Die Quarantäne als Anlass. – Eine kritische Entgegnung auf Philipp Sarasin (original) (raw)
–Dr. phil. Dirk Schuck, dirk.schuck@uni-leipzig.de
(Foto: imago/Leemage) Süddeutsche Zeitung 12. Februar 2018
Philipp Sarasin stellt in einem Beitrag vom 25. März 2020 mit dem Titel Mit Foucault die Pandemie verstehen? in dem Wissenschaftsfeuilleton Geschichte der Gegenwart fest, dass Foucault, wenn er das Umgehen mit der Lepra im Mittelalter, mit der Pest in der frühen Neuzeit, und den Pocken in der frühen Moderne analysiert, nicht “von realen Pandemien sprach”, sondern diese “Infektionskrankheiten als Denkmodelle verwendete, um Formen der Macht nach idealtypischen Mustern zu ordnen”.[1] Diese Aussage legt nahe, dass es sich bei Foucault um einen Soziologen des Wissens im Stile Max Webers handelt. Wenn Foucault sich daher z. B. in Überwachen und Strafen den Maßnahmen zur “Quarantäne” in einer von der Pest heimgesuchten Stadt zuwendet, geht es ihm demnach vor allem um bestimmte, sich in diesen Maßnahmen zeigende, typologische Denkweisen, die auf eine gesellschaftliche Wissenskonstellation größeren Umfangs und weitergehender Bedeutung – einen Diskurs – verweisen.
Dies scheint mir vor allem mit Hinblick auf Foucaults Analyse der “Quarantäne” im Zuge der Pest in Überwachen und Strafen nicht vollkommen zutreffend zu sein.[2] Die Situation, um deren Beschreibung es Foucault geht, ist widersprüchlicher. In seiner Beschreibung der realen Maßnahmen gegen die Pest und ihres disziplinartechnologischen Fortlebens nach der Pest, geht es Foucault ja keineswegs darum zu bestreiten, dass diese Maßnahmen als gesundheitspolitische Maßnahmen effektiv sind. Zugleich macht Foucault jedoch ein darüber hinausgehendes Fortleben dieser Maßnahmen aus – deren “politische Anatomie” – die sich von der Pest als Anlass ablöst und unabhängig macht. Es stimmt zwar, dass Foucault damit auf die Erfassung einer Wissensform zielt, die allgemeiner ist als der Anlass ihres Entstehens selbst. Dennoch ist dieses Entstehen als diskontinuierliches Ereignis für den Genealogen Foucault von herausragender Bedeutung.
Betrachtet man den gegenwärtigen globalen Moment als ein einschneidendes Ereignis historischer Diskontinuität, ist bisher noch nicht entschieden, ob dieser eine vergleichbare historische Bedeutung annehmen wird wie diejenige, die Foucault der Pest für die Fortentwicklung der Disziplinartechniken zuschreibt. Was sich aber wahrnehmen lässt, sind deutliche Zeichen, dass die Quarantäne-Maßnahmen im Zuge der Covid19-Pandemie Strukturveränderungen bewirken, die danach weiter gesellschaftlich nutzbar sein werden. So ist jetzt bereits klar, dass es zu einem Moment historischer Beschleunigung hinsichtlich der digitalen Vernetzung von Wohnräumen kommt. Dies ist eine vergleichbar kontingente Dynamik, wie jene, die Foucault ausmacht, wenn er die Techniken der Individualisierung, welche die einzelnen Stadtbewohner überhaupt erst identifizierbar und verortbar machen, in der Pest entstehen, und danach nicht wieder verschwinden sieht.
Mit Foucaults Auseinandersetzung mit dem Liberalismus Ende der 1970er Jahre, so Sarasin, revidiere dieser nun aber auch seine zu harschen Ansichten von der Disziplinargesellschaft und dem Netz der Kontrolle, welche diese über die Welt spanne. Vielmehr gelange Foucault nun in seiner Analyse des gesellschaftlichen Umgehens mit den Pocken zu der Ansicht, dass mit dem Kapitalismus und seiner Gewährung individuell-ökonomischer Freiheit auch die lückenlose Disziplinierung der Individuen – glücklicherweise – ein Ende fände. Das neue Umgehen mit der Epidemie sei vor allem statistisch und drehe sich um die probabilistische Messung von Krankheitsverläufen und effektiven Gegenmaßnahmen. Die Moderne sei daher von einem anderen, liberaleren Geist geprägt.
Nun stimmt es, dass die deutsche Bundeskanzlerin in ihren Ansprachen im Zuge der Covid19-Pandemie eine deutliche Grenze zwischen dem liberalen Rechtsstaat und dem autoritären Überwachungsstaat gezogen hat. Sie hat an die Vernunft der Bürgerinnen und Bürger appelliert, die zeitweilige Aussetzung einiger ihrer Grundrechte als leider notwendig hinzunehmen. Dieses “Gefühl der Freiheit” in den Angesprochenen zu bewahren, ist, wie schon Montesquieu wusste, für die Bewahrung des sozialen Friedens in solchen kritischen historischen Momenten grundlegend[3], und kein anderer gegenwärtiger deutscher Politiker beherrscht diese staatsmännische Tugend auch nur annähernd so gut wie Frau Merkel.
Schwerlich lässt sich aber darüber hinwegsehen, dass der Grundbegriff der gegenwärtig erfolgten Maßnahmen die “Quarantäne” ist. Dieser Begriff, wie Foucault auch Ende der 1970er noch eindeutig festhält, entstammt nicht dem liberalen Pockenmodell, sondern dem disziplinären Pestmodell.[4] Gesellschaftlich steht man damit also einem Virus gegenüber, dem zumindest ähnlich verheerende Infektionsraten wie dem Pestbakterium zugeschrieben werden. Das liberale Pockenmodell scheint im Kampf gegen das Coronavirus nicht hinzureichen. Diesen Kampf gegen das Virus nun umgekehrt als falsche Medieninszenierung zu begreifen, stellt eine paranoische Sichtweise auf die bedrückende aktuelle Situation vor, die einer verkürzten Foucault-Lesart entspricht, nach der es auch Foucault um eine phantasmagorische Irrealität der historischen Anlässe gegangen wäre, die er beschreibt.
Davon unbenommen aber hat Foucault uns dennoch auf eine bestimmte Schwierigkeit in der historischen Einschätzung von Ereignissen aufmerksam gemacht; zumal solchen, die erst dabei sind, sich zu ereignen. Diese Schwierigkeit ist darin zu sehen, dass sich in diesen Ereignissen immer mehr artikuliert als deren unmittelbare Realität – dass diese Ereignisse bei entsprechender Schwere Anlassgeber für sicherheitstechnologische Entwicklungen sein können, die schon lange unter der gesellschaftlichen Oberfläche gärten. In diesem Sinn müssen zumindest einige der Dynamiken, welche die Covid19-Pandemie jetzt schon wie zwanglos in Gang gesetzt hat, nachdenklich stimmen.
Vom globalen Ruf nach dem starken Staat einmal abgesehen, der ein deutliches Echo im vorgeblich kompetenteren, weil autoritäreren, chinesischen Umgehen mit dem Virus findet, zeichnen sich jetzt bereits auch in Europa sicherheitstechnologische Tendenzen ab, die schwerlich nach der Pandemie, von der zudem noch völlig unklar ist, wie lang sie unser Leben bestimmen wird, einfach wieder verschwinden werden. Mobiles Tracking ist nur eine davon. Interessant an Sarasins Argumentation ist nun, dass er deutlich macht, dass die südkoreanische Reaktion auf das Virus ganz anders funktioniert als die chinesisiche und deshalb so gut funktioniert, weil sie den anderen, nicht-infizierten Gesellschaftsmitgliedern weiterhin ihre Bewegungsfreiheit ermöglicht. Dennoch gesteht Sarasin ein, dass man dem Einsatz solcher Technologien mit “Argwohn” begegnen muss.
Sarasin suggeriert, dass Foucaults thematische Hinwendung zum Liberalismus Ausdruck einer historischen Einsicht ist, die dessen freiheitliche Regierungsweise als irreversibel ansieht. Das vielleicht Bedrohlichste an der gegenwärtigen Pandemie ist aber, dass sie mit einer neuen Weltwirtschaftskrise einhergehen könnte. Das bürgerliche Modell der Freiheit ist auf ökonomische Stabilitätsparameter verwiesen, die individuelle Selbsterhaltung erst möglich machen. Wenn diese für einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung im Zuge der ökonomischen Folgen der Pandemie wegbrechen, besteht die Gefahr, dass auch dieses Freiheitsmodell verstärkt in Frage gestellt wird.
Sarasin sieht die eigentliche Gefahr in einem neuen Sozialdarwinismus, die er in Foucaultschen Parametern als eine Rückkehr zum Lepra-Modell versteht. Sterbende Kranke und Alte würden dann vom Rest der Gesellschaft ausgeschlossen und sich selbst überlassen werden. Da dieses Horrorszenario die Folge einer Überforderung der Gesundheitsversorgung sein könnte, versteht Sarasin das westliche Regierungshandeln als den Versuch, dieses ethisch ruinöse Lepra-Modell zu verhindern. Die Praxis selbstauferlegter sozialer Distanz, die darauf zielt, diesen gesellschaftlichen Überwältigungszustand infinitesimal herauszuzögern, sieht Sarasin sowohl in ihrer Selbstauferlegtheit als auch mit Hinblick auf deren Ziel, die Infektionsrate auf einem bewältigbaren Niveau zu halten, daher als liberale Regierungsmaßnahme an. In welchem politischen Klima das gesellschaftliche Umgehen mit der Covid19-Pandemie weiterverlaufen wird, mag nicht zuletzt davon abhängen, wie sehr es Politik und Gesellschaft gelingt, den Anschein der Freiwilligkeit der Quarantäne-Maßnahmen zu erhalten. Die subjektive Einsicht in diese Freiwilligkeit hängt sicher auch davon ab, wie sehr die Individuen, denen sie abverlangt wird, durch den Verzicht auf ihre Teilhabe am ökonomischen Kreislauf ihre eigene Existenzgrundlage gefährden. Wie bei der Finanzkrise 2008 zeichnet sich das Problem ab, wessen ökonomische Rettung durch Finanzspritzen als systemrelevant angesehen wird, und wessen nicht. Allein groß angelegte Konjunkturprogramme scheinen aber diesmal überhaupt geeignet zu sein, den ächzenden Kreislauf von Angebot und Nachfrage eines Tages wieder in Gang zu bringen. Dass dieser Mechanismus von Angebot und Nachfrage kein sinnvolles Verteilungsprinzip für überlebenswichtige Güter ist, beweist sich in der Pandemie auf die denkbar schlechteste Form des Lepra-Modells
[1] Sarasin, ibid.
[2] Foucault 1976, S. 251f.
[3]Montesquieu, Geist der Gesetze, 2.11.3—5.
[4]Foucault 2004a, S. 25.
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Denis Thouard (3. April 2020). Die Quarantäne als Anlass. – Eine kritische Entgegnung auf Philipp Sarasin. Kritisches Denken im Plural. Abgerufen am 15. Januar 2025 von https://doi.org/10.58079/qnfb