Joana Seiffert | Ruhr-Universität Bochum (original) (raw)
Der Begriff der Erinnerungsorte scheint sich in den letzten Jahrzehnten zu einem "Modewort" entwi... more Der Begriff der Erinnerungsorte scheint sich in den letzten Jahrzehnten zu einem "Modewort" entwickelt zu haben. Seit seiner Erfindung durch Pierre Nora in den 1980er Jahren hat er eine Lawine von Literatur in den Human-und Gesellschaftswissenschaften ausgelöst. 1 Darüber hinaus begegnet er uns auch an prominenter Stelle innerhalb der politisch-historischen Bildungs-und Gedenkstättenarbeit. Das 1995 als "Arbeitskreis der Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus in NRW e.V." gegründete Netzwerk etwa, welches die Aktivitäten zahlreicher Mahn-und Gedenkstätten im Land bündelt, trägt seit 2010 ebenfalls den Begriff der Erinnerungsorte in seinem Namen. Damit habe man sich, wie es heißt, vor allem auch solchen Bildungseinrichtungen öffnen wollen, "die aufgrund ihres historischen Standortes und ihrer damit verbundenen inhaltlichen Schwerpunktsetzung nicht das Gedenken an die Opfer der NS-Verbrechen, aber als Erinnerungs-und Lernort die Vermittlung und Aufklärung über NS-Zeit zu ihrer Hauptaufgabe gemacht haben". 2 Vermittlung und Aufklärung scheinen hiernach die zentralen Aufgaben so genannter Erinnerungs-und Lernorte zu bildeneine vergleichsweise greifbare Vorstellung von der Funktion jener "Orte", wohingegen der Begriff des Gedenkens, mit dem hier die vermeintlich zentrale Funktion von Gedenkstätten beschrieben wird, deutlich abstrakter wirkt. So kann sich Gedenken beispielsweise in Form ritualisierter Akte, wie etwa Schweigeminuten, Kranzniederlegungen und weiterer performativer Praktiken ausdrücken. Darüber hinaus ließe sich Gedenken als eine Art innere Geisteshaltung verstehen, die mit dem Besuch von Gedenkstätten angenommen bzw. erlernt werden soll und sich in Emotionen wie Trauer, Empörung oder auch Schuldempfinden ausdrückt. Ebenfalls wird mit dem Begriff des Gedenkens eine Gedächtnisleistung beschrieben, womit dieser wiederum an Trennschärfe zu dem Begriff des Erinnerns bzw. der Erinnerung verliert, der uns im Kontext der Erinnerungsorte begegnet. Um die "Begriffsverwirrung" perfekt zu machen sei schließlich gesagt, dass Gedenkstätten in der aktuellen geschichtsdidaktischen Auseinandersetzung vor allem als "Lernorte" verstanden werden, die als "historische Orte" im Gegensatz zum Lernort Erinnerungsorte als bedeutungstragende Einheiten Wenn eine Gedenkstätte demnach ein Lernort ist und Erinnerungsorte und Lernorte wiederum die gleichen Funktionen besitzen, haben wir es dann tatsächlich nur mit einem Wirrsal an Begrifflichkeiten zu tun, die allesamt schlichtweg dasselbe meinen? Möglicherweise kann Pierre Noras Definition eines Erinnerungsortes in dieser Sache etwas Licht ins Dunkel bringen. Ihm zufolge bilde ein "lieu de mémoire" eine "bedeutungstragende Einheit, ideeller oder materieller Art, die durch menschlichen Willen oder durch das Werk der Zeiten zu einem symbolischen Element des Gedächtniserbes einer Gemeinschaft gemacht worden ist." 4 Schnell wird deutlich, dass mit dieser Definition nahezu keine Grenzen gezogen werden: Erinnerungsorte können sowohl materieller als auch immaterieller Natur sein. Neben konkreten Orten, Stätten oder Bauwerken können demnach auch reale oder mythische Personen, Rituale, Feste oder Bräuche, Lieder, Symbole oder Texte und so vieles mehr einen Erinnerungsort darstellen, sofern sie, und dies ist offenbar die einzige Einschränkung, Bestandteil des Gedächtniserbes einer Gemeinschaft sind. Wie diese ansonsten so grundverschiedenen Erinnerungsorte zu einem solchen Bedeutungsträger geworden sind -ob durch einen intentionalen Akt oder aber gänzlich unwillkürlich -spielt wiederum keine Rolle. Welche Rückschlüsse auf das Verhältnis von Erinnerungsorten und Gedenkstätten können auf der Grundlage dieser Definition gezogen werden? Die simpelste Formel, auf die sich eine Antwort auf diese Frage herunterbrechen lässt, ist vermutlich die folgende: Alle Gedenkstätten können Erinnerungsorte sein, doch nicht alle Erinnerungsorte sind Gedenkstätten. Bei Gedenkstätten handelt es sich, anders nämlich als bei Erinnerungsorten, immer um lokalisierbare, materielle Orte. Ihr wesentliches Prinzip besteht im Ausgehen von einem bestimmten historischen Ort, beispielsweise einem ehemaligen Konzentrationslager, einem Gefängnis oder einem sonstigen "Tatort". . 5 Ihre besondere Anziehungskraft gewinnen Gedenkstätten nicht zuletzt daraus, dass sie den Besucherinnen und Besuchern Geschichte dort vermitteln, wo sie sich tatsächlich abgespielt hat. Vor diesem Hintergrund wird ihnen oftmals eine besondere Aura, eine "Aura des Authentischen", zugeschrieben und der Gedenkstättenbesuch mit einer gewissen Erlebniserwartung, dem Erleben dieser vermeintlichen Authentizität, verknüpft. 6 Die Vorstellung von Gedenkstätten als "authentischen" Orten ist jedoch irreführend. Als Orte, an denen ein bestimmtes Wissen über die Vergangenheit vermittelt werden soll, stellen sie nämlich in erster Linie gestaltete, ästhetisierte Orte dar. In Form von Gebäuden und Artefakten jedweder Art wurde die zu vermittelnde Vergangenheit in Gedenkstätten ganz zielgerichtet konserviert oder aber nachträglich rekonstruiert. Während Erinnerungsorte nach der oben zitierten Definition von Nora auch unwillkürlich, also ohne eine bestimmte Absicht entstanden sein können, gilt dies für Gedenkstätten nicht. Sie sind immer intentional geschaffen und erfüllen als institutionalisierte Orte stets einen konkreten historisch-politischen Bildungsauftrag. 7 Vom Ort zum Raum -das Konzept des Erinnerungsraumes Worin besteht nun aber der Mehrwert des Erinnerungsortebegriffs, der angesichts seiner definitorischen Weite eine Art Sammelwort für alles und nichts zu sein scheint? Der Begriff der "Orte" erscheint zudem im Kontext dessen, was Nora als Erinnerungsorte definiert hat, missverständlich oder zumindest erklärungsbedürftig, was unweigerlich die Frage aufwirft, welchen Nutzen es bereiten könnte, ein Lied, eine historische Person oder auch eine Denkfigur als einen "Ort" zu begreifen. Tilmann Robbe hat vor diesem Hintergrund deutlich gemacht, dass Noras Vorstellung von den Erinnerungsorten als einem Sammelsurium einzelner, für sich alleine stehender Punkte in der Tat nur wenig Sinn ergebe. Würden allerdings mehrere dieser Punkte bzw. Erinnerungsorte miteinander verbunden, so entstehe ein Erinnerungsraum oder auch eine 5 Vgl. Till Hilmar, Ausgehend vom historischen Ort, wohin? "Diskursive" Orte der Vermittlungsarbeit zum Erinnerung und Gedächtniskonstruktion ermögliche. Das Interessante an dieser Idee ist hierbei, dass ein einzelner Erinnerungsort, je nachdem mit welchen anderen Erinnerungsorten er verbunden wird, ganz unterschiedliche Erinnerungsräume aufspannen und somit ein Fixpunkt innerhalb verschiedener Erinnerungslandschaften sein kann. Würde man die einzelnen Erinnerungsorte in eine Art Landkarte einzeichnen und diverse Verbindungslinien zwischen diesen Erinnerungsorten ziehen, so zeige sich, dass sich die aufgespannten Erinnerungsräume an einzelnen Erinnerungsorten überschneiden. Für diese einzelnen Erinnerungsorte hieße dies wiederum, dass sich an ihnen eine Vielzahl von Bedeutungsschichten überlagern. 8 Der Erinnerungsort "Weimar" 9 , um dieses recht abstrakte Bild an einem Beispiel greifbar zu machen, könnte mit den Erinnerungsorten "Goethe" und "Schiller" verbunden werden, woraus sich ein Erinnerungsraum ergebe, in welchem uns "Weimar" als eine Chiffre für eine literarische Epoche begegnet. Bringt man "Weimar" wiederum mit den Erinnerungsorten "Bonn" und "Berlin" in eine Verbindung, so wird nicht nur ein gänzlich anderer Erinnerungsraum aufgespannt, sondern auch die Bedeutung des Erinnerungsortes "Weimar" ist in diesem Falle eine andere. Der Terminus Erinnerungsorte ist vor diesem Hintergrund nicht nur als ein Begriff, im Sinne einer Bezeichnung für eine Gruppe von Gegenständen, zu verstehen, sondern auch als ein Konzept -als eine bestimmte Herangehensweise, mit der diese Untersuchungsgegenstände zusammengestellt und betrachtet werden. Der Mehrwert von Noras Erinnerungsorten als einem Begriff kann darin gesehen werden, dass er völlig ungleichartige Gegenstände -Ideen, Figuren, Stätten -als "Orte" bzw. Fixpunkte der Erinnerung gemeinsam in den Blick rückt, die vor seiner Prägung gar nicht als eine zusammenhängende Gruppe wahrgenommen worden waren. Durch die offene Definition dessen, was Nora unter einem Erinnerungsort versteht, wird das Zusammendenken dieser mitunter völlig disparaten Vorstellungen und Erscheinungen nämlich nicht nur ermöglicht, sondern geradezu eingefordert. Als eine spezifische Herangehensweise, die verschiedenen Fixpunkte gemeinsamer Erinnerung zu betrachten, lässt sich Noras Erinnerungsortekonzept zunächst als eine Art "Tiefenbohrung" an den einzelnen Fixpunkten der Erinnerung denken, mit der die jeweiligen Bedeutungsschichten, die sich an einem Erinnerungsort angelagert haben und die bisweilen 8 Vgl. Tilmann Robbe, Benjamins Berlin. Gedächtnislandschaften zwischen memory boom und spatial turn, in: Erinnerungsorte: Chancen, Grenzen und Perspektiven eines Erfolgskonzeptes in den Kulturwissenschaften, hg. v. Stefan Berger und Joana Seiffert, Essen 2014, S. 91-100. 9 "Weimar" und "Goethe" begegnen uns als Erinnerungsorte auch bei Étienne François und Hagen Schulze (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte, 3 Bde., München 2001ff.