt den Ausschußermittlungen nicht vorgreifen.« Er bezieht sich auf die Rüge, wie man nach einem Rettungsring greift.

Endlich Buchholz, voll Temperament, ein Freund der schönen Künste, der Literatur, wie Kramer im Ruf ungewöhnlicher Liberalität. Er hat nichts gewußt von Ernst Haase vor dem 15. Dezember 1965; als er von dem Todesfall erfuhr, hat er sich energisch und persönlich eingeschaltet. Die Sache hätte ihm vorgelegt werden müssen, unbedingt, sofort, sie ist für Buchholz einer der wichtigsten Fälle, der ihm je bekannt wurde. Wie es zu den Fehlleistungen gekommen ist?

Zwei Kategorien von Menschen kennt Buchholz in seiner Behörde. Beide gute Juristen, doch die eine Gruppe ist im Herkömmlichen befangen, will nicht das Nest beschmutzen. Diese Gruppe hat in der Sache Haase allzugern an Notwehr der Beamten geglaubt. Die andere Kategorie wird mißtrauisch, wittert die Gefahr, den möglichen Machtmißbrauch. Die zweite Gruppe wächst, wird stärker, versichert Buchholz.

Was kann man nicht alles unterschreiben von dem, was Buchholz sagt. Doch der Ausschuß ist im fünften Akt, der Vorhang fällt. Wenn je Verallgemeinerung traurige Pflicht war, dann hier. Ein, zwei, drei Personen, die jede für sich Fehler machen, Fehler, die schließlich schrecklich kulminieren, mögen schon einmal zusammentreffen. Doch im Fall Ernst Haase haben zu viele Amtspersonen Fehler gemacht, keiner brach die Kette, keiner trat aus dem Glied. Und wenn es einer tat, dann blieb er nicht am Ball. Wie sieht es aus in der Staatsanwaltschaft, wie in der Gefängnisbehörde? In Hamburg werden sie von Männern geleitet, unter deren Aufsicht alles zu erwarten wäre, nur nicht ein Fall Haase.

Sind Liberale keine strengen Dienstherren, brauchen sie zuviel Zeit für die Dinge, aus denen sie ihre Liberalität schöpfen? Wie kann ein Jurist mit soviel Gefühl für Politik wie Kramer auf zwei Hochzeiten agieren, in Bonn und Hamburg? Warum ist Buchholz' anerkannte, mutige Meinung von der Aufgabe der Staatsanwaltschaft von oben her noch nicht tiefer in die Ämter unter ihm gedrungen? Fast möchte man unstreitig verdienten Männern wie Kramer und Buchholz vorwerfen, daß sie nicht mit eisernem Besen regieren, wo sie sich nicht allein mit dem Vorbild durchsetzen können.

Ernst Haase, 5000 Blatt Ausschußprotokoll kamen diesmal zusammen, wird Hamburg noch lange beschäftigen. Daß der Fall Haase nur Hamburg angeht, sollte sich niemand einbilden. Dergleichen ist überall in der Bundesrepublik möglich.

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