Russland: Warum Putin gar nicht Präsident bleiben will (original) (raw)

WELT ONLINE: Russland macht heute einen so stabilen Eindruck wie lange nicht. Warum ist die Führung vor den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen so hochgradig nervös?

Stanislaw Belkowskij: Die Führung ist nervös, weil es eine gewaltige Anzahl von Problemen gibt, die verschwiegen werden oder die ganzen Jahre über verschwiegen wurden und deren Lösung auf später verschoben wurde.

WELT ONLINE: Welche Probleme meinen Sie?

Belkowskij: Das beginnt mit der Krise in der nationalen Infrastruktur, die in den vergangenen 30 Jahren nicht modernisiert wurde – Straßen, Elektroenergie, Wärmeversorgung – und es setzt sich fort mit einer erneuten Verschärfung der Lage im Nordkaukasus. In Inguschetien ist die Lage praktisch außer Kontrolle geraten. Ähnliche Tendenzen entwickeln sich auch in Dagestan und Kabardino-Balkarien, wo Russen ermordet werden und die russische Bevölkerung hinausgedrängt wird.

WELT ONLINE: Zählen Sie die Preissteigerungen bei Lebensmitteln auch dazu?

Belkowskij: Natürlich, steigende Lebensmittelpreise waren nicht nur in der russischen Geschichte der Zünder für große Erschütterungen und Explosionen. Und diese Preissteigerungen können nicht gestoppt werden, weil Russland in kritischem Grade abhängig von Importen ist.

WELT ONLINE: Kommt die russische Landwirtschaft nicht gerade wieder auf die Beine?

Belkowskij: Unter Putins Regentschaft ist die Anbaufläche für Getreide, die Zahl der Rinder sehr stark zurückgegangen. Prognosen von Experten, die nicht mit dem Kreml verbunden sind, gehen davon aus, dass bis zum Frühjahr die Preise für Brot um 70 bis 80 Prozent, die für Butter und Fleisch um 50 bis 60 Prozent steigen werden. Das macht die Lage für die minderbemittelten Familien unerträglich. Schon heute müssen 70 bis 80 Prozent des Familienbudgets für Lebensmittel aufgewendet werden. Künftig werden sie dafür mehr ausgeben als sie verdienen.

Furcht vor einer Bankenkrise

WELT ONLINE: Trotz der hereinströmenden Erdöldollar geht unter Ihren Landsleuten die Furcht vor einer Bankenkrise um. Ist das berechtigt?

Belkowskij: Tatsächlich droht eine Liquiditätskrise im Bankwesen, die von zwei Faktoren beeinflusst wird: Erstens die Flucht so genannter „dummer“ Gelder, kurzfristige Kredite mit einer Laufzeit bis zu einem halben Jahr, die in großem Umfang nach Russland fließen – wir reden von Hunderten Milliarden Dollar – und die auf dem stürmisch wachsenden russischen Markt bis zu 30 Prozent Zinsen jährlich erwirtschaften. Bleiben sie aus, kippt Russlands Wirtschaft um. Der Aktienindex fällt und wir bekommen eine Liquiditätskrise.

WELT ONLINE: Sie sprachen von einem zweiten Faktor?

Belkowskij: Das betrifft die Nichtrückzahlung der Verbraucherkredite. In den vergangenen Jahren waren solche Kredite sehr leicht zu bekommen. Aber die Finanzdisziplin in Russland ist schwach. Die meisten Leute, die solche Kredite aufnahmen, hatten gar nicht die Absicht, sie zurückzuzahlen. Sie fassten die Darlehen als Zahlung der Eliten auf, die die nationalen Reichtümer plündern, woran die breite Masse keinen Anteil hat. Das ganze Bündel von Problemen wird 2008 explodieren.

WELT ONLINE: Glauben Sie, dass Ihr Präsident das ähnlich sieht?

Belkowskij: Putin weiß, dass äußerst destruktive Prozesse ablaufen, die er einfach nicht steuern kann. Deshalb ist es für ihn wichtig, aus dem Spiel auszuscheiden, solange die Explosion sich noch nicht ereignet hat.

WELT ONLINE: Putin will gar nicht Präsident bleiben?

Belkowskij: Nein. Es wird keine dritte Amtszeit für ihn geben, das sind alles Mythen und Propaganda. Für ihn ist das Wichtigste, den Ausbruch solange zu vermeiden, solange er noch im Amt ist. Der Einbruch hat in Form der nicht kontrollierbaren Preissteigerungen für Lebensmittel schon begonnen, wovon die Mehrheit der Bevölkerung stark betroffen ist.

WELT ONLINE: Aber es gibt doch einflussreiche Gruppen, die wollen, dass Putin im Amt bleibt, um für Stabilität zu sorgen?

Belkowskij: Die Destabilisierung ist aus objektiven Gründen unausweichlich, die Katastrophe nähert sich: die Krise der Infrastruktur, der völlige Zerfall der Armee, die totale Korrumpiertheit des Staatsapparates, was praktisch auf dessen Paralyse hinausläuft. Hinzu kommen die Lage im Nordkaukasus, die sich mit jedem Monat verschlimmert, sowie das entschlossene Vordringen der Chinesen nach Sibirien und in den Fernen Osten. In drei, vier Jahren werden sie die Region kontrollieren.

WELT ONLINE: Die meisten Russen glauben aber, dass der energische Chef im Kreml alles zum Besten richten kann, deshalb soll er doch weiter machen?

Belkowskij: Man sollte die aktive Rolle Putins in der russischen Politik nicht überschätzen. Alle seine Entscheidungen, die er traf, waren unbedeutend, von taktischer Natur. Vor großen, strategischen Aufgaben schreckte er zurück, nahm sie von der Tagesordnung oder schob sie so weit es irgend ging auf die lange Bank. Putins Rolle war ein passive.

WELT ONLINE: Wer trifft in Russland letztendlich die Entscheidungen? Putin und sein enger Kreis Vertrauter?

Belkowskij: Es existiert praktisch kein politischer Mechanismus der Entscheidungsfindung im traditionellen Sinne. Das, was in der Öffentlichkeit gesagt wird, die Propaganda, appelliert zwar ans Politische. Aber im Kern sind die Entscheidungen alles andere als politisch, sie sind meist diktiert durch die Interessen des großen Geldes. Putins Allmacht ist eine Fiktion.

WELT ONLINE: Die Interessen der verschiedenen Gruppen sind unterschiedlich, haben die Gruppen ihre Entsprechungen im Kreml?

Belkowskij: Alle Interessengruppen sind im Kreml vertreten, und umgekehrt. Die Leute, die im Kreml sitzen, sind direkte Vertreter und Mitbesitzer der großen Unternehmen.

WELT ONLINE: Trifft das auch auf den Präsidenten zu?

Belkowskij: Auch Putin ist ein großer Geschäftsmann. Er kontrolliert 37 Prozent der Aktien von Surgutneftjegas, das einen Marktwert von 20 Milliarden Dollar hat. Außerdem kontrolliert er 4,5 Prozent der Gazprom-Aktien.

WELT ONLINE: Diese Zahlen sind gesichert?

Belkowskij: Die Zahlen stimmen. In dem Zusammenhang ist es wichtig, zwischen der Praxis des Kremls und Wladimir Putins und der Rhetorik zu unterscheiden. Putins Rhetorik ist auf die sattsam bekannte Stabilisierung des Regimes, die Sicherung der Stabilität um jeden Preis gerichtet. Die Rhetorik appelliert an sowjetische, imperiale Denkmuster, die im Volk noch sehr populär sind. Sie hat nichts gemein haben mit den tatsächlichen Motiven. Die werden weitgehend von den Interessen des Big Business bestimmt.

WELT ONLINE: Aber Russland spielt doch wieder eine bedeutendere Rolle in der Welt?

Belkowskij: Betrachten wir die realen Folgen der Putin-Politik der vergangenen acht Jahre, stellen wir fest, dass die imperiale Rhetorik überhaupt keine Umsetzung in der politischen Praxis erfahren hat. Der Einfluss Russlands in der Welt hat nicht zugenommen, sondern er ist dramatisch zurückgegangen.

WELT ONLINE: Wie begründen Sie das?

Belkowskij: Als Putin an die Macht gelangte, war Russland eine vollwertige Regionalmacht. Es war die wichtigste politische Kraft im Raum der ehemaligen Sowjetunion. Nicht ein Regime – von der Ukraine bis nach Mittelasien – konnte sich ohne Zustimmung Russlands formieren. Und die Regimes, die anti-russische Positionen einnahmen wie das von Eltschibej in Aserbaidschan oder von Gamsachurdia in Georgien, lebten nicht sehr lange.

WELT ONLINE: Und heute?

Belkowskij: Immer mehr Länder wenden sich bei der Bestimmung ihres eigenen Schicksals, ihrer eigenen Perspektiven von Russland ab. Moskau blieb allein. Die ganze imperiale Ideologie spielt sich nur im Bereich der Propaganda ab, die reale Politik sieht anders aus.

WELT ONLINE: Die vom Präsidenten vorangetriebene Veränderung des politischen Systems ist aber doch nicht zu übersehen.

Belkowskij: Der Grundstein dafür wurde schon in den Neunzigerjahren gelegt, als 1993 das Parlament beschossen, die Präsidial-Verfassung angenommen und 1996 die Präsidentenwahl durch Fälschung entschieden wurde. An die Macht gelangten Oligarchen wie Beresowskij, Gussinskij, Abramowitsch oder Chodorkowskij, die das sowjetische Eigentum unter sich aufteilten.

WELT ONLINE: In welchem Verhältnis steht Putin Ihrer Meinung nach zu ihnen? Bei seinem Amtsantritt hatte er erklärt, er wolle sich die Oligarchen alle gleich weit vom Halse halten.

Belkowskij: Putin hat nicht um die Macht gekämpft, er wurde von diesen Leuten ins Amt gehoben. Er wurde von Beresowskij, Abramowitsch und anderen zum Präsidenten gemacht, um eine Aufgabe zu erfüllen: Die Ergebnisse der Privatisierung zu garantieren, die Umwandlung der privatisierten Unternehmen in „lebendes Geld“ sowie die Legalisierung dieses Kapitals sowohl in Russland als auch im Ausland zu sichern.

WELT ONLINE: Wozu aber der Abbau der Demokratie, den Putin vorangetrieben hat? Ist er ein Diktator?

Belkowskij: Es war nicht seine Idee, er ist auch kein Diktator. Nur wäre diese Aufgabe in einer realen Demokratie, in einer realen Konkurrenz der Politiker, die gleichen Zugang zu den Medien haben, insbesondere zum Fernsehen, nicht zu realisieren gewesen. Deshalb wurde die Demokratie bewusst abgebaut. Das war nicht Putins Entscheidung, er führte lediglich den Willen der Elite aus, den sie schon Mitte der Neunziger Jahre formuliert hatte. Putin blieb immer der Nachfolger Jelzins, auch wenn er sich aus Popularitätsgründen immer mal wieder rhetorisch als Anti-Jelzin gab.

Mit Stanislaw Belkowskij sprach Manfred Quiring.