Abgründe | der Film Noir (original) (raw)
London: Zwei Studentinnen (Sheila Huntington, Susan Shaw) der medizinischen Fakultät stellen ihre Fahrräder ab und huschen gerade noch rechtzeitig in den Hörsaal, bevor ein populärer Professor (James Mason) mit seiner wöchentlich einmal stattfindenden Vorlesung zur Psycologie der Kriminalität fortfährt. Er kündigt an, sich heute mit dem geistig gesunden Kriminellen zu befassen, der vielleicht sogar zu einem Mord in der Lage sei. In der Gesamtgruppe sei das zwar die Minorität, doch dafür umso interessanter. Zu diesem Zweck greife er auf ein Fallbeispiel zurück, dass er anhand fiktiver Namen verfremden werde… Ein berühmter Hirnchirurg namens Dr. Michael Joyce (James Mason) hatte sich nach unglücklicher Ehe von seiner Frau getrennt und gab sich ganz der Arbeit hin. Er bemerkte nicht mal, wie zurückgezogen und geradezu einsam er inzwischen lebte, bis er eines Tages die Bekanntschaft von Emma Wright (Rosamund John) und ihrer Tochter Ann (Ann Stephens) machte. Zu Beginn war die Beziehung eine rein berufliche. Mrs. Wrights Tochter Ann wurde zunehmend blind und Dr. Joyce hinzugezogen, um die Gründe zu eruieren. Er verordnete Ann einen Klinikaufenthalt, in dessen Verlauf es sich herausstellte, dass eine Operation notwendig würde, um ihr Augenlicht zu retten. Solche verläuft erfolgreich und Michael Joyce lernt Kate Howard (Pamela Kellino) kennen, die kühle Schwägerin Emma Wrights, als er nach der Operation die aufgebrachte Mutter beruhigt. Schon bald bemerkt der Chirurg, dass er mehr Interesse an der mit einem oft abwesenden befindlinchen Geologen verheirateten Emma hat, als er haben sollte…
Der Einstieg in den Film, jenes ganze erste Viertel, ist mehr als geruhsam, es ist zäh. Das Drehbuch stammt von John Monaghan und Pamela Mason, die 1947 bereits 6 Jahre mit James Mason verheiratet war, doch als Autorin und Darstellerin hier mit dem Nachnamen ihres ersten Ehemanns, des Regisseurs Roy Kellino auftritt. Solches Drehbuch bietet eine gute Erzählung, die die Stimme James Masons aus dem Off wunderbar trägt, doch viele der Dialoge klingen abgenutzt und klischeehaft. Im zweiten Drittel kommt etwas Schwung in die Sache, das letzte vermag sogar zu überraschen, allerdings versäumt das Skript einmal mehr, drängende Fragen zu klären. Vor allem die Abwesenheit von Emmas Ehemann, Kates Bruder und Anns Vater Philip Wright, der ständig erwähnt wird und niemals auftaucht, ist zuletzt durch nichts mehr zu rechtfertigen. Das letzte Drittel hat allemal das Flair eines Film Noirs, dahin zu gelangen man allerdings 55 Minuten benötigt, und das ist selbst für den Liebhaber klassischen Erzählkinos eine Geduldsprobe. Dies zeigt, dass mit Ausnahme des Dr. Michael Joyce, des aus der Fiktion seines Namens und aus dem Hörsaal schließlich in die Realität seines Lebens entfleuchte Hirnchirurgs, keine der Figuren viel hergibt. Die zwei Frauen und das Mädchen bleiben blass. Nicht die Darstellungskunst der Schauspielerinnen sondern der Handlungsverlauf soll sie zu Persönlichkeiten aufbauen, was misslingt. So bleibt die Tatsache, dass es der Schauspieler James Mason im Verlauf eines Racheplots auf die Schauspielerin Pamela Mason abgesehen hat, bloß eine Randnotiz und kaum eines Schmunzelns wert.
Der englische Film Noir der zweiten Häfte der Vierziger hat eine Reihe bemerkenswerter Klassiker hervor gebracht, nicht zuletzt Carol Reeds im gleichen Jahr entstandenen Ausgestoßen (UK 1947), darin James Mason ebenfalls beweisen konnte, was für ein herausragender Darsteller er ist und der ihm den Weg nach Hollywood ebnete. Bei Abgründe hat man den Eindruck, dass das Ehepaar Mason persönlich engagiert war, zumal James Mason neben der Rolle des Hauptdarstellers auch noch diejenige des Co-Produzenten innehatte. Aber wenn das Drehbuch im Schlussteil schließlich noch die Moralkeule aus dem Hut zieht, wirkt ein in die Länge gestrecktes Finale umso mehr forciert. In den USA drehte James Mason im Anschluss unter der Regie von Max Ophüls zwei weitere Film-Noir-Dramen auf, nämlich Schweigegeld für Liebesbriefe (USA 1949) und Caught (USA 1949). Seine Ehefrau trat noch bis in die frühen Fünfziger hin und wieder in Cameo-Rollen in seinen Filmen auf und dann überraschend in Bill Karns grimmig kaputtem B-Film Noch fünf Minuten zu leben (USA 1961). Lawrence Huntington, der mit Das dämonische Ich (UK 1946) bereits einen besseren Film Noir abgeliefert hatte, drehte noch bis in die Mitte der Sechziger Fernseh- und Kinofilme, die heute mehr oder minder obskur sind, darunter auch den Film Noir Mann im Netz (UK 1949) mit Derek Farr und Laurence Harvey.
Abgründe erschien unter seinem Originaltitel The Upturned Glass in dem 3-DVD-Box-Set Classic British Thrillers (2008) von MPI Home Video (USA) in einer überraschend guten Bildqualität, ungekürzt im Originalformat mit englischem Ton und optional sogar mit englischen Untertiteln.