Wie Apple uns seine Kabel aufzwingt (original) (raw)

Im Sommer vor zehn Jahren will Europa ein Vorbild für die Welt werden. „Wir glauben, dass diese neue europäische Initiative einen globalen Dominoeffekt auslösen wird“, sagt Günther Verheugen, damals EU-Industriekommissar, im Juni 2009. Verheugen schlägt vor, ein einheitliches Ladegerät für alle Smartphones zu schaffen. Das sei bequemer für Handybesitzer und spare viele Tonnen an Elektroschrott. Eine schöne, einfache Lösung.

Doch ein Konzern macht Europa seit einem Jahrzehnt einen Strich durch die Rechnung: Apple wehrt sich vehement gegen einen Standard für Ladekabel und Netzgeräte. Durch geschicktes Lobbying verhindern die Kalifornier, sich europäischen Normen beugen zu müssen – bis heute.

In Brüssel ist Apple ein Schwergewicht. Der Konzern gibt eine Million Euro im Jahr für seine Interessenvertreter aus und sitzt in einflussreichen Lobbyverbänden. Apples Leute in Brüssel überzeugten die EU-Kommission über zehn Jahre hinweg, keine verpflichtenden Regeln für Ladegeräte zu schaffen.

Versprechen einer Stecker-Revolution

Wir schreiben 2009. Fast jeder Hersteller verkauft seine Handys mit eigenem Stecker. Am Markt gibt es mehr als 30 verschiedene Ladegeräte, die nicht untereinander kompatibel sind. Wer sein Handy laden will, muss sein Ladegerät mitschleppen und kann nicht einfach das von Freunden oder Kollegen benutzen. Die EU-Kommission sieht Handlungsbedarf. Noch hat nicht einmal jeder Zehnte ein Smartphone in der Tasche. In Brüssel will man einen Standard-Anschluss schaffen, bevor sich die neue Technik endgültig ausbreitet.

 EU-Kommissar Günter Verheugen

2009 verspricht EU-Kommissar Günter Verheugen ein einheitliches Ladegerät - Alle Rechte vorbehalten European Union

Alte Ladegeräte sorgen für mehr als 51.000 Tonnen Elektromüll im Jahr, schätzt die EU-Kommission. Die Zahl könnte reduziert werden, wenn alle Handys das gleiche Gerät verwenden. Das ist gut für die Umwelt und für die Konsumenten bequemer: Eine Win-Win-Situation.

Für Apple geht es um sein Flaggschiff. Das iPhone ist das wichtigste Produkt des Konzerns: Weltweit verdient Apple allein im letzten Quartal 2018 rund 52 Milliarden US-Dollar damit. In Europa ist heute etwa jedes sechste verkaufte Handy ein iPhone. Mit seinen eigenen, patentierten Ladekabeln verdient Apple gutes Geld.

Die Kampagne Apples lässt sich durch Dokumente der Kommission nachzeichnen. Die EU-Behörde veröffentlichte auf Anfragen von netzpolitik.org und einem Parlamentsmitarbeiter nach dem Informationsfreiheitsgesetz der EU 150 E-Mails, Gesprächsnotizen und Berichte. Sie zeigen die gescheiterten Anläufe für ein einheitliches Ladegerät.

Hier alle Dokumente runterladen.

EU-Kommission: Unternehmen sollen selbst bestimmen

Die EU-Kommission setzt von Anfang an auf Freiwilligkeit. Die Hersteller sollen selbst eine Lösung finden und einen Standard wählen. Die Kommission wolle Innovation nicht behindern, indem sie Firmen genaue Vorschriften über Stecker machen, sagt ein Beamter, der seit Jahren an dem Thema arbeitet und anonym bleiben will. Ähnlich sehe die Kommission das bis heute. Auf Selbstregulierung baut die Kommission auch in anderen Bereichen, etwa im Kampf gegen Desinformation.

Micro-USB-Stecker

Micro-USB-Stecker

Beim gemeinsamen Ladegerät finden die Konzerne rasch eine simple Lösung: Einen Stecker für alle Geräte auf Basis von Micro-USB. Im Juni 2009 unterschreiben zehn Hersteller, darunter die Marktführer Nokia, Samsung und Apple, eine gemeinsame Absichtserklärung. Sie geloben, einen Standard für Netzgeräte und Ladekabel zu setzen.

Die Absichtserklärung ist zumindest ein halber Erfolg: Fast alle großen Hersteller schwenken binnen kurzer Zeit ein. Künftig sind Ladegeräte in Netzgerät und Kabel getrennt. Ab 2011 lassen sich die meisten neuen Handys mit Micro-USB aufladen.

Doch eine Ausnahme bleibt: Apple. Der Konzern führt zwar USB-Netzgeräte ein, weigert sich aber, in seinen Handys einen Steckeranschluss für Micro-USB zu schaffen.

Werbung für einen halben Erfolg

Die Kommission verkauft das trotzdem als Gewinn: Der Nachfolger Verheugens als Industriekommissar, der Italiener Antonio Tajani, feiert im Mai 2011 bei einem Auftritt mit Lobbyistin Bridget Cosgrave vom Branchenverband DigitalEuropa das Ergebnis als „gute Nachricht für europäische Konsumenten“.

Die Kommission produziert sogar Werbevideos in fünf Sprachen, um das Resultat zu feiern. „Heute gibt es einheitliches Ladegerät, dass zum Aufladen unterschiedlicher Mobiltelefone verschiedener Hersteller benutzt werden kann“, sagt der Sprecher in der deutschen Version des Videos. „Ein einheitliches Ladegerät macht das Leben einfacher.“

EU-Kommissar Antonio Tajani feiert 2011 einen Beinahe-Erfolg. Daneben: DigitalEurope-Lobbyistin Bridget Cosgrave - Alle Rechte vorbehalten European Union

Einziger Schönheitsfehler: Apple hält davon nichts. In die Absichtserklärung fügten die Hersteller auf Druck von Apple eine Passage ein. Diese erlaubt die Verwendung eines eigenen Kabels für Ladegeräte, wenn der Hersteller einen zusätzlichen Adapter anbietet. Diese Adapter kosten aber extra und sorgen für zusätzlichen Elektromüll. Apples höhlt so die Selbstverpflichtung der Unternehmen von Anfang an aus.

Apples Blitz schlägt ein

Apple führt seine Strategie fort. Ende 2012 kündigt der Konzern für sein neues iPhone 5 einen Anschluss namens Lightning an. Der neue Stecker wird seither in allen iPhones verbaut. Lightning ist ein Patent von Apple, das nur mit Zustimmung des Konzerns verwendet werden darf – eine Kriegserklärung an die Idee eines gemeinsamen Standards.

Apple Lightning

Apple Lightning - CC-BY 2.0 William Warby

Die EU-Kommission schweigt zu Lightning. In Brüssel wird das gemeinsame Ladegerät immer mehr zur Peinlichkeit. Branchenvertreter erklären die Sache 2013 für erledigt. EU-Kommissar Tajani deutet in einem Brief keinerlei weiteren Handlungsbedarf an. Er lässt sich nun aber nicht mehr mit Ladegeräten in der Hand fotografieren.

Hinter verschlossenen Türen äußern sich seine Beamten unzufrieden: Apple halte sich zwar formell an die Absichtserklärung, doch es „gebe den Eindruck bei Teilen der Öffentlichkeit und manchen Abgeordneten“, dass Apple seine Versprechen ignoriere. Das sagte ein Kommissionsbeamter laut Gesprächsnotizen zu Lobbyisten.

Eine Brandmauer gegen Regulierung

Die folgenden Jahre mauert Apple. Der Konzern argumentiert gegenüber der Kommission, für einen gemeinsamen Standard müsse das iPhone völlig neu designt werden. Das behindere die Innovation seiner Produkte.

EU-Beamte halten das für eine Ausrede. „Unabhängig vom Ladegerät haben alle High-End-Handys und tragbare Geräte (auch jene Apples) eine vergleichbare Größe und Leistung. Daher werden die angeblichen Risiken und Kosten behinderter Innovation offenkundig vom Markt selbst widerlegt,“ notiert ein Kommissionsbeamter vor einem Treffen mit Apple.

Kenner sehen das ähnlich. Es sei schon möglich, dass Apple für eine Umstellung auf den gemeinsamen Standard das iPhone neu designen müsse, sagte der Technikjournalist Johannes Schuster, der seit Jahren bei Heise über Apple berichtet. „Aber das machen sie ohnehin jedes Jahr.“

Für Apple geht es ums Geld. Neuen iPhones sind zwar Ladegeräte beigelegt. Doch muss ein Kunde eines nachkaufen, wird es schnell teuer. Der Konzern verkauft im eigenen Shop Lightning-Kabel für 25 Euro pro Stück, noch einmal der gleiche Betrag fällt für das günstigste Netzgerät oder einen Adapater von Micro-USB auf Lightning an. Mit dem Ersatz-Ladegerät oder dem Zweitkabel fürs Büro verdient Apple ordentlich dazu.

Der eigene Stecker passt zudem in Apples Philosophie: Die Marke soll hervorstechen und sich von anderen abheben. Dafür zahlen Kunden eben einen Preis.

Scharfes Schwert, stumpfer Wille

Ab 2014 kommt frischer Wind in die Sache. Eine neue EU-Richtlinie erlaubt es der Kommission, einen Standard mit einem einfachen Rechtsakt vorzuschreiben – bis dahin war ein eigenes Gesetz nötig. Die EU-Behörde erhält ein scharfes Schwert, um den Kabelknoten zu durchschneiden.

EU-Abgeordnete drängen die Kommission öffentlich, endlich aktiv zu werden. Als beste Lösung gilt in der Branche der neue Standard USB-C, der ab 2014 als Nachfolger von Micro-USB eingeführt wird. Damit ließe sich Lightning leicht ersetzen. „USB-C ist als Schnittstelle sehr leistungsfähig und gegenüber Lightning der technisch überlegene Standard“, sagt Apple-Kenner Schuster. Selbst in anderen Geräten wie dem iPad Pro verbaut Apple USB-C-Anschlüsse. Nur nicht im iPhone.

Die Kommission zaudert die nächsten Jahre. Erneut drängen EU-Beamte darauf, die Branche müsse selbst Lösungen vorlegen. Doch Apple weigert sich. Fast alle Smartphone-Hersteller seien zu einer Übereinkunft aus Basis von USB-C bereit, notiert eine EU-Beamter im Herbst 2016. Alle bis auf einen.

Papier ist geduldig

Erst 2018 scheint die Geduld Europas endgültig am Ende. Vergangenen Sommer kritisierte EU-Kommissarin Margrethe Vestager, die Apple zuvor eine Rekordstrafe von 13 Milliarden Euro verpasste, fehlende Fortschritte beim einheitlichen Ladegerät. Die EU-Kommission plane eine Folgeabschätzung, die rechtliche Schritte vorbereiten soll.

Elzbieta Bienkowska

Lange Leitung: Kommissarin Elzbieta Bienkowska lässt das Thema weiter studieren - Alle Rechte vorbehalten European Union

Zuständig ist inzwischen EU-Kommissarin Elzbieta Bienkowska. In einem Brief an die Kommissarin drängten 30 Abgeordnete im Oktober zu mehr Tempo. Der neue Standard müsse zudem nicht nur für Handys gelten, sondern auch für Tablets, E-Book-Reader und andere Geräte.

Apple warnt die Kommission vor Regulierung. Apple habe mehr als eine Milliarden Geräte mit Lightning-Stecker ausgeliefert. Die zugehörigen Kabel würden mit Einführung eines neuen Standards auf einen Schlag obsolet werden, schreibt der Konzern in einer Stellungnahme. Der Konzern macht seinen eigenen Sonderweg zum Argument gegen jegliche Vorschrift.

Unter Eingeweihten gilt indes als wahrscheinlich, dass auch die nächste Generation von iPhones mit eigenem Stecker ausgeliefert wird. Auf Anfrage von netzpolitik.org wollte der Konzern das Thema nicht kommentieren.

Die nächste Herausforderung wartet inzwischen. Immer mehr Handys erlauben drahtloses Aufladen. Bisher gibt es mit Qi einen von Apple und anderen Herstellern unterstützten Standard. Doch wer garantiert, dass es dabei bleibt? Die Konsumentenorganisation ANEC spricht sich dafür aus, auch für drahtloses Aufladen einen festen Standard zu vereinbaren.

An den Nächsten weiterreichen

Doch eine Lösung ist weiter nicht in Sicht. Die Kommission wartet erst mal das Ergebnis ihrer Folgeabschätzung ab, die nicht vor September 2019 erwartet wird – nach der Europawahl im Mai. Im Herbst erbt der oder die Nachfolgerin von EU-Kommissarin Bienkowska das Thema.

Die EU-Behörde legt sich bis dahin nicht auf rechtlich verpflichtende Standards fest. „Die Kommission bevorzugt freiwillige Abmachungen, die ambitioniert sind und die Unterstützung aller Beteiligten aus der Industrie haben“, schrieb eine Sprecherin der Kommission auf Anfrage von netzpolitik.org.

Verbraucherschützer halten den bisherigen Weg für gescheitert. „Selbstregulierung liefert selten Ergebnisse für Konsumenten. Es ist eine traurige Wahrheit, dass es für eine Änderung oft zwingende Vorschriften braucht“, sagt Frederico Da Silva vom EU-Konsumentenverband BEUC. „Die Unbequemlichkeit und der ökologische Irrsinn unterschiedlicher Ladegeräte ist seit vielen Jahren bekannt.“

Da Silva drängt die Kommission, nicht mehr länger zu warten. „Folgeabschätzungen und Studien sollten kein Feigenblatt dafür sein, Entscheidungen zu verzögern“, kritisiert er. „Was wir jetzt brauchen ist politischer Wille, die Frage zu lösen.“

„Wir haben es beinahe geschafft“

Nach einem Jahrzehnt Arbeit der Kommission bleibt die Idee eines gemeinsamen Ladegeräts immer noch Stückwerk. Der Kommissionsbeamte, mit dem wir sprachen, hält die Arbeit seiner Behörde dennoch für praktisch erledigt. „Wir haben es beinahe geschafft, minus einen [Hersteller].“ Wenn so ein Erfolg gegen Apple aussieht, wie sehen dann erst Niederlagen aus?

Wie auch immer die Folgeabschätzung der Kommission und ihr nächster Schritt ausfällt: Apple hat sich ein Jahrzehnt Zeit erkauft, in der es keinerlei Auflagen akzeptieren musste. Das ist ein gewaltiger Lobbyerfolg für den Konzern – und eine Niederlage für Europa.