"Eine Aktion, wie sie Welt noch nie sah" (original) (raw)

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"Eine Aktion, wie sie Welt noch nie sah"

Veröffentlicht am 28.08.2004Lesedauer: 5 Minuten

Das Wrack der "Tscheljuskin" ist gefunden, die Realität hinter dem Mythos vom "Helden der Sowjetunion"

Eine kleine Meldung brachte dieser Tage die russische Nachrichtenagentur Nowosti unters Volk: Wrack des Eisbrechers "Tscheljuskin" vor sibirischer Nordküste aufgespürt, in 50 Meter Tiefe, Forscher sind unterwegs.

Knapp kam die Information daher. Und so lapidar, dass manch betagtem Veteran wohl endgültig klar wurde, dass die Sowjetunion tot ist. War doch das Schiffchen, was da in eisiger Winternacht 1934 weit im Nordosten, in der Tschuktschen-See, untergegangen ist, nicht weniger als die Kulisse für die Ouvertüre jenes Heldenepos, mit dem die UdSSR sich fortan fast sechzig Jahre lang selbst inszenierte. Marschall Schukow, der gleich viermal als "Held der Sowjetunion" ausgezeichnet wurde, und alle anderen 12 000 Träger dieses Ordens - sie waren nur Nachfolger der Männer, die damals monatelang die Schlagzeilen zwischen Leningrad und Wladiwostok bestimmten, weil sie sich im Eismeer bewährt hatten.

Vielleicht hat unser Veteran ja auch gestutzt beim "Eisbrecher". Die "Tscheljuskin" war nämlich gar keiner. Sie war nicht mal eistüchtig. Aber genau deshalb sollte sie die mörderische Strecke durch die Nordostpassage bewältigen, voller Packeis und Treibeis.

Sowjetunion in den 30er Jahren, Aufbruch nach Sibirien lautete die Parole. Die Verwandlung dieses Sinnbildes der Unwirtlichkeit in blühende Industrielandschaften - damit sollte sich das Vaterland der Werktätigen nach Stalins Willen bewähren, ein Paradies für Helden der Arbeit, auch wenn es zum großen Teil Sklavenarbeiter aus dem Gulag waren, die die Bergwerke erschlossen. Mythos Sibirien mit wahrem Hintergrund. Problem damals: die unglaublichen Entfernungen. Die Nordostpassage bot sich an. Aber war sie wirklich befahrbar? Ohne Überwinterung hat dies bisher nur der Eisbrecher "Sibirjakow" geschafft, im Jahr 1932.

Nun, ein Sommer später, soll ein ganz normaler Frachtdampfer auf die Reise gehen, die "Tscheljuskin". Und das auch noch mit "ganz normaler" Besatzung: Unter den 112 Passagieren auch zehn Frauen und ein Kind. Expeditionsleiter ist Otto J. Schmidt, Polarforscher, Kosmologe, Herausgeber der "Enzyklopädie der Sowjetunion", später berühmtester Psychoanalytiker des Landes. Und einer der "Roboter" schaffen wollte: Nicht aus Schrauben, Drähten und Batterien, sondern aus der Kreuzung von Affen und Menschen.

Seine "Roboter" blieben ein Traum, doch aus Sicht der Parteiführung war Schmidt sicher einer der ersten Kandidaten dafür, den neuen Menschen für das große Experimentierfeld Sibirien zu schaffen. Und sei es auch erstmal nur im Mikrokosmos der "Tscheljuskin", als es endlich losging am 10. August in Murmansk. Nächster planmäßiger Halt: Wladiwostok. Doch die Expedition steht unter keinem guten Stern, man ist zu spät dran. Das erste Treibeis kommt, der Bug schlägt leck, notdürftig wird geflickt. Zwischendurch kommt noch ein Mädchen zur Welt. Man ist ein einig Kollektiv, eine kleine Sowjetstadt auf Reisen, unterwegs zur Utopie, aber die Abkürzung durch die Realität des Nordens bekommt ihr schlecht. Packeis vor Nowaja Semlja zwingt die Pioniere durch die gefährliche Kara-Straße, weshalb das Baby auch Karina genannt wird. Schäden häufen sich, ständig Begegnungen mit dem Eis, der Kompass fällt aus, bald schlägt auch der Rumpf leck. Schließlich, bereits in der Beringstraße, hat das Packeis die "Tscheljuskin" fest im Griff, kein Dynamit macht sie frei, keine Hacke. Den Kurs bestimmt nun die Drift.

Zart wie das Schiff gebaut ist, wird es bald vom Eis zerquetscht, die Evakuierung ist unumgänglich. Nun muss sich das Kollektiv an neuer Stelle bewähren: Auf einer Eisscholle.

Als nach Tagen endlich ein Funkspruch abgesetzt werden kann, ist die ganze Welt erleichtert über das Lebenszeichen - und entsetzt, weil Hilfe in der Jahreszeit unmöglich scheint. Alle Eisbrecher ausgefallen, Rettungsflüge ausgeschlossen wegen Eis und Nebel.

Hilfe winkt auch: Die USA bieten ihre einsatzbereiten Flugzeuge an, doch Stalin lehnt kaltblütig ab. "Tscheljuskin"-Chronist Henning Sietz vermutet, dass eine Unterstützung Amerikas die sowjetische Blamage perfekt gemacht hätte: "Nur eine Rettungsaktion, wie sie die Welt noch nie gesehen hatte, konnte die Niederlage in einen Erfolg wenden. Daher mussten es sowjetische Piloten sein, die die Besatzung der "Tscheljuskin" vom Eis holten."

Kommandant Schmidt arbeitet derweil weiter am neuen Menschen. Auch wenn es wenig zu tun gibt: Wecken um sieben, anschließend Arbeitsdienst und vor allem: Parteischulung im Packeis. Thema: Dialektischer Materialismus. Man rezitiert und interpretiert Puschkins "Der eherne Reiter".

Zwei lange Monate harren die Männer, Frauen und Kinder aus, dann, im April, naht endlich Rettung aus der Luft. Drei Fliegergruppen - aus Wladiwostok, aus Chaborowsk und aus Alaska - nehmen den Kampf gegen die Polarnacht auf, zwei Etappen vor, eine zurück. Maschinenschäden und Eisstürme halten sie auf, doch nach und nach landen sie auf der Nachbarscholle, wo die "Tscheljuskinzy" während ihrer langen Gefangenschaft eine Landerutschbahn angelegt haben.

Alle werden sie gerettet, und die Sowjetunion erlebt einen nie da gewesenen Triumphzug. Menschenspaliere winken den Rückkehrern auf den tausenden Kilometern der Transsibirischen Eisenbahn zu, die von Piloten im Tiefflug begleitet werden; Konfettiparaden in Moskau und Leningrad. Und für die sieben Rettungspiloten wird ein ganz neuer Orden geschaffen: "Held der Sowjetunion". Die "Teschljuskinzy" selbst bekommen, immerhin, den Orden "Roter Stern".

Was in jenen Tagen kein Thema war: Parallel zur spektakulären Rettung, im selben Winter und ganz in der Nähe, sollen 12 000 Strafgefangene an Bord des im Packeis festsitzenden Dampfers "Dshurma" erfroren sein. Das berichten jedenfalls Alexander Solschenizyn und Andrej Sacharow.