Beste Leute (original) (raw)

Während der Mittagsrunde, gegen 13.30 Uhr, schloß Justizhauptwachtmeister Heinrich Koss die Zelle 1/85 des Hamburger Untersuchungsgefängnisses auf und »sah Herrn Haase in einer ... merkwürdig erscheinenden Haltung am Boden liegen. Er lag nicht, wie sonst immer, auf dem Holzrost, sondern seitlich auf dem Zementfußboden«.

Im September hatte Lindenau aus der Strafanstalt Bremerhaven an die Hamburger UG-Leitung geschrieben: Er habe »gesehen, als er (Haase) sich vor einem Beamten hinkniete und bettelte, bitte, bitte, nicht mehr schlagen«.

Als sich Wolfgang Lüders entschlossen hatte, den Briefschreiber anzuhören, war der längst aus der Haft entlassen und arbeitete auf einem Fischdampfer. Und als endlich, am 18. November, die Wasserschutzpolizei das Schiff »Hermann Ahlers« enterte, um Lindenau die Vorladung zur Vernehmung zu übergeben, war sie auf dem falschen Dampfer: Der Zeuge fuhr auf der »Stadt Herten«.

Dort erwischte ihn zwar zwei Tage später ein Polizist, doch statt -- wie besprochen -- zur Vernehmung, reiste der Seemann zu seiner Familie und vertröstete die Beamten auf seine Rückkehr nach der nächsten Reise. Polizeivermerk: »Das Schiff wird etwa 23 Tage in See bleiben.«

> Häftling Haase sei ohne die vorgeschriebene richterliche Zustimmung in die »Glocke« gesperrt worden; > die UG-Leitung habe, entgegen ihrer Pflicht, den Präses der Gefängnisbehörde (den damaligen Hamburger Bundessenator Kramer) nicht unterrichtet;

> die Vernehmungen der Strafvollzugsbeamten in eigener Sache seien ein »ernster Mißgriff« gewesen;

> Oberstaatsanwalt Herrmann habe »von Anfang an nicht energisch genug selbst ermittelt«, die Pflicht zur Aktenvorlage bei seinem Vorgesetzten verletzt und die Leichensache Haase zu spät als Ermittlungsverfahren führen lassen;

> der Leitende Oberstaatsanwalt Scholz habe versäumt, den Generalstaatsanwalt zu informieren;

> dem Assessor Lüders sei »die Diskrepanz zwischen den Zeugenaussagen und den ärztlichen Gutachten nicht aufgefallen«; er habe überdies »schleppend« gearbeitet.

Nach einer elf wöchigen Pause kam der elfköpfige Ausschuß, formiert aus allen Parteien der Hamburger Bürgerschaft, erneut zusammen und tagte fortan nahezu pausenlos -- mit einem neuen Vorsitzenden allerdings; denn Sozialdemokrat Schulz, 37, war unterdessen zum Justizsenator ernannt worden und mithin der Verlegenheit enthoben, die in der Hansestadt regierenden, letzlich für die Affäre verantwortlichen Parteifreunde attackieren zu müssen.

In zehn öffentlichen und etlichen internen Sitzungen erörterten die Parlamentarier -- fachkundig beraten von dem pensionierten Oberlandesgerichts-Senatspräsidenten Fritz Valentin -- rechtliche und praktische Details des Strafvollzugs, bis hin zu dem Umstand, daß in Hamburger Strafanstalten nur Häftlingen mit Hämorrhoiden Toilettenpapier bewilligt, allen anderen dagegen Zeitungspapier zugeteilt wird. Die Umstände aber, die den Tod des Gefangenen Haase begleitet hatten, gerieten dabei zur Nebensache.

Um so emsiger mühte sich nun die Staatsanwaltschaft, dem Gebot ihres Generals Buchholz gerecht zu werden. Sie vernahm Aufseher und Häftlinge, Verdächtige und Zeugen, und sie forderte weitere Gutachten an. Eins davon gab dem Skandal mehr Gewicht.

Professor Dr. Adolf Bleichert, Physiologe am Hamburger Universitätskrankenhaus Eppendorf, hatte errechnet, daß in der Beruhigungszelle »bis zum Tode des Gefangenen ... die Raumtemperatur ... sicher weit über 40 Grad Celsius, möglicherweise sogar bis auf 50 Grad Celsius angestiegen« war. »Die Verhältnisse entsprechen«, so erläuterte Bleichert, »etwa dem Wüstenklima zur Mittagszeit im Schatten.«

In diesem Klima hat Haase laut Bleichert »bei vorsichtiger Schätzung ... in den letzten 30 Stunden seines Lebens etwa neun Liter Wasser verloren«. Und da der Häftling während dieser Zeit höchstens drei Liter getrunken habe, ergebe sich allein aus dem »Wasserdefizit eine Gewichtsabnahme von fast zehn Prozent seines ursprünglichen Körpergewichtes«. Ein solcher Wasserverlust sei »für einen gesunden Menschen bereits die Grenze der Erträglichkeit«.

Des Professors Fazit: »Als Todesursache ist damit ein ursächlich durch die körperliche Mißhandlung und die ungünstigen klimatischen Verhältnisse in der Glocke bedingtes progredientes Kreislaufversagen anzusehen.« Oder anders: Knüppel und Hitze hatten Haase getötet.

Die Wüstenhitze, die offenkundig nicht erst während des Haase-Aufenthalts in der »Glocke« waberte, war dem UG-Chef, Oberregierungsrat Bodo Oesterreich, wie auch den beiden Anstaltsärzten, Dr. Mendel Friedland und Dr. Ewald Jessel, entgangen. Dabei war Psychiater Jessel noch einen Tag vor Haases Tod in der Beruhigungszelle gewesen. »Die Frage«, ob er »am 29. 6. 1964 die gefährlich hohe Temperatur bemerken konnte, muß ... nach meiner Meinung voll bejaht werden« (Bleichert).

Hamburgs Ankläger jedoch verneinten das. Wohl fertigte der letzte Sachbearbeiter im Fall Haase, Staatsanwalt Rolf Borchers, einen Anklageentwurf gegen den UG-Chef und die beiden Ärzte. Doch nach Beratung mit etlichen Vorgesetzten wurde daraus am 17. Mai dieses Jahres eine Einstellungsverfügung.

Nach Auffassung der Staatsanwaltschaft

> »braucht Dr. Jessel nicht bemerkt zu haben, daß die Beruhigungszelle überheizt war«;

> durfte Anstaltsleiter Oesterreich »darauf vertrauen, daß die Techniker der Bauabteilung der Gefängnisbehörde die Beruhigungszelle so eingerichtet hatten, daß sie keine Gefahrenquelle bildete«;

> gehörte es »grundsätzlich nicht« zu Mediziner Friedlands »Aufgaben, sich darum zu kümmern, daß in der Beruhigungszelle richtig geheizt wurde«.

Der Chef des Untersuchungsgefängnisses ist entschuldigt, seine Ärzte trifft kein Vorwurf, die Beamten wissen von nichts. Die Kriminalpolizei hat keine »Anhaltspunkte für ein fremdes Verschulden« entdeckt, und die Staatsanwaltschaft hat die Angelegenheit von manchen Seiten beleuchtet, ohne daß ihr ein Licht aufging. Den Häftling Ernst Haase hat, wie es scheint, jener unbekannte Dritte getötet, über den Kriminalpolizisten und Staatsanwälte sonst wissend lächeln. Der Mann, die Männer, die ihn vor drei Jahren zu Tode gepeinigt haben -- sie machen wie stets ihre Runde im Hamburger Untersuchungsgefängnis, spähen in die Zellen, werfen einen Blick auf den jeweiligen Bösewicht in der »Glocke«.

Hilfsweise soll der Hauptwachtmeister Heinrich Hiller aus dem UG daran glauben. Er war von einem Kollegen, der mit dem glücklosen Assessor Lüders verwandt ist, belastet worden -- angeblich hat der Beamte den Gefangenen Haase fünf Tage vor dessen Tod in die Rippen getreten. Doch schon vor der Verhandlung in diesem Monat steht fest, daß Haase daran nicht gestorben ist.

Ermittlungsverfahren gegen den Oberwachtmeister Unke und die Mordkommission sind bereits im letzten Herbst eingestellt worden. Unkes drei Schläge mit dem Gummistab galten als »nicht rechtswidrig«. Den Beamten der Mordkommission wurde zwar »objektive Pflichtwidrigkeit« bescheinigt. Doch die Strafverfolger befanden, das könne den Kriminalisten »subjektiv nicht vorgeworfen« werden.

Hamburgs Polizeipräsident Dr. Jürgen Frenzel ist mit dem Chef seiner Mordkommission, Gerhard Handke, dessen Männer an dem breiig zerschlagenen, mit Blutbeulen und Striemen überzogenen Häftling »keinerlei äußere Verletzungen« gesehen haben, sehr zufrieden: »Er ist einer meiner besten Leute.«