Elektrifizierung (original) (raw)

Die Schweiz gehört seit den Anfängen der Elektrizität zu den Ländern, in denen die Elektrifizierung gemäss Vergleichsdaten früh einsetzte und am weitesten fortgeschritten ist (Energie). Bis etwa 1910 wies sie die höchste Stromproduktion pro Einwohner auf (1902 81,3 kWh, 1907 165,7) und lag damit etwa gleichauf mit den USA (1902 81,2 kWh, 1907 151,2). Danach wurde sie von den beiden nordamerikanischen Ländern und Skandinavien überholt, doch mit einem Jahresstromverbrauch von 6800 kWh pro Einwohner belegte sie 1995 international den siebten Rang. Diese Leistungsfähigkeit erklärt sich vor allem durch die Präsenz einer nationalen Industrie, der es gelang, das Know-how zusammenzuführen und die Unterstützung der politischen Institutionen, der Wirtschaft und der Öffentlichkeit zu gewinnen – zumindest vor dem Atomzeitalter (Atomenergie). Bis Mitte der 1960er Jahre stand die Nutzung der Wasserkraft, einer der wenigen natürlichen Ressourcen des Landes, im Vordergrund (Stauwerke). Durch die frühzeitige und entschieden vorangetriebene Elektrifizierung vermochte die Schweiz mit dem technischen Fortschritt mitzuhalten.

Inhaltsverzeichnis

  1. Bis zum Ersten Weltkrieg: Beleuchtung, Antriebskraft und Elektroantrieb auf kleinen Bahnlinien
  2. 1919-1945: Elektrifizierung der grossen Bahnlinien und Aufkommen von Wärmeapparaten
  3. 1945 bis heute: Haushalte und Dienstleistungsbetriebe als neue Hauptbezüger
  4. Quellen und Literatur
  5. Weitere Artikelinformationen

Bis zum Ersten Weltkrieg: Beleuchtung, Antriebskraft und Elektroantrieb auf kleinen Bahnlinien

Autorin/Autor:Serge PaquierÜbersetzung:Elmar Meier

Vor dem Ersten Weltkrieg wuchs der Stromverbrauch ausserordentlich rasch an (1890-1900 durchschnittliche jährliche Zunahme um 35%, 1900-1910 um 18%), wobei 1900 die Hälfte des Stroms von der elektrochemischen Industrie erzeugt wurde. Die erste bekannte elektrische Beleuchtungsanlage wurde 1879 im Hotel Engadiner Kulm in St. Moritz in Betrieb genommen. 1889 bestanden 351 Anlagen (22% für die Textilindustrie), die etwas über 52'000 Lampen speisten (Beleuchtung). Danach war eine rasche Zunahme zu verzeichnen (1909 2,9 Mio. Lampen). Gleichzeitig befand sich die Antriebskraft auf dem Vormarsch: 1889 bestanden 24 Kraftübertragungsanlagen, 1895 bereits 121, 1909 wurden 27'000 Elektromotoren gezählt. Die Elektrifizierung der Fabriken war jedoch trotz der fortschreitenden Errichtung von Versorgungsnetzen (Elektrotechnik) noch lange nicht abgeschlossen. Erst knapp die Hälfte der Fabriken bezog ihre Energie aus einem elektrischen Verteilnetz (siehe Tabelle «Anteil der Fabriken mit Energie aus Elektrizitätswerken»). Der elektrische Antrieb der Eisenbahnen beschränkte sich zunächst vorwiegend auf kleine Bahnlinien. 1909 war fast das gesamte Tramnetz elektrifiziert (389 von 390 km). 1914 wurden 62% des lokalen Schmalspurbahnnetzes mit Elektrizität betrieben (862 von 1383 km); Zahnrad- und Standseilbahnen, von denen es in der Schweiz besonders viele gab, waren zu 60% (67 von 110 km) bzw. 83% (39 von 47 km) elektrifiziert.

1919-1945: Elektrifizierung der grossen Bahnlinien und Aufkommen von Wärmeapparaten

Autorin/Autor:Serge PaquierÜbersetzung:Elmar Meier

Der durchschnittliche jährliche Zuwachs des Stromverbrauchs verlangsamte sich nach dem Ersten Weltkrieg deutlich (1919-1939 ca. 5%), was auf die höhere Ausgangsbasis und die Wirtschaftskrisen zurückzuführen ist. Der Schock über die Schwierigkeiten bei der Kohleversorgung während des Ersten Weltkriegs trieb jedoch den Elektrifizierungsprozess stark voran. Mit dem Schwung der Vorkriegsjahre verbreiteten sich der Licht- und Kraftstrom weiter: 1933 wurden 13,2 Mio. Lampen und 335'000 Elektromotoren gezählt. Kurz vor dem Zweiten Weltkrieg waren nahezu alle Fabriken elektrifiziert. Mit der Elektrifizierung der grossen Bahnlinien und der raschen Verbreitung von Wärmeapparaten (Kochherde, Boiler, Bügeleisen, Heizkörper, Haushaltsmaschinen) verstärkten sich im Ersten Weltkrieg auch in diesen Bereichen die vorher nur zögerlich einsetzenden Entwicklungen. 1913 wurden etwas weniger als 7% der Normalspurlinien mit Elektrizität betrieben, 1933 bereits 66%. Dies war vor allem das Verdienst der Schweizerischen Bundesbahnen, die massgeblich dazu beitrugen, dass die Schweiz innerhalb Europas an der Spitze lag. Nach Abschluss der ersten Phase 1928 war ihr Netz zu 55% elektrifiziert, was 81% des Schienenverkehrs entsprach. 1939 lag ein Elektrifizierungsgrad von 74% vor (93% des Schienenverkehrs). Im selben Jahr waren 77% des gesamten schweizerischen Eisenbahnnetzes elektrifiziert, während der europäische Durchschnitt bei 5% lag. In gleichem Masse verbreiteten sich die Wärmeapparate. 1912 waren rund 80'000 Geräte im Einsatz; Kochherde und Warmwasseraufbereiter wurden noch vorwiegend mit Gas betrieben. Ab Kriegsmitte stieg die jährliche Zuwachsrate rapid an: 1916 betrug sie 30'000, im Folgejahr 100'000 Apparate. Danach hielt diese Entwicklung trotz der Währungskrise Anfang der 1920er Jahre und der Weltwirtschaftskrise in den 1930er Jahren weiter an. 1921 erreichte das Wachstum mit 52'000 Apparaten einen Tiefpunkt; zu Beginn der 1930er Jahre betrug die Zunahme über 114'000 Apparate.

Anteil der Fabriken mit Energie aus Elektrizitätswerken (in %)

Anteil der Fabriken mit Energie aus Elektrizitätswerken (in %) - Fabrikstatistik; Autor

1945 bis heute: Haushalte und Dienstleistungsbetriebe als neue Hauptbezüger

Autorin/Autor:Serge PaquierÜbersetzung:Elmar Meier

Wie der Erste führte auch der Zweite Weltkrieg zu einer gesteigerten Nachfrage nach Elektrizität. 1945 war der höchste Grad der Wasserkraftnutzung im Vergleich zu den anderen Energiequellen erreicht. Ab den 1950er Jahren nahm der Stromverbrauch ziemlich gleichmässig zu. Die beiden Ölkrisen förderten die Verbreitung der Elektrizität, obwohl die jährliche Zuwachsrate ab 1960 unter 5% sank. Stimulierend auf den Stromverbrauch wirkten die beiden Verbrauchergruppen Haushalte und Dienstleistungsbetriebe, die neue Bedürfnisse manifestierten. 1975-1995 steigerte die erste Gruppe ihren Verbrauch um 106%, die zweite um 90%. 1993 entfiel ein Drittel des gesamten Strombedarfs auf die Haushalte. Nach amerikanischem Vorbild und entsprechend dem wachsenden Angebot an Wärmeapparaten rüsteten sich die Schweizer Haushalte auch mit neuen Geräten aus (Tumbler, Tiefkühler, Computer usw.). Dass die alten Apparate zunehmend durch neue, immer leistungsfähigere Geräte ersetzt wurden, trug wesentlich zu dieser Entwicklung bei. Der Stromverbrauch der Dienstleistungsbetriebe widerspiegelt das Wachstum des 3. Sektors. Dessen heterogene Zusammensetzung (Büros, Gaststätten, Sportanlagen, Spitäler, Kinos, Schulen usw.) macht es jedoch schwierig, die Anwendungsbereiche der Elektrizität zu analysieren. Hervorzuheben ist die sehr rasche Einführung der Informatik (Informatisierung).

Nicht durchgesetzt hat sich bislang die Elektrifizierung im Individualverkehr. Das Elektromobil ist aus verschiedenen Gründen (schwerer Motor, fehlende Ladestationen, Konkurrenz des Erdöls) eine Ausnahmeerscheinung geblieben.

Grad der Elektrifizierung im Privathaushalt (%-Anteil elektrischer Apparate)

Apparat 1915 1945 1975 1995
Kochherd <1 28 70 86
Boiler <1 -a 34 29
Geschirrspülmaschine 0 0 13 40
Kühlschrank 0 2 86 97
Dampfabzug/Lüftung 0 0 19 50
Fernsehapparat 0 0 70 87
Bügeleisen 3 82 95 96
Staubsauger <1 - 87 95
Computer 0 0 0 28
Heizung 0 <1 2 7

a Anteil am gesamten Stromverbrauch in Haushaltungen: 48%

Grad der Elektrifizierung im Privathaushalt ~(%-Anteil elektrischer Apparate) - Mutzner, Jürg: Die Stromversorgung der Schweiz, 1995, S. 15

Quellen und Literatur

Literatur

Von der Redaktion ergänzt

Weblinks

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Normdateien

Zitiervorschlag

Serge Paquier: "Elektrifizierung", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 09.09.2010, übersetzt aus dem Französischen. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/013845/2010-09-09/, konsultiert am 02.01.2025.