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Das Buch der Natur als (frauen-)medizinhistorische Quelle "Nu schüll wir ain tail sagen, wie er i... more Das Buch der Natur als (frauen-)medizinhistorische Quelle "Nu schüll wir ain tail sagen, wie er in die werlt kom" Spuren hippokratischer und aristotelischer Theorien über Zeugung, Schwangerschaft und Geburt bei Konrad von Megenberg. Untersuchung und Kommentar Schriftliche Hausarbeit im Rahmen der ersten Staatsprüfung für das Lehramt an Gymnasien und Gesamtschulen, dem Landesamt für Erste Staatsprüfungen für Lehrämter an Schulen in NRW 1. Einleitung Wenn wir die Darstellungen von Zeugung, Schwangerschaft und Geburt im Buch der Natur (BdN) Konrads von Megenberg betrachten, dann begegnen uns heute zunächst ungewöhnliche Aussagen. Wir lesen, daß zur Zeugung eines Kindes der Samen des Mannes und der Samen der Frau nowendig sei. Oder daß die Kindsbewegungen bei einem Knaben grundsätzlich einen Monat früher einsetzten als bei einem Mädchen. Wir erfahren, daß eine Frau, die mit einem Knaben schwanger ist, zuerst den rechten Fuß aufsetze, wenn sie sich fortbewege oder daß körperliche Mißbildungen entstünden, wenn sich die Frau beim Geschlechtsverkehr nicht gerade hielte. Wir vernehmen Begriffe wie "heißer Samen" oder lesen von aufgrund einer zu warmen Gebärmutter vorzeitig ausgereiften Feten. Solche Aussagen wollen wir in dieser Arbeit als Spuren verstehen, Spuren, die verweisen auf antike medizinische Theorien von Zeugung, Schwangerschaft und Geburt, die wir aber, gleichsam eines Fährtenlesers, der die Spuren eines Tieres entdeckt hat, untersuchen wollen, um zu sehen, was sich dahinter verbirgt. Um diese Spuren lesen zu können, müssen wir uns vergegenwärtigen, daß wir, wenn wir das BdN konsultieren, auf eine jahrtausendealte Geschichte der -nicht nur -wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Zeugung, Schwangerschaft und Geburt zurückblicken. Die Frage nach der Entstehung eines Menschen ist vermutlich beinahe genauso alt wie das Menschengeschlecht selbst. Für uns sind die ersten greifbaren Zeugen der Vorstellungen, die sich Menschen über Zeugung, Schwangerschaft und Geburt gemacht haben, schriftliche Quellen aus dem Altertum. Diese Darstellungen sind vor allem dadurch gekennzeichnet, daß sie nicht wissenschaftlich aufgebaut sind, sondern ihr Inhalt vielfach literarisch überformt ist und die Konzeption in einem kosmologischen Zusammenhang betrachtet wird. 1 Erst in der Antike, genauer, im ausgehenden 6. Jahrhundert v. Chr., erörterte der griechische Naturphilosoph Alkmaion von Kroton erstmalig die Frage nach den verantwortlichen, biologischen Faktoren bei der Zeugung des Menschen. 2 In seiner Nachfolge entstanden in den verschiedenen antiken medizinischen und naturphilosophischen Schulen -Alexandriner, Atomisten, Hippokratiker, Empiriker, Methodiker und Pneumatiker -1 Schon in sumerischen Texten wird zwar ein Same des Mannes beschrieben, der von der Frau "gepackt" werde, wenn er in diese hineinflösse, ebenso wird aber behauptet, daß künftige Könige von Gottheiten im Uterus geformt würden (vgl. STOL 2000, S. 98). Bei den Babyloniern war die Geburtsgöttin Beleti-ili die Schöpferin von Göttern und Menschen und "formte" das werdende Geschöpf; zudem konnte sie Unfruchtbarkeit verursachen (vgl. ebd., S. 103). Einem ägyptischen Text der Perserzeit entnehmen wir, daß der altägyptische Wind-und Fruchtbarkeitsgott Amun das Kind im Mutterleib zum Leben erwecke (vgl. LEITZ 2000, S. 133). 2 Über Alkmaion von Kroton informiert einleitend: ANTIKE MEDIZIN, s.v. "Alkmaion v. Kroton", Sp. 30. 2 unterschiedliche medizinische und naturphilosophische Theorien zur Empfängnis und Embryonalentwicklung. Die zentralen Fragestellungen waren im Altertum und in der Antike weitestgehend identisch und ergründeten (1.) die Herkunft des Zeugungsstoffes, (2.) die Determination des Geschlechts, (3.) den Anteil von Mann und Frau bei der Zeugung und Geschlechtsdifferenzierung, (4.) die Vererbung von Anlagen, (5.) die Ernährung und das Wachstum des Embryos und (6.) die Dauer der Schwangerschaft. 3 Diese Fragen waren jedoch nicht nur in der Antike zentrale Untersuchungs-und Forschungsgegenstände der Frauenmedizin, sondern blieben es teilweise bis in die Neuzeit hinein, bis mithilfe der modernen Genetik des 20. Jahrhunderts Antworten gefunden werden konnten, die auch heute noch Gültigkeit besitzen Neben diesen medizinhistorischen Aspekten müssen wir ebenso die Funktion und die Konstruktionsprinzipien des BdN beachten, um diese Texte erschließen zu können. Das BdN ist der Gattung der Fachliteratur zuzuordnen, genauer, der deutschsprachigen Fachprosa des Mittelalters. Ohne im folgenden auf die nicht trennscharfe -formale und inhaltliche -Abgrenzung der Fachliteratur von der übrigen -oftmals als poetisch bezeichneten -Literatur des Mittelalters einzugehen, wollen wir an dieser Stelle festhalten, daß wir Fachliteratur zunächst einmal als wissenschaftliche Literatur begreifen, welche sich neben dem wissenschafltichen Inhalt durch die Funktionen der Anwendung und Wissenskonservierung auszeichnet. 4 Wie aber funktionierte Wissenschaft im Hochmittelalter? Im Hochmittelalter setzte im abendländischen Europa aufgrund des wiederentdeckten antiken Schriftgutes, welches schon seit frühmittelalterlicher Zeit von den Arabern überliefert wurde und im Zuge der Reconquista über Spanien in den abendländischen Kulturkreis gelangte, eine Wissenschaftsreform ein. Im Zuge dieser Reform wurde der Transfer, die Kompilierung und die Tradierung des antiken Wissens zum zentralen Bestandteil der wissenschaftlichen Praxis. Bis ins Spätmittelalter wurden die Werke der antiken Autoren und deren mittelalterlichen Abschriften immer wieder exzerpiert, und das Wissen der 3 Vgl. SCHUBERT / HUTTNER 1999, S. 459 und LEITZ 2000, S. 133-135. 4 In der Mediävistik wird nichtfiktionale Fachliteratur von fiktionaler Literatur wie Epik oder Lyrik formal dadurch unterschieden, daß sie nicht ästhetisiert und in Prosa statt in Versform verfaßt ist. Inhaltlich lassen sich die Texte innerhalb des antiken artes-Systems verorten, betreffen also die septem artes liberales, die septem artes mechanicae oder die artes magicae. Zudem zielt Fachliteratur auf Funktionalität ab, d.h. sie dient der Konservierung von Weltwissen und hat einen auf Vermittlung, Handlungsanweisung und Praxisnähe ausgerichteten Rezeptcharakter (vgl. BEIN 2005, S. 180f.) Für die beinahe prototypischen Vertreter der Fachliteratur wie Anleitungen zum Bauen, Jagen, Kochen oder Operieren mögen diese Unterscheidungskriterien hinreichend sein. Problematisch wird es aber bei Werken wie Der meide kranz Heinrichs von Mügeln. Darin wird die Frage nach der vortrefflichsten der artes-Künste nachgegangen. Der fraglos wissenschaftliche Inhalt wird aber als fiktionale Handlung dargeboten, zudem in ästhetisierter Versform.