Volltext von ��ber ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu l�gen�. Immanuel Kant: Werke in zw�lf ... (original) (raw)
Immanuel Kant
In der Schrift: Frankreich im Jahr 1797, Sechstes St�ck, Nr. I: Von den politischen Gegenwirkungen, von Benjamin Constant, ist Folgendes S. 123 enthalten.
�Der sittliche Grundsatz: es sei eine Pflicht, die Wahrheit zu sagen, w�rde, wenn man ihn unbedingt und vereinzelt n�hme, jede Gesellschaft zur Unm�glichkeit machen. Den Beweis davon haben wir in den sehr unmittelbaren Folgerungen, die ein deutscher Philosoph aus diesem Grundsatze gezogen hat, der so weit geht zu behaupten: da� die L�ge gegen einen M�rder, der uns fragte, ob unser von ihm verfolgter Freund sich nicht in unser Haus gefl�chtet, ein Verbrechen sein w�rde.1�
Der franz�sische Philosoph widerlegt S. 124 diesen Grundsatz auf folgende Art. �Es ist eine Pflicht, die Wahrheit zu sagen. Der Begriff von Pflicht ist unzertrennbar von dem Begriff des Rechts. Eine Pflicht ist, was bei einem Wesen den Rechten eines anderen entspricht. Da, wo es keine Rechte gibt, gibt es keine Pflichten. Die Wahrheit zu sagen, ist also eine Pflicht; aber nur gegen denjenigen, welcher ein Recht auf die Wahrheit hat. Kein Mensch aber hat Recht auf eine Wahrheit, die anderen schadet.�
Das pr�ton pseudos liegt hier in dem Satze: �Die Wahrheit zu sagen ist eine Pflicht, aber nur gegen denjenigen, welcher ein Recht auf die Wahrheit hat�.
Zuerst ist anzumerken, da� der Ausdruck: ein Recht auf die Wahrheit haben, ein Wort ohne Sinn ist. Man mu� vielmehr sagen: der Mensch habe ein Recht auf seine eigene Wahrhaftigkeit (veracitas), d.i. auf die subjektive Wahrheit in seiner Person. Denn objektiv auf eine Wahrheit ein[637] Recht haben, w�rde so viel sagen als: es komme, wie �berhaupt beim Mein und Dein, auf seinen Willen an, ob ein gegebener Satz wahr oder falsch sein solle; welches dann eine seltsame Logik abgeben w�rde.
Nun ist die erste Frage: ob der Mensch, in F�llen, wo er einer Beantwortung mit Ja oder Nein nicht ausweichen kann, die Befugnis (das Recht) habe, unwahrhaft zu sein. Die zweite Frage ist: ob er nicht gar verbunden sei, in einer gewissen Aussage, wozu ihn ein ungerechter Zwang n�tigt, unwahrhaft zu sein, um eine ihn bedrohende Missetat an sich oder einem anderen zu verh�ten.
Wahrhaftigkeit in Aussagen, die man nicht umgehen kann, ist formale Pflicht des Menschen gegen jeden,2 es mag ihm oder einem andern daraus auch noch so gro�er Nachteil erwachsen; und, ob ich zwar dem, welcher mich ungerechter weise zur Aussage n�tigt, nicht Unrecht tue, wenn ich sie verf�lsche, so tue ich doch durch eine solche Verf�lschung, die darum auch (obzwar nicht im Sinn des Juristen) L�ge genannt werden kann, im wesentlichsten St�cke der Pflicht �berhaupt Unrecht: d.i. ich mache, so viel an mir ist, da� Aussagen (Deklarationen) �berhaupt keinen Glauben finden, mithin auch alle Rechte, die auf Vertr�gen gegr�ndet werden, wegfallen und ihre Kraft einb��en; welches ein Unrecht ist, das der Menschheit �berhaupt zugef�gt wird.
Die L�ge also, blo� als vors�tzlich unwahre Deklaration gegen einen andern Menschen definiert, bedarf nicht des Zusatzes, da� sie einem anderen schaden m�sse; wie die Juristen es zu ihrer Definition verlangen (mendacium est falsiloquium in praeiudicium alterius). Denn sie schadet jederzeit einem anderen, wenn gleich nicht einem andern Menschen, doch der Menschheit �berhaupt, indem sie die Rechtsquelle unbrauchbar macht.[638]
Diese gutm�tige L�ge kann aber auch durch einen Zufall (casus) strafbar werden, nach b�rgerlichen Gesetzen; was aber blo� durch den Zufall der Straff�lligkeit entgeht, kann auch nach �u�eren Gesetzen als Unrecht abgeurteilt werden. Hast du n�mlich einen eben itzt mit Mordsucht Umgehenden durch eine L�ge an der Tat verhindert, so bist du f�r alle Folgen, die daraus entspringen m�chten, auf rechtliche Art verantwortlich. Bist du aber strenge bei der Wahrheit geblieben, so kann dir die �ffentliche Gerechtigkeit nichts anhaben; die unvorhergesehene Folge mag sein welche sie wolle. Es ist doch m�glich, da�, nachdem du dem M�rder, auf die Frage, ob der von ihm Angefeindete zu Hause sei, ehrlicherweise mit Ja geantwortet hast, dieser doch unbemerkt ausgegangen ist, und so dem M�rder nicht in den Wurf gekommen, die Tat also nicht geschehen w�re; hast du aber gelogen, und gesagt, er sei nicht zu Hause, und er ist auch wirklich (obzwar dir unbewu�t) ausgegangen, wo denn der M�rder ihm im Weggehen begegnete und seine Tat an ihm ver�bte: so kannst du mit Recht als Urheber des Todes desselben angeklagt werden. Denn h�ttest du die Wahrheit, so gut du sie wu�test, gesagt: so w�re vielleicht der M�rder �ber dem Nachsuchen seines Feindes im Hause von herbeigelaufenen Nachbarn ergriffen, und die Tat verhindert worden. Wer also l�gt, so gutm�tig er dabei auch gesinnt sein mag, mu� die Folgen davon, selbst vor dem b�rgerlichen Gerichtshofe, verantworten und daf�r b��en: so unvorhergesehen sie auch immer sein m�gen; weil Wahrhaftigkeit eine Pflicht ist, die als die Basis aller auf Vertrag zu gr�ndenden Pflichten angesehn werden mu�, deren Gesetz, wenn man ihr auch nur die geringste Ausnahme einr�umt, schwankend und unn�tz gemacht wird.
Es ist also ein heiliges, unbedingt gebietendes, durch keine Konvenienzen einzuschr�nkendes Vernunftgebot; in allen Erkl�rungen wahrhaft (ehrlich) zu sein.
Wohldenkend und zugleich richtig ist hiebei Hrn. Constants Anmerkung �ber die Verschreiung solcher strenger und sich vorgeblich in unausf�hrbare Ideen verlierender, hiemit aber verwerflicher Grunds�tze. – �Jedesmal (sagt er[639] S. 123 unten) wenn ein als wahr bewiesener Grundsatz unanwendbar scheint, so k�mmt es daher, da� wir den mittlern Grundsatz nicht kennen, der das Mittel der Anwendung enth�lt.� Er f�hrt (S. 121) die Lehre von der Gleichheit als den ersten die gesellschaftliche Kette bildenden Ring an: �Da� (S. 122) n�mlich kein Mensch anders als durch solche Gesetze gebunden werden kann, zu deren Bildung er mit beigetragen hat. In einer sehr ins Enge zusammengezogenen Gesellschaft kann dieser Grundsatz auf unmittelbare Weise angewendet werden, und bedarf, um ein gew�hnlicher zu werden, keines mittleren Grundsatzes. Aber in einer sehr zahlreichen Gesellschaft mu� man einen neuen Grundsatz zu demjenigen noch hinzuf�gen, den wir hier anf�hren. Dieser mittlere Grundsatz ist: da� die einzelnen zur Bildung der Gesetze entweder in eigener Person oder durch Stellvertreter beitragen k�nnen. Wer den ersten Grundsatz auf eine zahlreiche Gesellschaft anwenden wollte, ohne den mittleren dazu zu nehmen, w�rde unfehlbar ihr Verderben zuwege bringen. Allein dieser Umstand, der nur von der Unwissenheit oder Ungeschicklichkeit des Gesetzgebers zeugte, w�rde nichts gegen den Grundsatz beweisen.� – Er beschlie�t S. 125 hiemit: �Ein als wahr anerkannter Grundsatz mu� also niemal verlassen werden: wie anscheinend auch Gefahr dabei sich befindet�. (Und doch hatte der gute Mann den unbedingten Grundsatz der Wahrhaftigkeit, wegen der Gefahr, die er f�r die Gesellschaft bei sich f�hre, selbst verlassen; weil er keinen mittleren Grundsatz entdecken konnte, der diese Gefahr zu verh�ten diente, und hier auch wirklich keiner einzuschieben ist.)
Wenn man die Namen der Personen, sowie sie hier aufgef�hrt werden, beibehalten will: so verwechselte �der franz�sische Philosoph� die Handlung, wodurch jemand einem anderen schadet (nocet), indem er die Wahrheit, deren Gest�ndnis er nicht umgehen kann, sagt, mit derjenigen, wodurch er diesem Unrecht tut (laedit). Es war blo� ein Zufall (casus), da� die Wahrhaftigkeit der Aussage dem Einwohner des Hauses schadete, nicht eine freie Tat (in juridischer Bedeutung). Denn aus seinem Rechte, von einem[640] anderen zu fordern, da� er ihm zum Vorteil l�gen solle, w�rde ein aller Gesetzm��igkeit widerstreitender Anspruch folgen. Jeder Mensch aber hat nicht allein ein Recht, sondern sogar die strengste Pflicht zur Wahrhaftigkeit in Aussagen, die er nicht umgehen kann: sie mag nun ihm selbst oder andern schaden. Er selbst tut also hiemit dem, der dadurch leidet, eigentlich nicht Schaden, sondern diesen verursacht der Zufall. Denn jener ist hierin gar nicht frei, um zu w�hlen; weil die Wahrhaftigkeit (wenn er einmal sprechen mu�) unbedingte Pflicht ist. – Der �deutsche Philosoph� wird also den Satz (S. 124): �Die Wahrheit zu sagen ist eine Pflicht, aber nur gegen denjenigen, welcher ein Recht auf die Wahrheit hat�, nicht zu seinem Grundsatze annehmen: erstlich wegen der undeutlichen Formel desselben, indem Wahrheit kein Besitztum ist, auf welchen dem einen das Recht verwilligt, anderen aber verweigert werden k�nne; dann aber vornehmlich, weil die Pflicht der Wahrhaftigkeit (als von welcher hier allein die Rede ist) keinen Unterschied zwischen Personen macht, gegen die man diese Pflicht haben, oder gegen die man sich auch von ihr lossagen k�nne, sondern weil es unbedingte Pflicht ist, die in allen Verh�ltnissen gilt.
Um nun von einer Metaphysik des Rechts (welche von allen Erfahrungsbedingungen abstrahiert) zu einem Grundsatze der Politik (welcher diese Begriffe auf Erfahrungsf�lle anwendet), und vermittelst dieses zur Aufl�sung einer Aufgabe der letzteren, dem allgemeinen Rechtsprinzip gem��, zu gelangen: wird der Philosoph 1) ein Axiom, d.i. einen apodiktisch-gewissen Satz, der unmittelbar aus der Definition des �u�ern Rechts (Zusammenstimmung der Freiheit eines jeden mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetze) hervorgeht, 2) ein Postulat (des �u�eren �ffentlichen Gesetzes, als vereinigten Willens aller nach dem Prinzip der Gleichheit, ohne welche keine Freiheit von jedermann Statt haben w�rde), 3) ein Problem geben, wie es anzustellen sei, da� in einer noch so gro�en Gesellschaft dennoch Eintracht nach Prinzipien der Freiheit und Gleichheit erhalten werde (n�mlich vermittelst[641] eines repr�sentativen Systems); welches dann ein Grundsatz der Politik sein wird, deren Veranstaltung und Anordnung nun Dekrete enthalten wird, die, aus der Erfahrungserkenntnis der Menschen gezogen, nur den Mechanism der Rechtsverwaltung, und wie dieser zweckm��ig einzurichten sei, beabsichtigen. – – Das Recht mu� nie der Politik, wohl aber die Politik jederzeit dem Recht angepa�t werden.
�Ein als wahr anerkannter (ich setze hinzu: a priori anerkannter, mithin apodiktischer) Grundsatz mu� niemal verlassen werden, wie anscheinend auch Gefahr sich dabei befindet�, sagt der Verfasser. Nur mu� man hier nicht die Gefahr (zuf�lligerweise) zu schaden, sondern �berhaupt Unrecht zu tun verstehen: welches geschehen w�rde, wenn ich die Pflicht der Wahrhaftigkeit, die g�nzlich unbedingt ist und in Aussagen die oberste rechtliche Bedingung ausmacht, zu einer bedingten und noch andern R�cksichten untergeordneten mache; und, obgleich ich durch eine gewisse L�ge in der Tat niemanden Unrecht tue, doch das Prinzip des Rechts in Ansehung aller unumg�nglich notwendigen Aussagen �berhaupt verletze (formaliter, obgleich nicht materialiter, Unrecht tue): welches viel schlimmer ist als gegen irgend jemanden eine Ungerechtigkeit begehn, weil eine solche Tat nicht eben immer einen Grundsatz dazu im Subjekte voraussetzt.
Der, welcher die Anfrage, die ein anderer an ihn ergehen l��t: ob er in seiner Aussage, die er itzt tun soll, wahrhaft sein wolle oder nicht? nicht schon mit Unwillen �ber den gegen ihn hiemit ge�u�erten Verdacht, er m�ge auch wohl ein L�gner sein, aufnimmt, sondern sich die Erlaubnis ausbittet, sich erst auf m�gliche Ausnahmen zu besinnen, ist schon ein L�gner (in potentia); weil er zeigt, da� er die Wahrhaftigkeit nicht f�r Pflicht an sich selbst anerkenne, sondern sich Ausnahmen vorh�lt von einer Regel, die ihrem Wesen nach keiner Ausnahme f�hig ist, weil sie sich in dieser geradezu selbst widerspricht.
Alle rechtlich-praktische Grunds�tze m�ssen strenge Wahrheit enthalten, und die hier sogenannten mittleren[642] k�nnen nur die n�here Bestimmung ihrer Anwendung auf vorkommende F�lle (nach Regeln der Politik), aber niemal Ausnahmen von jenen enthalten; weil diese die Allgemeinheit vernichten, derentwegen allein sie den Namen der Grunds�tze f�hren.
K�nigsberg.
I. Kant.[643]
Fu�noten
1 �I. D. Michaelis in G�ttingen hat diese seltsame Meinung noch fr�her vorgetragen als Kant. Da� Kant der Philosoph sei, von dem diese Stelle redet, hat mir der Verfasser dieser Schrift selbst gesagt.
K. Fr. Cramer.�
Da� dieses wirklich an irgend einer Stelle, deren ich mich aber itzt nicht mehr besinnen kann, von mir gesagt worden, gestehe ich hiedurch.
I. Kant.
2 Ich mag hier nicht den Grundsatz bis dahin sch�rfen, zu sagen: �Unwahrhaftigkeit ist Verletzung der Pflicht gegen sich selbst�. Denn dieser geh�rt zur Ethik; hier aber ist von einer Rechtspflicht die Rede. – Die Tugendlehre sieht in jener �bertretung nur auf die Nichtsw�rdigkeit, deren Vorwurf der L�gner sich selbst zuzieht.