hildegard Cancik-Lindemaier - Academia.edu (original) (raw)
Papers by hildegard Cancik-Lindemaier
Saeculum, 1990
Die historische Frauenforschung hat in den beiden letzten Jahrzehnten durch ihre Untersuchungen z... more Die historische Frauenforschung hat in den beiden letzten Jahrzehnten durch ihre Untersuchungen zur Geschichte der Frauen besonders im 19. Jh., zur Geschichte der Technik und ihrer Auswirkungen auf die Arbeitsweh nachgewiesen, daß-neben anderen-das Geschlecht einen wichtigen Faktor auf der Objektebene und eine erkenntnissteuernde Kategorie in der Forschung darstellt'. Die Geschichte von Frauen fällt, selbst bei gleichen Schichten, Klassen, Arbeitsbedingungen usw., nicht mit der von Männern zusammen. Der weibüche Blick in der Forschung vermag neue Prospekte zu eröffnen. Das Unternehmen, Frauen als Subjekte von Geschichte zu sehen, ist nicht ungefährdet. Für bestimmte Richtungen ist Frauenforschung eine Suche nach Modellen zur Selbstfindung. Eine Art Fundamentalismus sucht Leitbilder in einem urgeschichtlichen Status heiler Weiblichkeit, der im Laufe der Geschichte verlorengegangen oder zerstört worden sein soll-. Dies ist wohl nicht zufällig eine Analogie zu dem ehrwürdigen Dekadenzmodell der Religionsgeschichte. Das Feld der Religionen scheint für derartige Identitätssuche besonders geeignet. Religionen bewahren, so heißt es, die Verbindung zu den ,Ursprüngen', zumal die ,alten', vor-christlichen, in denen es überdies Frauenkulte und Priesterinnen gibt. Was liegt näher, als hier die Spuren jener Frühgeschichte zu finden? Der Vestakult ist eine wichtige Institution der römischen Staatsreligion. Er wird von sechs Priesterinnen versehen, die von Amts wegen ungewöhnliche Privilegien und hohe Ehren genießen. Cicero hat in einer politischen Rede die Bedeutung der virgines Vestae für Religion und Staat der Römer pointiert zusammengefaßt: cuius preces si di aspernarentur haec salva esse non possent-"wenn die Götter ihre Bitten verschmähten, dann könnte dieses Gemeinwesen nicht heil sein"
Im Sommersemester 1865 hielt Otto Jahn eine funfstundige Vorlesung, jeweils um 12 Uhr, uber »Grun... more Im Sommersemester 1865 hielt Otto Jahn eine funfstundige Vorlesung, jeweils um 12 Uhr, uber »Grundzuge der Archaologie«.1 Die Vorlesung hatte zwei Teile: »1. Geschichte dieser Disciplin. 2. Ori-entirung in den Kunstwerken. Dies beides dient als Einleitung zur Kunstgeschichte.«2
1. In den »Notizen zu Wir Philologen«, die einmal die vierte Unzeitgemase Betrachtung hatten werd... more 1. In den »Notizen zu Wir Philologen«, die einmal die vierte Unzeitgemase Betrachtung hatten werden sollen, hat Nietzsche Materialien zur Bildungsreform, zur Kritik der klassischen Philologie und der deutschen Kultur uberhaupt gesammelt.2 Hinzu kommen zahlreiche Notizen zu Entstehung und Aufbau der griechischen Kultur. Diese ist auch hier das Mittel und das Paradigma fur jede Bildung und Kultur. Die Griechen sind »das Genie unter den Volkern« (S. 169 = 5[70]): »Kindes-Natur. Leichtglaubig. Leidenschaftlich. Unbewust leben sie der Erzeugung des Genius«. Ihre Kreativitat ruhrt, so vermutet Nietzsche, daher, das die Eroberer, die uber das kunftige Griechenland herfielen, sich ihre aggressive Energie bewahrt haben, ihren »Culturstaat« auf einen »Raubstaat« grundeten.3
Feindbilder sollen Akzeptanz für Gewalt und Krieg erzeugen. Sie können nur durch konkrete histori... more Feindbilder sollen Akzeptanz für Gewalt und Krieg erzeugen. Sie können nur durch konkrete historische Verortung erkannt werden. Dabei muß die kulturwissenschaftliche Analyse das gesamte Rollenrepertoire der jeweiligen Kultur, also auch deren Wertsetzungen, einbeziehen. Als ein Beispiel für kulturwissenschaftliche Friedensforschung werden Thesen zur Funktion des Wortes "Opfer" vorgestellt. Diese Übertragung aus der religiösen Sprache dient der Sakralisierung und Legitimierung von Gewalt, der Entlastung von Verantwortung und der Ausschaltung von Kritik. (DIPF/Orig.)
Berolinensia
Franz Overbeck hat sechs Rezensionen zu Werken Adolf Harnacks (ab 1888 Professor der Kirchengesch... more Franz Overbeck hat sechs Rezensionen zu Werken Adolf Harnacks (ab 1888 Professor der Kirchengeschichte in Berlin) verfast,1 die hier abgedruckte ist die letzte (1883). In der ersten Rezension (1874) ist ein prazeptoraler Ton nicht zu uberhoren, wenn der siebenunddreisigjahrige Basler Professor den Dreiundzwanzigjahrigen bescheidet: »Die Darstellung des Verf.’s ist wenig anmuthig. Ausdrucken wie ›der Wir-kungsumfang Marcion’s‹ wird man nicht wieder zu begegnen wunschen, so willkommen man sonst die Fortsetzung der Untersuchungen des Verf.’s heisen wird, […]«.2 Es folgen vier Rezensionen zu Harnacks Bemuhungen um Edition und Kommentierung der apostolischen Vater, einer Aufgabe, die Overbeck sich selbst nicht gestellt hat. Die Kritik ist respektvoll, »Fleis« ein haufig erteiltes Pradikat. Schon 1876 nennt Overbeck Harnack seinen »freundlichen Gegner«.3
Philolog und Kultfigur
Berlin ist der Ort, an dem sich die fruheste Spur einer organisierten Rezeption Nietzsches festst... more Berlin ist der Ort, an dem sich die fruheste Spur einer organisierten Rezeption Nietzsches feststellen last. Es handelt sich um einen »Nietzsche-Kreis«, der im Winter 1891/92 Frau Elisabeth Forster geb. Nietzsche bei ihrem Besuch in Berlin ehrfurchtsvoll aufnimmt.2 Ein Jahr spater schreibt sie aus dem fernen, aber wenigstens judenfreien, Neu-Germanien in Paraguay an Peter Gast,3 er moge doch einmal nach Berlin fahren; dort werde man ihn, den alten Freund Nietzsches, »in einem gewissen Nietzsche-Kreis auf Handen tragen […]. Vorzuglich ein Dr. Koegel und Dr. Meyer wurden Ihnen sympathisch sein; sie lieben Nietzsche nicht nur mit dem Kopf«.4 Nur ein Jahr spater, nachdem die energische › Pionierfrau ‹ (Peters) nach Naumburg zuruckgekehrt war, findet sich, im November 1893, die wohl fruheste Nennung jener Institution, die fur die gesamte Nietzsche-Rezeption entscheidend geworden ist: das Archiv. Zuerst kleiner Familienbesitz: zwei Zimmer im Parterre des Hauses am Weingarten 18; im Obergeschos wohnen der kranke Nietzsche und die Mutter Franziska.5 Nach wenigen Jahren ist das familiare »Archivzimmer« mutiert in ein expansives Publikations- und Kulturzentrum mit Sitz im Allerheiligsten der deutschen Kultur: Weimar, Luisenstr. 36, Villa Silberblick; »Nietzsche-Archiv« steht uber dem Eingang.
Philolog und Kultfigur
KULT UNO BILDUNGSREFORM seine reine und scharfe Antithese den Rück-und Umschlag in das Religiöse ... more KULT UNO BILDUNGSREFORM seine reine und scharfe Antithese den Rück-und Umschlag in das Religiöse selbst am stärksten zu bewirken, während für die Massen der Nietzsche-Kultus eine Mode ist, in der neurasthenische Sklavenseelen sich am Jargon der Herrensprache berauschen oder vergnügen. Häckels Philosophie gehört zu den ephemeren Riesenerfolgen der Plattheit, die immer wiederkehren und die durch solche anderer Plattheiten abgelöst zu werden pflegen.« Um 1910 also hat, in der Sicht des evangelischen Historikers, der »Nietzsche-Kultus« die »Massen« ergriffen: offenbar nicht die Arbeiter, sondern die Bürger, vor allem die Intelligenz und die bürgerliche Jugend. Den Ausdruck »Nietzsche-Kultus« erklärt Troeltsch nicht; er war um 1910 schon geläufig. Der früheste Beleg, den ich kenne, stammt aus dem Jahre 1895. Harry Graf Kessler kommentiert die Forderung der konservativen Kreuzzeitung, Nietzsches Werke seien zu verbieten, mit folgenden Worten: 6 »Damit wird er (seil. der Autor der Kreuzzeitung) beim heutigen Stande des Nietzsche-Kultus in allen und gerade den besten Kreisen der studierten Jugend keine Freunde gewinnen. Es gibt wohl heute in Deutschland keinen leidlich gescheiten studierten oder gebildeten Mann von zwanzig bis dreißig Jahren, der nicht Nietzsche einen Teil seiner Weltanschauung verdankte.« Die Beschäftigung mit Nietzsches Werken wurde also schon vor der Gründung des Nietzsche-Archivs in Weimar (1896) und vor dem Tode Nietzsches (25. August 1900) als eine Art religiöser Betätigung verstanden. Worin diese-abgesehen von der Lektüre und der Betrachtung von symbolischem Buchschmuck und Nietzsche-Andenken-bestand, ist auch bei Kessler nicht festzustellen. Doch haben Freunde und Gegner Nietzsches das religiöse Vokabular reichlich benutzt:
1.1 Die »Rectoratsrede, gehalten am 17. Oct. 1876, in der Aula zu Basel« ist, wie Overbeck spater... more 1.1 Die »Rectoratsrede, gehalten am 17. Oct. 1876, in der Aula zu Basel« ist, wie Overbeck spater auf das Titelblatt dieser Rede schrieb, die »Erste Form meines Basler Programms von 1892«.1 Beide Texte tragen den Titel »Uber die Anfange der Kirchengeschichtsschreibung«. Die Rede von 1876 stimmt in Themastellung, Aufbau und Argumentation mit dem Programm von 1892 uberein: Eusebius, und nur dieser sei der »Vater der Kirchengeschichtsschreibung«; es bestehe kein lite-rargeschichtlicher »Zusammenhang« mit Lucas und Hegesipp; die Chronik des Euseb sei der Ursprung seiner »Kirchengeschichte«, und deren Ursprung wiederum sei die christliche Chronographie mit ihren primar apologetischen Zwecken.2
Philolog und Kultfigur
Im Marz 1875, als der einhundertste Geburtstag der modernen deutschen Philologie nahte, gestaltet... more Im Marz 1875, als der einhundertste Geburtstag der modernen deutschen Philologie nahte, gestalteten Friedrich Nietzsche und Carl von Gersdorff zu Basel ein Titelblatt fur die nachste Unzeitgemase Betrachtung.
«Baur von Tubingen« — in dieser Formel hat Overbeck in seiner Basler Antrittsvorlesung1 die Bedeu... more «Baur von Tubingen« — in dieser Formel hat Overbeck in seiner Basler Antrittsvorlesung1 die Bedeutung des Meisters der ›Tubinger Schule‹ epigrammatisch verdichtet.
Eine Gruppe von sechs Frauen war bestellt, den Kult fur Vesta als Teil des romischen Staatskultes... more Eine Gruppe von sechs Frauen war bestellt, den Kult fur Vesta als Teil des romischen Staatskultes zu besorgen. Diese Einrichtung ist einzigartig im Rahmen der antiken Religionen des Mittelmeerraumes. Ist sie auch reprasentativ oder — in allgemeinerem Sinne — paradigmatisch? Und wenn, wofur?
Berlin ist der Ort, an dem sich die fruheste Spur einer organisierten Rezeption Nietzsches festst... more Berlin ist der Ort, an dem sich die fruheste Spur einer organisierten Rezeption Nietzsches feststellen last. Es handelt sich um einen »Nietzsche-Kreis«, der im Winter 1891/92 Frau Elisabeth Forster geb. Nietzsche bei ihrem Besuch in Berlin ehrfurchtsvoll aufnimmt.2 Ein Jahr spater schreibt sie aus dem fernen, aber wenigstens judenfreien, Neu-Germanien in Paraguay an Peter Gast,3 er moge doch einmal nach Berlin fahren; dort werde man ihn, den alten Freund Nietzsches, »in einem gewissen Nietzsche-Kreis auf Handen tragen […]. Vorzuglich ein Dr. Koegel und Dr. Meyer wurden Ihnen sympathisch sein; sie lieben Nietzsche nicht nur mit dem Kopf«.4 Nur ein Jahr spater, nachdem die energische › Pionierfrau ‹ (Peters) nach Naumburg zuruckgekehrt war, findet sich, im November 1893, die wohl fruheste Nennung jener Institution, die fur die gesamte Nietzsche-Rezeption entscheidend geworden ist: das Archiv. Zuerst kleiner Familienbesitz: zwei Zimmer im Parterre des Hauses am Weingarten 18; im Oberge...
Saeculum, 1990
Die historische Frauenforschung hat in den beiden letzten Jahrzehnten durch ihre Untersuchungen z... more Die historische Frauenforschung hat in den beiden letzten Jahrzehnten durch ihre Untersuchungen zur Geschichte der Frauen besonders im 19. Jh., zur Geschichte der Technik und ihrer Auswirkungen auf die Arbeitsweh nachgewiesen, daß-neben anderen-das Geschlecht einen wichtigen Faktor auf der Objektebene und eine erkenntnissteuernde Kategorie in der Forschung darstellt'. Die Geschichte von Frauen fällt, selbst bei gleichen Schichten, Klassen, Arbeitsbedingungen usw., nicht mit der von Männern zusammen. Der weibüche Blick in der Forschung vermag neue Prospekte zu eröffnen. Das Unternehmen, Frauen als Subjekte von Geschichte zu sehen, ist nicht ungefährdet. Für bestimmte Richtungen ist Frauenforschung eine Suche nach Modellen zur Selbstfindung. Eine Art Fundamentalismus sucht Leitbilder in einem urgeschichtlichen Status heiler Weiblichkeit, der im Laufe der Geschichte verlorengegangen oder zerstört worden sein soll-. Dies ist wohl nicht zufällig eine Analogie zu dem ehrwürdigen Dekadenzmodell der Religionsgeschichte. Das Feld der Religionen scheint für derartige Identitätssuche besonders geeignet. Religionen bewahren, so heißt es, die Verbindung zu den ,Ursprüngen', zumal die ,alten', vor-christlichen, in denen es überdies Frauenkulte und Priesterinnen gibt. Was liegt näher, als hier die Spuren jener Frühgeschichte zu finden? Der Vestakult ist eine wichtige Institution der römischen Staatsreligion. Er wird von sechs Priesterinnen versehen, die von Amts wegen ungewöhnliche Privilegien und hohe Ehren genießen. Cicero hat in einer politischen Rede die Bedeutung der virgines Vestae für Religion und Staat der Römer pointiert zusammengefaßt: cuius preces si di aspernarentur haec salva esse non possent-"wenn die Götter ihre Bitten verschmähten, dann könnte dieses Gemeinwesen nicht heil sein"
Im Sommersemester 1865 hielt Otto Jahn eine funfstundige Vorlesung, jeweils um 12 Uhr, uber »Grun... more Im Sommersemester 1865 hielt Otto Jahn eine funfstundige Vorlesung, jeweils um 12 Uhr, uber »Grundzuge der Archaologie«.1 Die Vorlesung hatte zwei Teile: »1. Geschichte dieser Disciplin. 2. Ori-entirung in den Kunstwerken. Dies beides dient als Einleitung zur Kunstgeschichte.«2
1. In den »Notizen zu Wir Philologen«, die einmal die vierte Unzeitgemase Betrachtung hatten werd... more 1. In den »Notizen zu Wir Philologen«, die einmal die vierte Unzeitgemase Betrachtung hatten werden sollen, hat Nietzsche Materialien zur Bildungsreform, zur Kritik der klassischen Philologie und der deutschen Kultur uberhaupt gesammelt.2 Hinzu kommen zahlreiche Notizen zu Entstehung und Aufbau der griechischen Kultur. Diese ist auch hier das Mittel und das Paradigma fur jede Bildung und Kultur. Die Griechen sind »das Genie unter den Volkern« (S. 169 = 5[70]): »Kindes-Natur. Leichtglaubig. Leidenschaftlich. Unbewust leben sie der Erzeugung des Genius«. Ihre Kreativitat ruhrt, so vermutet Nietzsche, daher, das die Eroberer, die uber das kunftige Griechenland herfielen, sich ihre aggressive Energie bewahrt haben, ihren »Culturstaat« auf einen »Raubstaat« grundeten.3
Feindbilder sollen Akzeptanz für Gewalt und Krieg erzeugen. Sie können nur durch konkrete histori... more Feindbilder sollen Akzeptanz für Gewalt und Krieg erzeugen. Sie können nur durch konkrete historische Verortung erkannt werden. Dabei muß die kulturwissenschaftliche Analyse das gesamte Rollenrepertoire der jeweiligen Kultur, also auch deren Wertsetzungen, einbeziehen. Als ein Beispiel für kulturwissenschaftliche Friedensforschung werden Thesen zur Funktion des Wortes "Opfer" vorgestellt. Diese Übertragung aus der religiösen Sprache dient der Sakralisierung und Legitimierung von Gewalt, der Entlastung von Verantwortung und der Ausschaltung von Kritik. (DIPF/Orig.)
Berolinensia
Franz Overbeck hat sechs Rezensionen zu Werken Adolf Harnacks (ab 1888 Professor der Kirchengesch... more Franz Overbeck hat sechs Rezensionen zu Werken Adolf Harnacks (ab 1888 Professor der Kirchengeschichte in Berlin) verfast,1 die hier abgedruckte ist die letzte (1883). In der ersten Rezension (1874) ist ein prazeptoraler Ton nicht zu uberhoren, wenn der siebenunddreisigjahrige Basler Professor den Dreiundzwanzigjahrigen bescheidet: »Die Darstellung des Verf.’s ist wenig anmuthig. Ausdrucken wie ›der Wir-kungsumfang Marcion’s‹ wird man nicht wieder zu begegnen wunschen, so willkommen man sonst die Fortsetzung der Untersuchungen des Verf.’s heisen wird, […]«.2 Es folgen vier Rezensionen zu Harnacks Bemuhungen um Edition und Kommentierung der apostolischen Vater, einer Aufgabe, die Overbeck sich selbst nicht gestellt hat. Die Kritik ist respektvoll, »Fleis« ein haufig erteiltes Pradikat. Schon 1876 nennt Overbeck Harnack seinen »freundlichen Gegner«.3
Philolog und Kultfigur
Berlin ist der Ort, an dem sich die fruheste Spur einer organisierten Rezeption Nietzsches festst... more Berlin ist der Ort, an dem sich die fruheste Spur einer organisierten Rezeption Nietzsches feststellen last. Es handelt sich um einen »Nietzsche-Kreis«, der im Winter 1891/92 Frau Elisabeth Forster geb. Nietzsche bei ihrem Besuch in Berlin ehrfurchtsvoll aufnimmt.2 Ein Jahr spater schreibt sie aus dem fernen, aber wenigstens judenfreien, Neu-Germanien in Paraguay an Peter Gast,3 er moge doch einmal nach Berlin fahren; dort werde man ihn, den alten Freund Nietzsches, »in einem gewissen Nietzsche-Kreis auf Handen tragen […]. Vorzuglich ein Dr. Koegel und Dr. Meyer wurden Ihnen sympathisch sein; sie lieben Nietzsche nicht nur mit dem Kopf«.4 Nur ein Jahr spater, nachdem die energische › Pionierfrau ‹ (Peters) nach Naumburg zuruckgekehrt war, findet sich, im November 1893, die wohl fruheste Nennung jener Institution, die fur die gesamte Nietzsche-Rezeption entscheidend geworden ist: das Archiv. Zuerst kleiner Familienbesitz: zwei Zimmer im Parterre des Hauses am Weingarten 18; im Obergeschos wohnen der kranke Nietzsche und die Mutter Franziska.5 Nach wenigen Jahren ist das familiare »Archivzimmer« mutiert in ein expansives Publikations- und Kulturzentrum mit Sitz im Allerheiligsten der deutschen Kultur: Weimar, Luisenstr. 36, Villa Silberblick; »Nietzsche-Archiv« steht uber dem Eingang.
Philolog und Kultfigur
KULT UNO BILDUNGSREFORM seine reine und scharfe Antithese den Rück-und Umschlag in das Religiöse ... more KULT UNO BILDUNGSREFORM seine reine und scharfe Antithese den Rück-und Umschlag in das Religiöse selbst am stärksten zu bewirken, während für die Massen der Nietzsche-Kultus eine Mode ist, in der neurasthenische Sklavenseelen sich am Jargon der Herrensprache berauschen oder vergnügen. Häckels Philosophie gehört zu den ephemeren Riesenerfolgen der Plattheit, die immer wiederkehren und die durch solche anderer Plattheiten abgelöst zu werden pflegen.« Um 1910 also hat, in der Sicht des evangelischen Historikers, der »Nietzsche-Kultus« die »Massen« ergriffen: offenbar nicht die Arbeiter, sondern die Bürger, vor allem die Intelligenz und die bürgerliche Jugend. Den Ausdruck »Nietzsche-Kultus« erklärt Troeltsch nicht; er war um 1910 schon geläufig. Der früheste Beleg, den ich kenne, stammt aus dem Jahre 1895. Harry Graf Kessler kommentiert die Forderung der konservativen Kreuzzeitung, Nietzsches Werke seien zu verbieten, mit folgenden Worten: 6 »Damit wird er (seil. der Autor der Kreuzzeitung) beim heutigen Stande des Nietzsche-Kultus in allen und gerade den besten Kreisen der studierten Jugend keine Freunde gewinnen. Es gibt wohl heute in Deutschland keinen leidlich gescheiten studierten oder gebildeten Mann von zwanzig bis dreißig Jahren, der nicht Nietzsche einen Teil seiner Weltanschauung verdankte.« Die Beschäftigung mit Nietzsches Werken wurde also schon vor der Gründung des Nietzsche-Archivs in Weimar (1896) und vor dem Tode Nietzsches (25. August 1900) als eine Art religiöser Betätigung verstanden. Worin diese-abgesehen von der Lektüre und der Betrachtung von symbolischem Buchschmuck und Nietzsche-Andenken-bestand, ist auch bei Kessler nicht festzustellen. Doch haben Freunde und Gegner Nietzsches das religiöse Vokabular reichlich benutzt:
1.1 Die »Rectoratsrede, gehalten am 17. Oct. 1876, in der Aula zu Basel« ist, wie Overbeck spater... more 1.1 Die »Rectoratsrede, gehalten am 17. Oct. 1876, in der Aula zu Basel« ist, wie Overbeck spater auf das Titelblatt dieser Rede schrieb, die »Erste Form meines Basler Programms von 1892«.1 Beide Texte tragen den Titel »Uber die Anfange der Kirchengeschichtsschreibung«. Die Rede von 1876 stimmt in Themastellung, Aufbau und Argumentation mit dem Programm von 1892 uberein: Eusebius, und nur dieser sei der »Vater der Kirchengeschichtsschreibung«; es bestehe kein lite-rargeschichtlicher »Zusammenhang« mit Lucas und Hegesipp; die Chronik des Euseb sei der Ursprung seiner »Kirchengeschichte«, und deren Ursprung wiederum sei die christliche Chronographie mit ihren primar apologetischen Zwecken.2
Philolog und Kultfigur
Im Marz 1875, als der einhundertste Geburtstag der modernen deutschen Philologie nahte, gestaltet... more Im Marz 1875, als der einhundertste Geburtstag der modernen deutschen Philologie nahte, gestalteten Friedrich Nietzsche und Carl von Gersdorff zu Basel ein Titelblatt fur die nachste Unzeitgemase Betrachtung.
«Baur von Tubingen« — in dieser Formel hat Overbeck in seiner Basler Antrittsvorlesung1 die Bedeu... more «Baur von Tubingen« — in dieser Formel hat Overbeck in seiner Basler Antrittsvorlesung1 die Bedeutung des Meisters der ›Tubinger Schule‹ epigrammatisch verdichtet.
Eine Gruppe von sechs Frauen war bestellt, den Kult fur Vesta als Teil des romischen Staatskultes... more Eine Gruppe von sechs Frauen war bestellt, den Kult fur Vesta als Teil des romischen Staatskultes zu besorgen. Diese Einrichtung ist einzigartig im Rahmen der antiken Religionen des Mittelmeerraumes. Ist sie auch reprasentativ oder — in allgemeinerem Sinne — paradigmatisch? Und wenn, wofur?
Berlin ist der Ort, an dem sich die fruheste Spur einer organisierten Rezeption Nietzsches festst... more Berlin ist der Ort, an dem sich die fruheste Spur einer organisierten Rezeption Nietzsches feststellen last. Es handelt sich um einen »Nietzsche-Kreis«, der im Winter 1891/92 Frau Elisabeth Forster geb. Nietzsche bei ihrem Besuch in Berlin ehrfurchtsvoll aufnimmt.2 Ein Jahr spater schreibt sie aus dem fernen, aber wenigstens judenfreien, Neu-Germanien in Paraguay an Peter Gast,3 er moge doch einmal nach Berlin fahren; dort werde man ihn, den alten Freund Nietzsches, »in einem gewissen Nietzsche-Kreis auf Handen tragen […]. Vorzuglich ein Dr. Koegel und Dr. Meyer wurden Ihnen sympathisch sein; sie lieben Nietzsche nicht nur mit dem Kopf«.4 Nur ein Jahr spater, nachdem die energische › Pionierfrau ‹ (Peters) nach Naumburg zuruckgekehrt war, findet sich, im November 1893, die wohl fruheste Nennung jener Institution, die fur die gesamte Nietzsche-Rezeption entscheidend geworden ist: das Archiv. Zuerst kleiner Familienbesitz: zwei Zimmer im Parterre des Hauses am Weingarten 18; im Oberge...