23) CavæTóna – Ars Acustica, 2000 (original) (raw)
„CavæTóna“ („Höhlenton“) für tiefe Männerstimme (Bernhard Lüers, Aachen), Perkussion (Dirk Rothbrust, Köln) ; op. 16, Gesamtdauer: 34:10. Bernhard Lüers zugeschrieben und Wolfgang Korb gewidmet. Das Ars Acustica-Stück wurde vom Saarländischen Rundfunk produziert, Mai 2000 – Erstausstrahlung am 23.05.2000, SR2 Kulturradio, „Radiotop: Hörkunst“. Komponiert im Sommer 1999 in der Toskana, I.
CavæTóna ist 1999 aus der Beschäftigung mit der Bildwelt paläolithischer Kulthöhlen und mit den Ritualen des Schamanismus entstanden.
Entstehungsprozess:
Das Ars Acustica-Hörspiel ging aus einer umfangreichen Recherche mit der Wandkunst der altpaläolithischen Kulthöhlen und mit den Ritualen des Schamanismus hervor.
Eingeflossen sind: meine theoretischen und praktischen Auseinandersetzungen mit dem Schamanismus; speziell der Umgang mit sogenannten ‚rituellen Trancehaltungen‘: bei der Einnahme von Körperhaltungen, die aus verschiedenen Kulturepochen anhand von Bildern und Statuen überliefert worden sind, entsteht – animiert durch einen ‚Trance-Beat‘ von Trommel oder Rassel – eine Abfolge von Bildern vor dem inneren Auge. Ein Schlüsselerlebnis dabei war, zwei markant gekreuzte Linien zu sehen, welche ich später in einem Buch über die Höhle von ‚Altamira‘ wiederfand (siehe oben 6. Station): die Darstellung eines Steinbockpaares, skizziert in wenigen Strichen, unter Einbeziehung dieses markanten Linienkreuzes.
Parallel zu meinen subjektiven Erfahrungen stellte ich fest, dass sich die wissenschaftliche Anschauung über die Bild- und Zeichensprache des Paläolithikums (gemeint ist die Zeitspanne von zirka 33.000 bis 10.000 Jahren vor unserer Zeit) mittlerweile von der These des Jagdzaubers gelöst hat und sich immer mehr einer Deutung schamanistischer Praxis zuwendet. Dabei versuchte ich noch einen Schritt weiter zu gehen, indem ich bestimmte schamanistische Kategorien entwerfe. Beispielsweise ist die Darstellung des Raubtieres, vor allem des Bären, dem Aspekt des Heilens zuzuordnen: der Schamane kennt die Haltung für die Anrufung des ‚großen Bärengeistes‘, der Heilenergie freisetzt (siehe oben 2. Station). Ebenso signalisiert eine ithyphallische Figur Fruchtbarkeit (siehe oben 4_. Station_); die Darstellung von Huftier und Fisch, die Seelenreise des Schamanen in die Ober- und Unterwelt (siehe oben 1. Station).
Eine Imagination von dem performativen Charakter schamanistischer Rituale – mitunter vor den Bildern und Zeichen der Kulthöhlen – stellte sich ein, als ich auf die Untersuchungen französischer und amerikanischer Musikarchäologen stieß. Hierbei ist vor allem Michel Dauvois zu nennen, der auf das Resonanzverhalten einiger Galerien in bestimmte französischen Kulthöhlen aufmerksam gemacht hat: eine sehr tiefe Männerstimme kann den Höhlenraum an bestimmten Stellen zum Klingen bringen; Dauvois entdeckte Dreiklangs- oder auch atonale Tonstrukturen. Sensationell an seinen Untersuchungen ist, das diese Resonanzpunkte analog zu bestimmten Bildern und Zeichen zu finden sind. Dauvois hat auch ebenso hingewiesen auf den perkussiven Charakter von Stalaktiten, belegt durch deren Abnutzungsspuren. Intonationsmäßig abgestimmt sind diese auf einem Frequenzbereich von drei- oder viergestrichenen Tönen (ca.1.000-4.000 Hz). Auf eine Analogie von Bild und Ton verweist desweiteren Steven J. Waller, der die Echowirkung von Steinschlägen ermittelt hat. Steinschläge, die wie Hufgeklapper klingen, meistens da, wo Abbildungen von Huftieren zu finden sind; ein Steinschlag, der den Sprung des Fisches auf der Wasseroberfläche assoziiert, an Stellen, wo auch Fische dargestellt sind.
Über meine Idee, diese Erkenntnisse in eine künstlerische Arbeit einfließen zu lassen, unterhielt ich mich mit meinem Gesangschüler Dr. Bernhard Lüers, der einmal über eine sehr tiefe Männerstimme verfügt und der sich andererseits in seinem Beruf als Chemiker mit dem Verhalten von Schallwellen in Hohlräumen beschäftigt (siehe auch 12b) Einführung). Der Naturwissenschaftler Lüers hat schließlich einen Gesangsresonator aus PVC-Rohren entwickelt, um entsprechend tiefe Töne (bis zu 32 Hz) zum Klingen zu bringen. Damit war ich in der Lage, eine fiktive Höhlensituation zu (er)schaffen, in die ich den Zuhörer schicken möchte. Eine Höhle, wo der Schamanen-Sänger – begleitet vom perkussiven Rhythmus von Trommel, Rasseln, Schwirrholz und authentischen Feuersteininstrumenten – sein Ritual vollzieht.
Gesangsresonator aus PVC-Rohren, entwickelt von Dr. Bernhard Lüers im Hörspielstudio von SR2 Kulturradio Saarbrücken; oben der Perkussionist Dirk Rothbrust im Studio, Fotos © by NWP
Beschränkt habe ich mich auf sechs Szenen oder Stationen, die der Schamane nacheinand abschreitet. Immer ein entsprechendes Abbild vor Augen, vollführt er sein archaisches Zeremoniell in diversen ethnischen Sprachen. Nach dem Betreten der Höhle, Beginn der einzelnen Stationen:
- Station 1: Die Seelenreise in die Ober- und Unterwelt (Darstellung: Rentier & Lachs); im Navajo-Dialekt: „Der Mond wird bald erscheinen”.
- Station 2: Das magische Beschwören des Bärengeistes im altägyptischen Tonfall: „Ich bin jemand, der die Waisen aufzieht, die Alten begräbt und die Schwachen befreit.“
- Station 3: Das ekstatische vor-Augen-führen des Todesaspektes im Angesicht des sterbenden Stieres (Höhle Lascaux); kommentiert mit Wortfetzen des tibetanischen Totenbuches (Spida Bardo, Buch 2).
- Station 4: Die Lobpreisung der Fruchtbarkeit mittels eines Sanskrit-Epilogs: „_Srimad Bhagavatam_“, Canto-Kapitel 8/40, Indien 15. Jahrhundert n. Chr
- Station 5: Das Prinzip der Geburt/eine Reflexion über die Metamorphose, wo die keltische Gedankenwelt zitiert wird: „_Le Kat Goden_“, 400 v. Chr.;
- Station 6/Finale: Vor dem Lebensprinzip der Steinbockdarstellung, wird eine mythische Beschwörungsformel in der Aborigine-Sprache angestimmt: Vers eines „_Corroboree_“ (Mythical-Song).
Die Struktur der Komposition basiert u. a. auf Reihen des „I Ging“ und deren Auslosung sowie auf rhythmische Formeln, die proportional aus den Eigenschaften der Frequenzen bestimmt wurden. Kompositorischer Rohstoff ist die Sechstonreihe: H1 – Es1 – F1 – E1 – C1 – A1, die der Bassist mit Hilfe des Resonators zu Terz, Quint oder Oktav über dem jeweiligen Grundton addiert. Trommel und Schwirrholz sind durch ihre Tonhöhenfixierung mit in das tonale Konzept eingebunden. Die Lithophone – klingende Stalaktiten -, sind gestimmt auf eIII, hIII und esIV.Ein weiterer kompositorischer Schritt ist die Angleichung des ‚Trance-Beat‘ an das jeweilige Tonhöhenverhältnis: das heißt, nach einem proportionalen Berechnungsmodus wird beispielsweise für den Ton H1 (61,73 Hz) der Grundschlag auf 185 Schläge pro Minute festgelegt.
Für das Konzept war es eine grundsätzliche Entscheidung, nicht an Originalschauplätzen Töne zu produzieren, sondern die Simulation einer (fiktiven) Höhlensituation (einschließlich der entsprechenden Bildwelt) mit den Mitteln modernster Studiotechnik zu erzielen.
„Bei der Aufführung der Radiomusik strebe ich eine ‚neue/andere Art‘ des Hörens an: Während der Dauer des Hörstücks schließt man die Augen und den Mund, atmet durch die Nase; sitzend nimmt man eine besondere Haltung ein, die Heilenergie freizusetzen imstande ist, wobei die rechte Hand über dem Herzen liegt und die linke Hand auf der Energiezone unterhalb der Bauchnabels plaziert ist. ‚Hörer‘ berichten von kaleidoskopischen visionären Bildern, die vor dem inneren Auge entstehen können.”
Partiturausschnitt
Erläuterung zum Titel „CavæTóna“:
– „cavae“ = (lat.: Höhlung/Hohlraum)
– „cave“ = (lat.: sich hüten/sorgen)
– „tona“ = (lat.: etwas mit einer Donnerstimme vortragen)
– „Kavatina” = (italienisch: Sologesangsstück mit einfachem Liedcharakter)
– „cavare“ = (italienisch: ausgraben/nutzen ziehen)
Quellen u. a. zu den Fotos/Zeichnungen:
Michel Lorblanchet (*1937) – „Höhlenmalerei“, Thorbecke 1997 (ich habe ihn persönlich kennengelernt: wir haben Briefe gewechselt und telefoniert);
https://www.hominides.com/html/biographies/michel-lorblanchet.php
Jean Clottes/David Lewis Williams – „Schamanen. Trance und Magie in der Höhlenkunst der Steinzeit“, Thorbecke 1997.
Reaktionen/Meinungen:
„Rundfunkproduktion des Jahres 2000.”
Renate Richter, MDR Leipzig; Sendung: 28.12.2000
„Une pièce très moderne.”
Gérald Vinckenbosch, RTBF Bruxelles Sendung: 03.12.2000
„Ein Schritt zurück in den ‘konzertanten’ Bereich, also in die objektivierbare Dauer einer Aufführung und gleichzeitig wieder einen Schritt darüber hinaus ist Norbert Walter Peters mit dem Radiostück CavæTóna (Höhlenton) gegangen … Die Definitionsnot bleibt erhalten angesichts der Frage, ob das ein Musikstück, eine Radiokomposition, ein Hörspiel oder etwas anderes ist. Die Praktikabilität des Stücks, das als Produktion in der Reproduktion immer wieder auflebt, führt es zurück in traditionelle Werkmaße und kann doch damit nicht abgetan werden. Die akustische Spur, der Abdruck in der Zeit evoziert ein HÖRBILD; vielleicht sogar ein Tongemälde … CavæTóna vertont alte Anrufungen, das heisst Fetzen und Fragmente alter Sprachen … und ist damit eine Weltmusik über alle Zeiten hinaus oder zurück.”
„Ich transportiere Energie” Ein Porträt des Komponisten, Klangkünstlers und Musikers Norbert Walter Peters von Dr. Reinhard Ermen swr Baden-Baden; Sendung: 28.07.2001 im „Atelier Neuer Musik”
des Deutschlandfunks Köln
„Es ist eine eindrucksvolle Arbeit …”
Dr. Goetz Naleppa, DeutschlandRadio Berlin; Sendung: 23.02.2001
„… thank you for the opportunity of hearing your powerful piece.”
Andrew McLennan, ABC Sydney; Sendung: 04.02.2002
„I really like the project and the recording … it is really a great piece.”
Eric Belgum, CD Sound Journal VOYS Minnesota/USA
„I find it very interesting.”
Michel Lorblanchet Archäologe, Directeur de Recherche de CNRS Paris
„Es ist ein sehr eindrucksvolles Werk, einschließlich der Hintergrundrecherche … Indem mehrsprachige Texte und lautmalende Ausdrücke verwendet werden, mit fremdartiger Artikulation und besonders tiefen Resonanzen (Röhren), bekommt Ihr Stück seinen abstrakten Charakter. Dieses hält die Imagination des Hörers wach …”
Pekka Siren, Ars Acoustica Gruppe Yleisradio Helsinki
Dr. Bernhard Lüers, Sänger und Wissenschaftler im Hörspiel-Studio des SRKulturradio Saarbrücken Foto © by NWP
Bibliografie:
23.05.2000 Saarländischer Rundfunk SR2 Kulturradio ‚Radiotop’ Premiere
17.07.2000 nps Hilversum/Radio 4 ‚Supplement’
14.09.2000 t-u-b-e, Galerie für Radiophone Kunst, München
11.11.2000 _Danmarks Radio/_Lydmuren ‚Geofonen’
03.12.2000 RTBF-Bruxelles/Musique 3 ‚Mésures d’un siècle’
28.12.2000 Mitteldeutscher Rundfunk ‚Das Neue Werk’
25.01.2001 Radio France/France Musique ‚Tapage Nocturne’
18.02.2001 Radio Nacional de España ‚Ars Sonora’
23.02.2001 DeutschlandRadio Kultur Berlin ‚Werkstatt’
15.04.2001 Radio France/France Culture ‚Atelier de Création Radiophonique’
17.04.2001 Croatian Radio/HR3 ‚ ‚Ars Acustica’
04.05.2001 Sender Freies Berlin ‚Hörspiel’
17.06.2001 RTBF-Bruxelles/Musique 3 ‚Penser c’est vivre: Symbolique du labyrinthe’
29.06.2001 Radio Federation Bosnia i Herzegovina ‚Sound and Time’
06.07.2001 Hessischer Rundfunk/HR2 ‚Crossover: Sound’
10.10.2001 Österreichischer Rundfunk/ORF1 ‚ZeitTon’
15.12.2001 Radio Romania- Bucuresti ‚Success of Contemporary Music’
03.01.2002 Radio Slovenia/ARS3 ‚Ars Art Atelier – Artes Acousticae’
04.02.2002 ABC Sydney ‚The Listening Room’
27.02.2002 Radio UNAM Mexico City ‚Hacia Una Nueva Música’
25.03.2002 Institut für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt ‚Stimmen der Kulturen’
07.2002 Radio Nacional Argentina Cordoba ‚Travesia’
10.08.2002 Czech Radio 3 – Vltava ‚Radio Atelier’
05.10.2002 SWR2 ‚Treffpunkt Klassik Extra’ (Auschnitt)
16.02.2003 Radio New Zealand ‚Revolutions per minute’
03.03.2004 VPRO Hilversum/Radio 4 ‚Cafe Sonore’ Ars Acustica Meeting 2004 Portrait (Ausschnitt)
19.-20-06.2004 niederösterreichisch kultur ‚Höhle Althöflein’
10.09.2004 Moravské Zemské Muzeum, CZ ‚Höhle Kulna’
12.2004 Radio Nacional Argentina Cordoba ‚Travesia’
ab 2008 Radiokunst-Archiv, Studienzentrum für Künstlerpublikationen/ASPC Neues Museum Weserburg Bremen
2009 Australien Music Centre CD ‚voice, motion, euphony’
2013 Radio Slovenia/ARS3 ‚Ars Art Atelier – Artes Acousticae’
2016 Radio Slovenia/ARS3 ‚Ars Art Atelier – Artes Acousticae’
Produktionsteam:
Saarbrücken im Mai 2000:
Autor: Norbert Walter Peters, Stolberg/Aachen, D; Tiefe Männerstimme: Bernhard Lüers, Aachen, D; Aufbau des PVC-Stimmresonators: Dr. rer. nat. Bernhard Lüers (Chemiker und Physiker); Perkussion: Dirk Rothbrust, Köln, D; Tontechniker: Werner Klein/Ralf Schnellbach (auch verantwortlich für die speziellen Soundeffekte der Höhle), Saarbrücken, D; Schnitt: Karin Beaumont, Saarbrücken, D; Aufnahmeleiter: Stefan Fricke, Saarbrücken (jetzt Redakteur beim Hessischen Rundfunk, Frankfurt), D; Redaktion: Wolfgang Korb, SR2 Kulturradio Saarbrücken, D.