»Gott weiß, was er tut« (original) (raw)
Nachmittags um vier hat der junge Mann früher eine Turnhose getragen. Dann übte er mit den Kollegen von Hannover 96 das Fußballspiel. So steht es in seinem Arbeitsvertrag.
Zur Zeit fährt Gerald Asamoah nachmittags um vier sein Automobil spazieren. Sein Gehalt ist anständig, vor einem halben Jahr hat er sich was Feines geleistet: Mercedes Coupé, Ledersitze, 1a-Stereoanlage. Manchmal kreuzt er ziellos durch Hannover; er läßt sich dabei von afrikanischer Musik beschallen, und wenn es ihm langweilig wird, parkt er vor seinem Stammladen in der Innenstadt und trinkt Früchtetee.
Gerald Asamoah ist ein hochbegabter Fußballspieler. Wenn er könnte, dürfte er für die Nationalmannschaft seiner Heimat Ghana stürmen. Wenn man ihn ließe, würde er nächstes Jahr nicht mehr in der Zweiten Liga arbeiten, sondern eine Etage drüber. Der Hamburger SV ist schon vorstellig geworden, Werder Bremen auch.
Aber er darf nicht. Man hat ihn bis auf weiteres aus dem Verkehr gezogen. Asamoah, 20, leidet an einer Herzkrankheit. Die Ärzte haben ihm gesagt, daß er tot umfallen könnte, wenn er weiter Fußball spielt. Exitus durch plötzlichen Herztod, ein Ende, das in diesem Jahr schon sieben Hochleistungssportler getroffen hat.
Die meisten starben, weil sie nie richtig untersucht wurden, und deshalb wußte keiner, daß ihr Herz krank war. Und seit das in der Zeitung nachzulesen war, laufen Deutschlands Fußballprofis mit der Angst auf den Rasen. Es kann jeden von ihnen erwischen; denn kaum einer ist vom Doktor richtig auf den Kopf gestellt worden.
Die Geschichte des Mannes aus Ghana zeigt auf, wie der Gesundheitsbetrieb im hochgezüchteten Profisport funktioniert. Der Patient als Ware, deren Wert sich am Wiederverkaufswert bemißt. Wie es drinnen aussieht, muß keiner im Detail wissen; kranke Fußballer sind totes Kapital (siehe Seite 158). Es ist, als wenn der Ford Granada, Baujahr 1978, bei Ali auf dem Hinterhof vorfährt: Rost entfernen, schweißen, verscheuern.
Daß Asamoah nicht gesund ist, kommt durch einen Zufall ans Licht. Womöglich ist das, was am 27. September passierte, daran schuld, daß er noch lebt. Es ist ein schwüler Sonntag, an dem Hannover 96 gegen den FC St. Pauli spielen muß. Der Mittelstürmer hat keinen Appetit an diesem Tag, er ißt nur ein Stück Kuchen, kurz vor dem Anpfiff. Nach dem Spiel schreibt er Autogramme und geht in einen Raum, der für die wichtigen Leute reserviert ist. Hier ist ihm »ziemlich heiß«, er stellt sich an einen Tisch, dann wird ihm schwindlig. Er stützt seinen Körper auf die Platte, atmet schwer, bekommt Schweißausbrüche. Ein Kollege hilft ihm zur Tür, setzt ihn draußen auf einen Stuhl und legt einen nassen Lappen in seinen Nacken. Der Trainer fragt ihn, ob er schon etwas gegessen habe und bringt eine Tasse Suppe.
Danach geht es ihm zwar, so sagt er, »wieder richtig okay«; irgendeiner hatte aber zwischendurch den Mannschaftsarzt angerufen, der schon auf dem Weg nach Hause war. Der untersucht ihn und rät, als er keine Auffälligkeiten feststellen kann, als »Vorsichtsmaßnahme« zu einer Untersuchung in der Medizinischen Hochschule Hannover. Der Chef der Kardiologie stellt eine Diagnose, die wenige Tage später nach einer Ultraschalluntersuchung in der UniKlinik Tübingen bestätigt wird: »Hypertrophe nicht-obstruktive Kardiomyopathie«, eine Verdickung der Herzwände. Bei gesunden Menschen mißt die Scheidewand etwa 12 Millimeter, bei Asamoah 18.
Der Tübinger Arzt Hans-Hermann Dickhuth gibt eine Empfehlung, die Asamoahs Lebensentwurf zerstört und dem Schatzmeister von Hannover 96 einen Schlag versetzt wie der Börsencrash dem Anleger: Der Patient darf keinen Leistungssport mehr treiben. Denn diese Erkrankung ist - neben der Herzmuskelentzündung - »hauptursächlich für den plötzlichen Herztod bei jungen Menschen«.
Körperliche Belastung, erklärt Dickhuth, hat dabei eine »Trägerfunktion": Je dicker die Herzwand, desto häufiger die Engpässe in der Blutversorgung. Das verursacht Rhythmusstörungen, »deswegen fallen die auch richtig um«. Weltweit. Schwarze wie Weiße. In seinem Befund schreibt der Professor, das Risiko sei »leicht bis mäßig«. Dennoch: Hannover muß seine Kraft aus dem Verkehr ziehen, »bis auf weiteres«.
Es ist nicht so, daß Gerald Asamoah mit seinem Kreislaufkollaps im VIP-Raum zum erstenmal auffällig geworden wäre. Ein Jahr vorher war er bei einem Internisten, der in seinem EKG Anomalien ausmachte. Der Arzt vermutete eine krankhafte Veränderung der Herzscheidewand und empfahl eine Kontrolle mit dem Ultraschallgerät. Der Hinweis landete, zur Wiedervorlage, im Schnellhefter.
Jetzt ist die Sache raus. Und als der Sportsmann vom Professor in Tübingen heimfährt nach Hannover, fragt er sich: »Ja spinnt der denn, der Doktor?« Zu Hause kriegt er einen Weinkrampf. Er fühlt sich kerngesund, und rein optisch steht er ja auch voll im Saft: 1,80 Meter groß, 85 Kilogramm schwer, hat ein Kreuz wie Helmut Kohl und einen Nacken wie Axel Schulz.
Aber außer Fußball hat er gar nichts. Asamoah kam vor acht Jahren nach Deutschland, wo seine Eltern schon seit 1980 leben. In Ghana ist er bei der Tante groß geworden und hat das Internat besucht; in Deutschland angekommen, weiß er nicht, wo er hin soll; er geht auf die Hauptschule, macht ein Berufsgrundjahr als Hotelfachmann und Koch, aber der Job nervt ihn. »Ich habe nie eine Bewerbung geschrieben, weil ich mir irgendwie sicher war, daß ich Fußballer werde.«
Asamoah hat einen Profivertrag bis zum 30. Juni 2000 unterschrieben. Er hatte die Vorstellung, daß es danach richtig losgeht mit Ruhm und Geld. Im Moment ist er Arbeitnehmer mit gekürzter Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, weil ihm die Auflaufprämien fehlen. Und wenn sich daran nichts ändert, dann muß er sich nach dem 30. Juni 2000 beim Arbeitsamt anstellen.
Der Fußballprofi ist bekennender Protestant, er glaubt an Gott und daran, daß Gott ihm jetzt hilft. »Gott weiß, was er tut«, sagt er. Und wenn Gott nicht hilft, dann hilft vielleicht ein Arzt. Irgendeiner. Es gibt, sagt er, schließlich auch die Geschichte des berühmten Kollegen Nwankwo Kanu aus Nigeria; der stand auch mal vor dem Ende, weil er es mit dem Herzen hatte, und dann fand er einen Spezialisten in den USA, der ihn operierte, und heute ist Kanu ein Held bei Inter Mailand. Bloß: Kanu hatte einen Herzklappenfehler, und so etwas läßt sich operieren. Verdickte Herzscheidewände werden auch mit dem Skalpell nicht dünner.
Bei den Hütern über Gesetz und Ordnung im deutschen Fußball existiert Gerald Asamoah deshalb zur Zeit als passives Mitglied. Für den Fall, daß der Afrikaner noch einmal für einen deutschen Verein Dienst tun möchte, fordert der DFB eine ärztliche Unbedenklichkeitsbescheinigung. Nach Stand der Dinge allerdings wäre so ein Attest nicht mal von Julius Hackethal zu erwarten, würde der noch leben. Und deshalb hat sich der Arbeitgeber Hannover 96 auf die Strategie des Winkelzugs verlegt.
Der endgültige Verlust des Stürmers wäre desaströs für den Club, nicht nur, weil das verbliebene Personal ohne seine Perle kaum noch ins Tor trifft. Der Zweitligaverein braucht Kreditgeber über 100 Millionen Mark, er will damit das Stadion veredeln. Asamoahs Wert in gesundem Zustand wird auf 10 Millionen Mark geschätzt.
Die Führungsetage hat sich im Sinne der guten Sache Arbeitsteilung auferlegt. Der Clubpräsident macht im Umkreis von Hannover Arzttermine klar. Der Mannschaftsarzt hat sich neulich zum privaten Urlaub in die USA verabschiedet; nebenher hielt er im großen fernen Land Ausschau nach einer Kapazität, die Rettung verspricht. Und der Manager, der frühere Fußballprofi Franz Gerber, ist für die aktuellen Wasserstandsmeldungen zuständig.
Selbstverständlich, und das ist ihm abzunehmen, geht es »hier in erster Linie um den Menschen«, sagt Gerber. Aber selbstverständlich geht es auch ums Geschäft. »Wir stehen ja alle da und sagen: Um Gottes willen, unser bester Spieler, von heute auf morgen aus und Schluß. Das ist eine Katastrophe, ist ja logisch.«
Logisch auch, daß er da Thesen entwirft, die zwar nach wissenschaftlicher Ansicht Stuß sind, aber wenigstens die Hoffnung leben lassen. Wer sagt denn, so fragt sich der Manager »mit Laienverstand«, daß es da nicht einen Unterschied gibt zwischen Schwarzen und Weißen? »Oder daß es bei den Schwarzen innerhalb der Stämme Unterschiede gibt?« Daß, kurz, mehr Schwarze mit zu dicker Herzscheidewand auf der Welt leben als Weiße?
Es macht ihm Mut, sagt Gerald Asamoah, daß es so viele Menschen gibt, die ihm raten, er solle weiter Fußball spielen, wenn es irgendwie geht. Und das sind nicht nur solche, die ihm professionell verbunden sind. Einer von den anderen betreibt in Hannovers Ausländerviertel einen Laden mit afrikanischer Importware. Es ist ein dicker Mann mit einer goldenen Kette am Hals und einer Jeans aus Flicken an den Beinen; am Tag sitzt er auf einem Hocker zwischen seinen Auslagen und wartet auf Menschen, die afrikanische CDs, Rasta-Perücken oder Handgel aus Kakaobutter kaufen.
Das kommt selten vor, und deshalb hat der dicke Mann ein Problem. Manchmal spielt er mit dem Gedanken, sein Geschäft dichtzumachen, er weiß bloß nicht, was danach kommen soll; er hat eine Sechszimmerwohnung, in der er mit Frau, Schwägerin und den vier Kindern lebt.
Eins davon ist Gerald Asamoah. Sein Vater William versteht etwas vom Fußball, er ahnt, warum der Sohn dieses Problem mit der Gesundheit hat. Der Junge, sagt er, müsse viel zuviel laufen, mal stürmen, mal decken; klar, daß das auf die Pumpe geht. Soll sich einfach vorne reinstellen und Tore schießen, so wie Ronaldo von Inter Mailand das auch macht, dann werde es schon wieder mit dem Fußball. Und den Laden, den könnte er endlich dichtmachen? »Na ja«, sagt der Vater, »das Geld gehört ihm.«
Vorletzten Sonntag war er mit dem Sohn wieder im Stadion. Der hat während des Spiels kleine Kinder betreut, gemeinsam mit dem »Drachen Fürchterlich«.
Von seinem neuen Arbeitsplatz aus hatte er freien Blick aufs Fußballfeld. Er will da wieder hin. Es wäre, meint er, auch für die neue Heimat von Belang. Eines Tages möchte Gerald Asamoah für Deutschland spielen, um den Rassismus zu besiegen.
MATTHIAS GEYER