Klaus Birnstiel | Ludwig-Maximilians-Universität München (original) (raw)
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Books by Klaus Birnstiel
Literatur und Theorie seit der Postmoderne, 2012
Papers by Klaus Birnstiel
De Gruyter eBooks, Nov 21, 2022
Vandenhoeck & Ruprecht, 2014
Athenäum Jahrbuch der Friedrich Schlegel-Gesellschaft, 2015
Den engen Zusammenhang von literarischer Poetizität und Kritik hat die deutsche Frühromantik in d... more Den engen Zusammenhang von literarischer Poetizität und Kritik hat die deutsche Frühromantik in der Person Friedrich Schlegels wiederholt postuliert. "In der Tat kann keine Literatur auf die Dauer ohne Kritik bestehen", formuliert er in Lessings Gedanken und Meinungen (1804) und fährt fort: "So wie Poesie der höchste Gipfel des Ganzen ist, in deren Blüte sich der Geist jeder Kunst und jeder Wissenschaft, wenn sie vollendet, endlich auflöst; so ist die Kritik der gemeinschaftliche Träger, auf dem das ganze Gebäude der Erkenntnis und der Sprache ruht." (Schlegel KFSA III, 55) Den besonderen Stellenwert der Kritik innerhalb der ‚modernen' (i. e. neuzeitlichen) Dichtung begründet Schlegel aus einer historischen Denkfigur. So sei die Literatur der Griechen lange vor ihrer Kritik entstanden. "Nicht so bei den Modernen, am wenigsten bei uns Deutschen. Kritik und Literatur ist hier zugleich entstanden; ja die erste fast früher; allverbreitete und genau prüfende Gelehrsamkeit und Kenntnis auch der unbedeutendsten ausländischen Literatur hatten wir früher als eine einheimische. Und noch jetzt weiß ich nicht, ob wir uns nicht mit mehrerm Rechte einer Kritik rühmen dürften, als eine Literatur zu haben." (Schlegel KFSA III, 81-82) Die Aufgabe seiner eigenen Gegenwart sieht Schlegel fürderhin darin, eine "Veränderung dieses Verhältnisses" ins Werk zu setzen und "die Idee einer Kritik von ganz andrer Art" zu realisieren: "Einer Kritik, die nicht so wohl der Kommentar einer schon vorhandnen, vollendeten, verblühten, sondern vielmehr das Organon einer noch zu vollendenden, zu bildenden, ja anzufangenden Literatur wäre." (Schlegel KFSA III, 82) Ohne die Bedeutung der kritischen und literarischen Lebensleistung Schlegels geringzuschätzen, darf wohl behauptet werden, dass eine tatsächliche Umsetzung dieses Programms in den ästhetischen Produktionen Schlegels und der Frühromantiker nicht gelungen ist. Doch verweist die notorische Omnipräsenz der Vokabel ‚Kritik' und ihrer Derivate im theoretischen Schaffen Schlegels nicht nur auf die gesteigerte Bedeutung der Kritik innerhalb der literarischen Praxis des 18. Jahrhunderts, sondern auch darauf, dass das Zeitalter selbst Einsicht nimmt in das Verhältnis von Kritik und Literatur-und über diese Beobachtung zweiter Ordnung ein dezidiert modernes Verständnis von Literatur entwickelt, doch dazu später. Schon vor Schlegel wird in den literarischen, philologischen und philosophischen Diskursen des 18. Jahrhunderts die Rede von der Kritik als
Seit der Postmoderne wird die Grenze von Literatur und (Literatur-)Theorie aus beiden Richtungen ... more Seit der Postmoderne wird die Grenze von Literatur und (Literatur-)Theorie aus beiden Richtungen uberschritten. Ehedem kategorial Getrenntes begegnet einander in einer Vielzahl uberraschender, mit den herkommlichen Mitteln der Literaturwissenschaft kaum einzuholender Konstellationen: Theorie wird zu Literatur, Literatur zu Theorie. Der vorliegende Sammelband wirft eine Reihe damit verbundener Fragen auf: Wo liegen die Chancen und Grenzen der "Anwendung" von Literaturtheorie auf (Gegenwarts-)Literatur? Welche Auswirkungen hat Theorie auf die literarische Textproduktion? In welcher Form beeinflusst das literarische Schreiben die Theorie? Ist am Ende Theorie selbst ein literarisches Genre? Exemplarisch werden zudem Moglichkeiten und Relationen des literarischen Erzahlens seit der Postmoderne im Kontext theoretischer Reflexionen untersucht.
Literatur nach der Digitalisierung
In einer präpandemischen Gegenwart gab es Drinks an den Bars von Hoteldachterrassen. Erlauben wir... more In einer präpandemischen Gegenwart gab es Drinks an den Bars von Hoteldachterrassen. Erlauben wir uns einen raschen Tempuswechsel, dorthin zurück, für einen zitierten Moment nur. Menschen "in beigefarbenen Regenmänteln" nippen hier an den Gläsern, gereicht von einem jungen Mann in einem "hochwertige[n] Hemd": Weil es der fünfundsechzigste Geburtstag meiner Mutter ist, stehen Senioren in beigefarbenen Regenmänteln auf der Dachterrasse. Am Himmel haben sich Wolken aufgetürmt, es nieselt ganz leicht. Meine Mutter spricht zur Begrüßung ein paar Worte und verweist auf die Bar. Dort stehe ich und winke. Für mich ist nicht auszumachen, welche der anwesenden Gäste Freunde meiner Mutter und welche normale Kururlauber sind. Die meisten wirken sympathisch auf mich, weil ihnen die schnell ausgetrunkenen Aperitifs fürsorglich glänzende Augen gemacht haben. Für diese Leute scheine ich noch ein Junge zu sein. Dabei bin ich schon seit sieben Monaten mit dem Studieren fertig, dabei verdiene ich schon Geld, dabei trage ich ein qualitativ hochwertiges Hemd. 1 2 Gegenwarts-Schimmern Leif Randts Roman Schimmernder Dunst über Coby County, dem die zitierte Szene entstammt, brachte vor zehn Jahren das Lebensgefühl einer Zeit zur Anschauung. Ob diese mit den lebensweltlichen Veränderungen der Covid-19-Pandemie wirklich zu Ende gegangen ist, wird sich erweisen müssen. In dem fiktiven Ort Coby County, einer touristischen Destination, die vage an die Westküsten-Szenarien amerikanischer Vorabendserien erinnert, lebt Wim, ein junger Literaturagent. Die Handlungszeit umfasst einen kurzen Sommer, in welchem Wesley, Wims bester Freund, ein paar merkwürdige Dinge tut und dann wieder nicht tut. Wims Freundin Carla trennt sich von ihm und wird durch eine "Carla Zwei" ersetzt; einige Unglücksfälle und ein heraufziehender Sturm scheinen das Stadtleben vorübergehend zu bedrohen. Schnell aber ver
Literatur und Theorie seit der Postmoderne, 2012
De Gruyter eBooks, Nov 21, 2022
Vandenhoeck & Ruprecht, 2014
Athenäum Jahrbuch der Friedrich Schlegel-Gesellschaft, 2015
Den engen Zusammenhang von literarischer Poetizität und Kritik hat die deutsche Frühromantik in d... more Den engen Zusammenhang von literarischer Poetizität und Kritik hat die deutsche Frühromantik in der Person Friedrich Schlegels wiederholt postuliert. "In der Tat kann keine Literatur auf die Dauer ohne Kritik bestehen", formuliert er in Lessings Gedanken und Meinungen (1804) und fährt fort: "So wie Poesie der höchste Gipfel des Ganzen ist, in deren Blüte sich der Geist jeder Kunst und jeder Wissenschaft, wenn sie vollendet, endlich auflöst; so ist die Kritik der gemeinschaftliche Träger, auf dem das ganze Gebäude der Erkenntnis und der Sprache ruht." (Schlegel KFSA III, 55) Den besonderen Stellenwert der Kritik innerhalb der ‚modernen' (i. e. neuzeitlichen) Dichtung begründet Schlegel aus einer historischen Denkfigur. So sei die Literatur der Griechen lange vor ihrer Kritik entstanden. "Nicht so bei den Modernen, am wenigsten bei uns Deutschen. Kritik und Literatur ist hier zugleich entstanden; ja die erste fast früher; allverbreitete und genau prüfende Gelehrsamkeit und Kenntnis auch der unbedeutendsten ausländischen Literatur hatten wir früher als eine einheimische. Und noch jetzt weiß ich nicht, ob wir uns nicht mit mehrerm Rechte einer Kritik rühmen dürften, als eine Literatur zu haben." (Schlegel KFSA III, 81-82) Die Aufgabe seiner eigenen Gegenwart sieht Schlegel fürderhin darin, eine "Veränderung dieses Verhältnisses" ins Werk zu setzen und "die Idee einer Kritik von ganz andrer Art" zu realisieren: "Einer Kritik, die nicht so wohl der Kommentar einer schon vorhandnen, vollendeten, verblühten, sondern vielmehr das Organon einer noch zu vollendenden, zu bildenden, ja anzufangenden Literatur wäre." (Schlegel KFSA III, 82) Ohne die Bedeutung der kritischen und literarischen Lebensleistung Schlegels geringzuschätzen, darf wohl behauptet werden, dass eine tatsächliche Umsetzung dieses Programms in den ästhetischen Produktionen Schlegels und der Frühromantiker nicht gelungen ist. Doch verweist die notorische Omnipräsenz der Vokabel ‚Kritik' und ihrer Derivate im theoretischen Schaffen Schlegels nicht nur auf die gesteigerte Bedeutung der Kritik innerhalb der literarischen Praxis des 18. Jahrhunderts, sondern auch darauf, dass das Zeitalter selbst Einsicht nimmt in das Verhältnis von Kritik und Literatur-und über diese Beobachtung zweiter Ordnung ein dezidiert modernes Verständnis von Literatur entwickelt, doch dazu später. Schon vor Schlegel wird in den literarischen, philologischen und philosophischen Diskursen des 18. Jahrhunderts die Rede von der Kritik als
Seit der Postmoderne wird die Grenze von Literatur und (Literatur-)Theorie aus beiden Richtungen ... more Seit der Postmoderne wird die Grenze von Literatur und (Literatur-)Theorie aus beiden Richtungen uberschritten. Ehedem kategorial Getrenntes begegnet einander in einer Vielzahl uberraschender, mit den herkommlichen Mitteln der Literaturwissenschaft kaum einzuholender Konstellationen: Theorie wird zu Literatur, Literatur zu Theorie. Der vorliegende Sammelband wirft eine Reihe damit verbundener Fragen auf: Wo liegen die Chancen und Grenzen der "Anwendung" von Literaturtheorie auf (Gegenwarts-)Literatur? Welche Auswirkungen hat Theorie auf die literarische Textproduktion? In welcher Form beeinflusst das literarische Schreiben die Theorie? Ist am Ende Theorie selbst ein literarisches Genre? Exemplarisch werden zudem Moglichkeiten und Relationen des literarischen Erzahlens seit der Postmoderne im Kontext theoretischer Reflexionen untersucht.
Literatur nach der Digitalisierung
In einer präpandemischen Gegenwart gab es Drinks an den Bars von Hoteldachterrassen. Erlauben wir... more In einer präpandemischen Gegenwart gab es Drinks an den Bars von Hoteldachterrassen. Erlauben wir uns einen raschen Tempuswechsel, dorthin zurück, für einen zitierten Moment nur. Menschen "in beigefarbenen Regenmänteln" nippen hier an den Gläsern, gereicht von einem jungen Mann in einem "hochwertige[n] Hemd": Weil es der fünfundsechzigste Geburtstag meiner Mutter ist, stehen Senioren in beigefarbenen Regenmänteln auf der Dachterrasse. Am Himmel haben sich Wolken aufgetürmt, es nieselt ganz leicht. Meine Mutter spricht zur Begrüßung ein paar Worte und verweist auf die Bar. Dort stehe ich und winke. Für mich ist nicht auszumachen, welche der anwesenden Gäste Freunde meiner Mutter und welche normale Kururlauber sind. Die meisten wirken sympathisch auf mich, weil ihnen die schnell ausgetrunkenen Aperitifs fürsorglich glänzende Augen gemacht haben. Für diese Leute scheine ich noch ein Junge zu sein. Dabei bin ich schon seit sieben Monaten mit dem Studieren fertig, dabei verdiene ich schon Geld, dabei trage ich ein qualitativ hochwertiges Hemd. 1 2 Gegenwarts-Schimmern Leif Randts Roman Schimmernder Dunst über Coby County, dem die zitierte Szene entstammt, brachte vor zehn Jahren das Lebensgefühl einer Zeit zur Anschauung. Ob diese mit den lebensweltlichen Veränderungen der Covid-19-Pandemie wirklich zu Ende gegangen ist, wird sich erweisen müssen. In dem fiktiven Ort Coby County, einer touristischen Destination, die vage an die Westküsten-Szenarien amerikanischer Vorabendserien erinnert, lebt Wim, ein junger Literaturagent. Die Handlungszeit umfasst einen kurzen Sommer, in welchem Wesley, Wims bester Freund, ein paar merkwürdige Dinge tut und dann wieder nicht tut. Wims Freundin Carla trennt sich von ihm und wird durch eine "Carla Zwei" ersetzt; einige Unglücksfälle und ein heraufziehender Sturm scheinen das Stadtleben vorübergehend zu bedrohen. Schnell aber ver