Gerhard Heintze über Ernst Wolf (1902-1971): „In allem Hören auf die vielfältigen Stimmen aus Vergangenheit und Gegenwart geht es ihm aber zuerst und zuletzt um das eine Wort, das Christus selbst ist.“ (original) (raw)
Von Gerhard Heintze
Ernst Wolf, geboren am 2. August 1902 in Prag. Studium der Theologie und Geschichte in Wien, Rostock, Leipzig, Göttingen, 1925 Privatdozent in Rostock, 1930 Lehrstuhlvertreter in Tübingen, 1931 o. Professor in Göttingen, wegen Beteiligung am Aufbau der Bekennenden Kirche 1935 nach Halle versetzt, seit 1945 Ordinarius zunächst für Kirchengeschichte, seit 1957 für Systematische Theologie in Göttingen. Herausgeber zahlreicher Buchreihen und Fachzeitschriften.
Hauptschriften: Luther und Staupitz (1927); Peregrinatio I (1954); Barmen (1957); Peregrinatio II (1965).
Ernst Wolfs Bibliographie, die der zu seinem 60. Geburtstag erschienenen Festschrift beigegeben ist, enthält rund 600 Titel. Unter ihnen befinden sich nur zwei umfangreichere Monographien. Das Schwergewicht der schriftstellerischen Tätigkeit Wolfs liegt in seinen Aufsätzen und Rezensionen, in der Beisteuerung von Artikeln zu verschiedenen Lexika (allein 141 Beiträge in der 3. Auflage der RGG), wie in seiner Herausgebertätigkeit. Darin kommt schon eine Besonderheit dieses theologischen Denkers zum Ausdruck. Er liebt keine fertigen Ergebnisse und keine starren, abgeschlossenen und allseitig abgesicherten Positionen, sondern weiß sich im Wandel der Situationen dem Wagnis eines ständig neuen kritischen Fragens mit der Bereitschaft, auch sich selbst in Frage stellen zu lassen, verpflichtet. Nicht zufällig hat er die beiden bisher erschienenen Sammelbände mit den wichtigsten seiner Aufsätze unter das Leitwort „Peregrinatio“ gestellt. Er nimmt mit seiner theologischen Arbeit bewußt seinen Standort innerhalb der in der „Fremdlingschaft“ wandernden Kirche, die auf ihrem Wege nicht nur von außen bedrängt und bedroht wird, sondern vor allem in der Versuchung steht, ihrer eigentlichen Sendung untreu zu werden und das ihr von ihrem Herrn gewiesene Ziel aus dem Auge zu verlieren. In der Leidenschaft und Unerbittlichkeit dieses kritischen Fragens ist er zu einem der führenden Vertreter der dialektischen Theologie geworden.
Ernst Wolf hat seine wissenschaftliche Laufbahn mit einer kirchengeschichtlichen Habilitation über „Staupitz und Luther“ begonnen. Auch als Ordinarius für Kirchengeschichte blieben Luther und die reformatorische Theologie der Hauptbereich seines Forschens. Größte Sorgfalt im Detail wie in der Beachtung der Zusammenhänge, Heranziehung von geradezu beängstigend reichem Quellenmaterial und alles in geschliffener, präziser und zugleich knapper Darstellung, die dem Hörer wie Leser das selbständige Folgen und Mitdenken nicht abnimmt, zeichnen seine Vorlesungen wie Veröffentlichungen aus. Aber es bedurfte nicht erst des Übergangs auf den Lehrstuhl für Systematische Theologie, um den Weg zur jeweiligen aktuellen theologischen wie kirchlichen Problematik zu finden. Die Beschäftigung mit der Geschichte ist für Wolf keine abseits vom gegenwärtigen Leben zu treibende Privatliebhaberei, sondern nötigt in sich zur kritischen Auseinandersetzung und zur persönlichen Stellungnahme. Und umgekehrt weiß er sich auch als Systematiker weiterhin zur andauernden Konfrontation mit der Geschichte verpflichtet, die den sichersten Schutz gegenüber einem engen Doktrinarismus darstellt.
So wenig es in Ernst Wolfs Bibliographie auch an sorgfältigen Untersuchungen zu historischen Einzelthemen mangelt, so bewegen ihn in seinen Studien zu Luther und zur Geschichte der Reformationszeit doch vor allen Dingen die theologischen Grundfragen. Gerade die intensive historische wie systematische Beschäftigung mit Luthers Theologie führt ihn im Gegensatz zu der damals verbreiteten Romantisierung und Ideologisierung des Lutherbildes dazu, von Anfang an eindeutig und entschieden auf Seiten der Bekennenden Kirche Stellung zu nehmen und tatkräftig und richtungweisend ihren Weg mitzubestimmen. So zeigt er von Luther her in seinen großen Aufsätzen „Das Evangelium und die Religion“ oder „Jesus Christus im Zeugnis der Heiligen Schrift und der Kirche“ oder „Natürliches Gesetz und Gesetz Christi bei Luther“ klar und kompromißlos die Unvereinbarkeit von Christuszeugnis und natürlicher Religion und Theologie jeder Art im Blick auf die Grundentscheidungen, um die es im Kirchenkampf ging, auf. „Das Evangelium ist die Krisis aller Religion: Das ist die Antwort Luthers auf die Frage nach dem Wesen des Evangeliums, nach dem Verhältnis von Evangelium und Religion, christlicher wie auch nichtchristlicher Religion … Diese Zentraleinsicht der reformatorischen Erkenntnis duldet kein Paktieren mit der natürlichen Religion, darf nichts wissen von einem positiven theologischen Anknüpfungspunkt, muß … immer wieder nichts anderes tun, als Zeugnis ablegen dafür, daß Gott allein der Schöpfer und daß derselbe Gott allein der Erlöser ist, daß das Evangelium das Gewissen ergreift eben nicht als ein ihm natürlicherweise nahendes, sondern als ein „blöde und närrisch“ vor ihm verzweifelt flüchtendes Gewissen; muß Zeugnis ablegen dafür, daß das Wort Gottes ein kritisches Wort ist, welches sein Ja immer und überall aus dem Nein schöpferisch hervorruft, wo es Glauben schafft.“ Was sich ihm so aus seinen Lutherstudien ergibt, wird bestätigt und bestärkt in der Begegnung mit Karl Barth, dessen enger Freund und Mitarbeiter er in der gemeinsamen Lehrtätigkeit in Bonn vom Sommersemester 1931 an wird und unverändert bis heute geblieben ist. Dabei beschränkt sich die Mitarbeit in der Bekennenden Kirche keineswegs auf die akademische Lehrtätigkeit. Er nimmt zugleich auch an den praktischen Nöten und Problemen der Gemeinden beratend und helfend unmittelbaren Anteil.
Der Lutherforscher und Mitstreiter Karl Barths wird aber nicht nur zum unerbittlichen Kritiker der sich fälschlich auf Luther berufenden deutschchristlichen Pseudotheologie und auch so mancher sich kirchlicher gebenden, aber darum nicht weniger gefährlichen Kompromißversuche mit der nationalsozialistischen Ideologie während der Zeit des Dritten Reiches. Von der gleichen Grundlage aus stellt er auch der nach dem Krieg sich neu konsolidierenden Kirche, insbesondere in ihrer lutherischen Prägung, scharfe kritische Fragen. Sie gelten besonders einer isolierten, aus ihrem zentralen, theologischen Zusammenhang gelösten, für „lutherisch“ ausgegebenen „Zwei-Reiche-Lehre“, die gegen den christozentrischen Ansatz Karl Barths und seine vermeintliche Konsequenz einer schwärmerisch-gesetzlichen und zugleich unrealistischen „Christokratie“ ausgespielt wird. In eingehenden Untersuchungen zum Verhältnis der Königsherrschaft Christi zu der lutherischen Zwei-Reiche-Lehre hat Wolf den anfangs gegen ihn erhobenen Vorwurf entschieden zurückgewiesen, die Zwei-Reiche-Lehre mit ihrer Betonung der Spannung und Widersprüchlichkeit zwischen dem Reich Christi und den Ordnungen und Institutionen dieser Welt überhaupt leugnen und radikal ablehnen zu wollen. Aber diese Lehre kann für ihn „nur in der Klammer des Bekenntnisses der Königsherrschaft Christi“ — der Bekenntnischarakter wird dabei ausdrücklich unterstrichen — ihren theologischen Ort haben. Nur so wird der Radikalität des Rufes Jesu in die Nachfolge entsprochen. Und nur so kann die Lehre von den zwei Reichen dem Mißverständnis entzogen werden, „nach dem sie die sozialethische Grundformel darstellt und den Menschen zuletzt dualistisch zwei Herren, zwei Reichen, zweifacher Bürgerschaft, zwei Geboten unterstellt im Doppelgehorsam ihnen gegenüber und mit der Unterscheidung von Amt und Person, die dieser Doppelung gerecht zu werden sucht“. Auch konkrete kirchliche Einzelentscheidungen der Nachkriegszeit werden von Wolf in diesem Zusammenhang mitunter scharf unter die Lupe genommen. Mag die Kritik hier oder dort einseitig und überscharf geworden sein, so ist ihr eigentlicher Hintergrund doch immer unverkennbar das Wissen um die notwendige kontinuierliche Selbstkritik der Kirche, „die in Selbstprüfung sich nur nach dem einen fragt, ob sie gehorsam sei, ob sie wirklich ihrer Sendung treu sei — und ob sie nicht nur hier und heute dem entspreche, was „man“ von ihr erwartet, sondern dem, was ihr Sein als ihr Sollen ausmacht“. Und sicher tun vornehmlich alle, die kirchenleitende Aufgaben wahrzunehmen haben, gut daran, sich dieser Selbstprüfung nicht zu verschließen und sich von daher ständig beunruhigen zu lassen.
Kritisches Fragen ist für Ernst Wolf eine, aber doch nun keineswegs einzige theologische Aufgabe. Wenn die Festschrift zu seinem 60. Geburtstag unter das Thema „Hören und Handeln“ gestellt ist, so ist damit umschrieben, worum es ihm letztlich auch bei der Wahrnehmung der kritischen Aufgabe zu tun ist. Das Bemühen um sorgfältiges und genaues Hören kennzeichnet nicht nur den Historiker, der es sich zur Aufgabe gesetzt hat, die Stimme der Väter in ihrem eigenen Klang wiederzugeben, sie auszulegen, statt eigene Gedanken und Meinungen in sie hineinzulegen. Ebenso ist es ihm darum zu tun, in den gegenwärtigen Spannungen und Problemen auf die verschiedensten Stimmen zu achten, nicht nur im Bereich der eigenen Kirche oder gar der eigenen theologischen Richtung, sondern jeweils gerade auch auf die Stimmen der anderen, auch über den christlichen Bereich hinaus, und mit besonderer Liebe auch auf die Stimme derer, die sich selber nicht laut und schreierisch zur Geltung bringen können. Schon durch seinen Geburtsort Prag mag ihm das ökumenische Denken naheliegen. Er hat es schon im Kirchenkampf, aber erst recht in den Jahren danach bis heute in der Pflege vielfältiger persönlicher und theologischer Beziehungen bewährt und geübt. Neben seiner Mitwirkung beim Abendmahlsgespräch der Evangelischen Kirche in Deutschland, das zu den Arnoldshainer Abendmahlsthesen von 1957 führte, sei dafür nur auf seine maßgebliche Beteiligung an dem in den letzten Jahren in Gang gekommenen theologischen Gespräch zwischen Vertretern der Russisch-Orthodoxen Kirche und der Evangelischen Kirche in Deutschland hingewiesen. In allem Hören auf die vielfältigen Stimmen aus Vergangenheit und Gegenwart geht es ihm aber zuerst und zuletzt um das eine Wort, das Christus selbst ist. Gesammeltes Hören dieses Wortes macht aber zum Wagnis des Handelns bereit. Freilich hat kein Handeln, und stünde es unter noch so frommen Vorzeichen, in sich selbst rechtfertigende Kraft, sondern bleibt beständig auf Gottes Gnade und den Zuspruch der Vergebung angewiesen. Und kein noch so eifriges Planen und Gestalten in der Kirche und seitens der Kirche darf die Tatsache verdunkeln und verdecken, daß das Volk Gottes noch auf der Wanderung (Peregrinatio!) und noch nicht am Ziel ist. Dennoch ermächtigt und befreit das Wort Christi zum verantwortlichen Handeln. Der Zuspruch des Evangeliums ist zugleich Ruf in die Nachfolge, „als Akt der Solidarität mit den Nöten der Welt oder … als das Besorgen dessen, was dem Nächsten nützlich, förderlich und heilsam ist“. Ernst Wolf hat nicht nur einleuchtend aufgezeigt, wie der Begriff der Nachfolge bei Luther eine bedeutsamere Rolle spielt, als es eine einseitig die „Ordnungen“ betonende Lutherinterpretation gesehen hat, wenn auch im Verlauf der Auseinandersetzung Luthers mit den Schwärmern die Sorge um die Ordnungen den Ruf zur Nachfolge aus dem Geschenk der Freiheit heraus zu überdecken ^joht, erst recht dann in der nachreformatorischen Entwicklung. Wolf stellt Sl(h auch selbst vorbehaltlos dem Problem, wie das Wagnis der Nachfolge inmitten dieser Welt konkret aussehen müßte, und zu welchem konkreten Handeln es nötigt.
Von daher ist seine ausgedehnte Beschäftigung mit Fragen der Kirchenordnung und des Kirchenrechts zu verstehen. Von erheblicher Bedeutung und zugleich besonders hilfreich dürfte hier gegenwärtig sein, was er in Auseinandersetzung mit einer bedenklichen und auch durchaus unreformatorischen Klerikalisierung des kirchlichen Amtes zu dessen Begründung im Ereignis und Dienst der Versöhnung (2. Kor. 5,18) und zu seiner Bewährung „im Gericht der theologischen Existenz“ beigetragen hat.
Ebenso ist die durch den Übergang vom kirchengeschichtlichen auf den systematischen Lehrstuhl verstärkte Beschäftigung mit sozialethischen Fragen kein Übergang in einen Fremdbereich bloßer „Ermessensfragen“, sondern als Hinweis auf die Felder, in denen sich heute Nachfolge vor allem zu bewähren hat, wenn sie nicht private Winkelangelegenheit bleiben, sondern wirklich „in der Welt“ geschehen soll, zu verstehen. Insbesondere hat Wolf sich leidenschaftlich in der Frage nach dem christlichen Beitrag zur Wahrung und Förderung des Friedens, unter Einschluß der aktuellen Fragen der Atomwaffen und Möglichkeit und Begrenzung eines deutschen Verteidigungsbeitrages engagiert, sowohl in seiner Beteiligung an den „Kirchlichen Bruderschaften“, wie an der „Prager christlichen Friedenskonferenz“. Die radikalen zehn Thesen der „Kirchlichen Bruderschaften“ zur atomaren Bewaffnung, die auf der Spandauer Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland von 1958 zu schärfsten Spannungen führten, bis hart an den Rand des Auseinanderbrechens der Synode, sind von ihm persönlich mitverantwortet. Man mag selbst vom gleichen Grundansatz aus Bedenken gegenüber manchen Formulierungen dieser Thesen haben. Man mag es begrüßen, daß die Diskussion inzwischen differenzierter weitergeführt ist und eine gewisse Annäherung der Standpunkte in dieser Sache erfolgt zu sein scheint. Aber man darf nicht vergessen, daß es Wolf und seinen Freunden hier um den konkreten Gehorsam der Nachfolge geht — wohlgemerkt nicht um den Anspruch, eine vollkommene Ordnung aufzurichten, womit in der Tat das Evangelium in Gesetz verkehrt wäre, aber um die für den Christen unabdingbare Notwendigkeit, auch die praktischen politischen Entscheidungen in Beziehung zu dem einen Herrn zu sehen und letztlich vor ihm zu verantworten. Und wer sich hier konkret anders entscheidet, tut gut daran, sich selbst und anderen Rechenschaft zu geben, inwiefern er seine Entscheidung nicht aus willkürlichem Ermessen oder resignierter Anpassung fällt, sondern damit auch seinerseits einen Akt konkreten Gehorsams zu vollziehen hofft. Die Unsicherheit, was Nachfolge im sozialen und politischen Bereich heute heißen kann, ist gewiß groß. Aber daß uns hier heute als einzelnen Christen sowie als Kirche schwerwiegende Fragen gestellt sind, denen wir uns nicht entziehen dürfen, wird festzuhalten sein. Und man darf Ernst Wolf auch dafür besonderen Dank wissen, daß er zu denen gehört, die vom Grundansatz bei Wort und Verheißung Christi her beharrlich auf dieses Aufgabenfeld aufmerksam machen.
Daß über dem Sich-Mühen um den konkreten Gehorsam der eschatologische Aspekt von Wolf nicht übersehen wird, kommt besonders schön am Schluß eines 1965 in Hildesheim gehaltenen Vortrags über „Christus und die Christen“ zum Ausdruck. Dort heißt es: „Die besondere Verantwortung des Christen in der modernen Welt besteht in nichts anderem, als darin, derartige Nöte richtig zu sehen, nach ihren Wurzeln zu fragen und nach Kräften mithandelnd darum bemüht zu sein, ihnen abzuhelfen. Alles das um der aufgetragenen Verantwortung für die Welt als Schöpfung Gottes und für die Menschlichkeit des Menschen als des Ebenbildes Gottes willen. Und alles zugleich in einer zuversichtlichen Hoffnung auf das Kommen des Herrn, das für den christlichen Glauben die Erfüllung der Geschichte des Menschen ist.“ Und weiter mit einem Wort Karl Barths: „Das ist die den Menschen laut des Evangeliums bevorstehende Zukunft … die christliche Gemeinde ist der Ort der großen Vorfreude im Blick auf alle Menschen, auf die ganze Kreatur, oder sie ist nicht die christliche Gemeinde.“
Quelle: Hans Jürgen Schultz (Hrsg.), Tendenzen der Theologie im 20. Jahrhundert. Eine Geschichte in Porträts, Stuttgart: Kreuz-Verlag 21967, S. 494-499.