Türkei: Erdogan-Anhänger feiern den Sieg (original) (raw)

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Erdogan-Anhänger

„Das ganze Land gehört uns - Allahu akbar“

Veröffentlicht am 17.07.2016Lesedauer: 7 Minuten

Nach dem gescheiterten Militärputsch gehen in der Türkei die Verhaftungen bei Militär, Justiz und Polizei weiter. Auch eine Diskussion um die Wiedereinführung der Todesstrafe ist wieder aufgeflammt.

Am Tag nach dem gescheiterten Putsch feiern die Erdogan-Anhänger auf dem Taksim-Platz. Während der türkische Präsident weiter zum „Gegen-Putsch“ ausholt, taucht ein schwerwiegender Verdacht auf.

Keine 24 Stunden, nachdem am Freitagabend einige Dutzend Soldaten den zentralen Taksim-Platz besetzt hatten, haben sich am Samstagabend mehrere Zehntausend Menschen hier versammelt.

In der Menge sieht man vereinzelt Frauen mit offenen Haaren und sommerlich-leichter Kleidung, die zu den schwülen 24 Grad passt. Doch anders als bei den Gezi-Protesten sind die Frauen deutlich in der Minderheit. Und fast alle tragen das strenge, aber moderne islamische Kopftuch – einige sogar schwarzen Tschador. Auch den Männern sieht man an Kleidung und Gebaren an, dass sie zumeist aus ärmeren Stadtteilen stammen oder dem neuen islamischen Bürgertum angehören.

Es ist keine pluralistische Zivilgesellschaft, die über alle sozialen und kulturellen Unterschiede hinweg den Sieg über eine Machtergreifung des Militärs feiern würde, es sind allein AKP-Fans, vielleicht ergänzt um einige Anhänger der rechten MHP und kleinerer islamistischer oder rechtsextremer Parteien. Und es klingt, als würden sie einen weit größeren Triumph feiern als die Niederschlagung des Putsches.

Polizisten posieren mit Demonstranten für Selfies

„Wir haben die Stadt zurückerobert“, rufen die Einpeitscher. Und: „Die Putschisten haben mit allem gerechnet, aber nicht mit dem Widerstand von Tante Fatma und Onkel Hasan, die in ihren Pantoffeln herbeigeeilt sind, um den nationalen Willen zu verteidigen.“ Im ganzen Land versammeln sich, dem Aufruf Erdogans folgend, seine Anhänger. Auf dem Taksim-Platz sind es besonders viele.

Später sprechen Abgeordnete der AKP, aber keine Vertreter der Oppositionsparteien. „Allahu akbar“ skandiert die Menge immer wieder, „Allah ist groß“; manche recken den Zeigefinger zum Gruß der Islamisten. Dazwischen laufen Wahlkampfhits von Erdogan, viele singen und wippen mit.

Es ist die erste politische Kundgebung auf dem Taksim-Platz seit Ende der Gezi-Proteste, die nicht von der Polizei gewaltsam aufgelöst wird. Die Polizisten posieren stattdessen mit Demonstranten für Selfies.

Der Platz ist das Herz des modernen Istanbuls. Er ist umringt von Luxushotels, dem Atatürk-Kulturzentrum und der griechisch-orthodoxen Agia-Triada-Kirche, ein monumentaler Bau, der an das erinnern würde, worauf sich die allermeisten dieser Menschen und Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan so gerne berufen: die osmanisch-islamische Geschichte. Südlich grenzt die Istiklal-Straße mit ihren Geschäften und den Seitengassen voller Bars, Raki-Restaurants und Klubs an, westlich der Gezi-Park, vor gut drei Jahren Schauplatz der größten Niederlage der AKP-Herrschaft.

„Todesstrafe ist ein Recht demokratischer Staaten“

Eine Parole, die in der Nacht des Putsches allgegenwärtig war, ist nicht mehr zu hören: „Wir wollen die Todesstrafe“, hatten viele Demonstranten gerufen. „Wir haben eure Forderung zur Kenntnis genommen und werden sie überprüfen“, sagte Ministerpräsident Binali Yildirim am Samstagnachmittag. Und Staatspräsident Erdogan meinte, die Todesstrafe sei ein Recht demokratischer Staaten. Diese Forderung wiederholte er am Sonntagabend und erklärte, er wolle keine Verzögerung bei der Einführung der Todesstrafe hinnehmen.

Die Todesstrafe war in der Türkei 2001 noch von der Vorgängerregierung im Zuge der EU-Reformen abgeschafft worden, das letzte Todesurteil wurde 1984 von der damaligen Militärjunta vollstreckt.

Wie ernst sie es mit dieser und einer anderen martialischen Parole – „Sag es und wir töten, sag es und wir sterben“ – meinen, haben Erdogan-Anhänger in der Putschnacht gezeigt, als sie auf der Bosporusbrücke und im Regierungsviertel von Ankara mindestens vier entwaffnete Soldaten lynchten.

Wut auf Putschisten entlädt sich am Taksim-Platz

An mehreren Stellen, unter anderem am Flughafen, bewahrte die Polizei Soldaten vor dem Lynchmord. Aber ein Foto von der Bosporusbrücke zeigt, wie ein aufgebrachter Bürger mit seinem Gürtel auf am Boden sitzende und entwaffnete Soldaten einprügelt, während Polizisten tatenlos danebenstehen. Die oppositionelle Tageszeitung „Cumhuriyet“ titelt am Sonntag damit. Auf der anderen Seite mag es den Putschisten an allem gefehlt haben – aber nicht an der Skrupellosigkeit, um mit Kampfhubschraubern auf Zivilisten zu schießen.

Die Wut der Demonstranten auf dem Taksim-Platz richtet sich allein gegen die Putschisten und den einstigen Erdogan-Verbündeten Fethullah Gülen, den die Regierung für den Drahtzieher des Putsches hält. „Wegen diesem Park da hinten sind fünf oder zehn Leute gestorben“, sagt ein Mittdreißiger, auf den Gezi-Park deutend.

Der Mann stammt aus Basaksehir, einer Wohngegend der neuen islamischen Mittelklasse. „Wir haben in einer Nacht 160 Märtyrer gegeben, wir haben gegen Flugzeuge und Hubschrauber gekämpft. Diese Marodeure sollen noch einmal kommen.“ Diesen Satz hat er sich nicht selber ausgedacht, er zitiert fast wörtlich einen der bekanntesten professionellen AKP-Trolle auf Twitter.

„Wir müssen jetzt groß sauber machen“, wirft eine Frau ein. Sie ist Mitte 20, über ihr Kopftuch hat sie die türkische Fahne gebunden. „Wir müssen mit allen Feinden des Volkes aufräumen und am besten hier in Taksim anfangen.“ „Das ganze Land gehört uns“, wirft ein Mann um die 60 ein. Dann ruft einer von weiter hinten „Allahu akbar“, alle stimmen ein.

Am Atatürk-Kulturzentrum hängen zwei riesige Porträts von Erdogan und eine türkische Fahne. Einst war das Gebäude mit seiner Ballett- und Theaterbühne, seinen Kinos und Ausstellungsräumen das hochkulturelle Zentrum der Stadt, ehe es vor einigen Jahren angeblich für Renovierungsarbeiten geschlossen wurde und seither verrottet. Während der Gezi-Proteste wehten hier Banner linker Organisationen und regierungskritische Transparente; die Erdogan-Bilder an der Fassade wirken, als wollte man auch diese Protestbilder ungeschehen machen.

Angespannte Stimmung im Stadtteil Gazi

Es ist nicht zuletzt diese Symbolsprache, die die säkularen Erdogan-Gegner verängstigt – und sie davon abhält, sich den Feiern anzuschließen, selbst wenn die allermeisten kemalistischen, linken und liberalen und Regimekritiker mit Verweis auf die leidvolle Geschichte mit Militärinterventionen einen Putsch ablehnen.

„Sie feiern nicht die Rettung der Demokratie, sie feiern die islamische Revolution“, sagt ein Mann Anfang 40 in einer Bar im schicken Viertel Cihangir, das an den Taksim-Platz angrenzt. Für einen Samstagabend sind die Bars von Cihangir gähnend leer, einige sind sogar ganz geschlossen.

20 Kilometer entfernt, im von Aleviten und Kurden bewohnten Stadtteil Gazi, ist die Stimmung angespannt. Am Nachmittag wollte eine Menge von Männern, darunter viele in salafistischer Tracht, durchs Viertel laufen, aber Bewohner stellten sich ihnen entgegen. Schließlich hielt die Polizei die Islamisten auf, ehe es zu kleineren Scharmützeln mit jugendlichen Bewohnern kam.

Paranoia oder berechtigter Anlass für Sorgen?

Bei vielen Aleviten herrscht Angst, dass die religiös aufgeladene Stimmung in Pogrome gegen sie umschlagen könnte. Es wäre nicht das erste Mal.

Man könnte all das für unbegründete Paranoia halten. Aber die Festnahme von fast 3000 Staatsanwälten und Richtern – darunter auch Richter der höchsten Gerichtsbarkeit und zwei Verfassungsrichter, die eigentlich unantastbar sind – bieten berechtigten Anlass für diese Sorgen.

Schon macht das Wort von einem „Gegenputsch“ die Rede. Der sozialdemokratische Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu forderte dazu auf, die Lynchfälle zu untersuchen, Selahattin Demirtas, Chef der prokurdischen HDP, meinte, der Rechtsstaat müsse nicht nur vor einem militärischen Putsch geschützt werden, sondern auch vor einem „zivilen Putsch“. Als das Parlament bombardiert wurde, waren auch von Haftstrafen bedrohte Abgeordnete der HDP im Gebäude anwesend.

War die Staatsführung um Erdogan schon lange informiert?

Zugleich scheinen sich einige Regimekritiker nun mit Erdogan arrangieren zu wollen. Allen voran die Mediengruppe Dogan, in deren Sender CNN-Türk Erdogan in der Putschnacht seine erste Erklärung abgegeben hatte und deren Gebäude in der Putschnacht zeitweise besetzt wurde. „Wenn du zuerst denkst, dass dieser Putsch Erdogan nutzt, dann bist du ein Putschist“, kommentiert der liberale Autor Ismet Berkan in der Sonntagsausgabe des Dogan-Blattes „Hürriyet“. „Wenn du fragst: Was ist das für ein merkwürdiger Putsch?, dann bist du ein Putschist.“ Das dürfte Erdogan genauso sehen.

Unterdessen liefern die regierungsnahen Zeitungen „Star“ und „Yeni Safak“ eine Erklärung für die vielen Ungereimtheiten, die den Putschverlauf kennzeichneten. Demnach wurden die Putschpläne verraten. Die Putschisten hätten dies mitbekommen und hätten aus Panik ihre Aktion vorgezogen, anstatt wie geplant und bei Militärinterventionen üblich in den frühen Morgenstunden loszulegen. Und möglicherweise wurde die Staatsführung nicht erst wenige Stunden vor Beginn der Aktion davon unterrichtet, wie „Star“ schreibt, sondern Tage oder gar Wochen vorher. Dann hätte sie alle Zeit gehabt, sich vorzubereiten und womöglich die Putschpläne zu sabotieren.

Bewiesen ist das nicht, doch klingt das plausibler als beide anderen Erzählungen – die von der kompletten Inszenierung des Putsches durch Erdogan und jener von der unerklärlichen Stümperhaftigkeit der Putschisten.