Sasan Seyfi | Albert-Ludwigs-Universität Freiburg (original) (raw)
Papers by Sasan Seyfi
von Genua aus ins thüringische Naumburg und verkündet wenig später, daß er überhaupt nur noch am ... more von Genua aus ins thüringische Naumburg und verkündet wenig später, daß er überhaupt nur noch am Meere leben könne. Damit scheinen alle Hoffnungen von Mutter und Schwester, daß er sich als pensionierter Philologe in Reichweite befestigen ließe, vorerst zerschlagen. Bereits ein Jahr zuvor, im Mai 1879, hatte Nietzsche seinen Basler Professorenkittel an den Nagel gehängt und vagabundierte seitdem als "fugitivus errans" (= umherirrender Flüchtling) zwischen Engadin und Riviera. Wenn nicht am Meer, so hält sich Nietzsche in den nächsten zehn Jahren fast ausschließlich am Wasser auf, pendelte zwischen Sils-Maria, Genua, Sorrent, Rapallo, Venedig, Portofino, Nizza und Nepael, immer auf der Flucht vor Kopf-und Augenschmerzen, ehe er Turin zu seiner Residenzstadt erklärt. Wäre das Meer nur ein biografisches Aperçu, nur eine bloße Vorliebe für die Küstenregionen und deren heilsames Klima-Nietzsche hätte sich dieser Eigenwahmehmung als erster bemächtigt. Kein Philosoph weist einen höheren Verschleiß an nautischen und maritimen Metaphern auf, deren semantische Bezüge derart vielfältig, widersprüchlich und kontingent scheinen, als hätten sie selbst den Aggregatzustand des Meeres angenommen. In seinen Meeresbildern kann man auf Entdeckung fahren, sich treiben lassen oder untergehen. Denn wo immer sich Nietzsche auf dem Gebiete des Geistes gerne als Seefahrer und Columbus figuriert, bleibt er mit einem Bein an Land, ein "unfreiwilliges Landthier", ein Strandläufer und Meergucker, der seine Füße von der anbrausenden Gischt umspülen lässt oder wie die Eidechse in der Sonne auf einem Felsen ruht und in Gedanken auf Abenteuer ausfáhrt. Mit dem anderen Bein aber driftet er ab, kommt im wahrsten Sinne des Wortes vom Kurs ab. Versuche, Nietzsches Meeresmetaphern einzukreisen und ihnen eine eindeutige, stabile Bedeutung im Gesamtwerk zuzuweisen, müssen notwendigerweise scheitern und fuhren einmal mehr das Fortgetragenwerden von der Sprache, die man zu steuern glaubt, vor: "Für einen Menschen, den meine Denkweise rund und ganz gemacht hat, ,ist Alles im Meere', ist das Meer überall: aber das Meer selber hat an Tiefe verloren.-Doch ich war auf dem Wege zu einem ganz andren Gleichnisse und habe mich nur verlaufen! Ich wollte sagen: ich bin
von Genua aus ins thüringische Naumburg und verkündet wenig später, daß er überhaupt nur noch am ... more von Genua aus ins thüringische Naumburg und verkündet wenig später, daß er überhaupt nur noch am Meere leben könne. Damit scheinen alle Hoffnungen von Mutter und Schwester, daß er sich als pensionierter Philologe in Reichweite befestigen ließe, vorerst zerschlagen. Bereits ein Jahr zuvor, im Mai 1879, hatte Nietzsche seinen Basler Professorenkittel an den Nagel gehängt und vagabundierte seitdem als "fugitivus errans" (= umherirrender Flüchtling) zwischen Engadin und Riviera. Wenn nicht am Meer, so hält sich Nietzsche in den nächsten zehn Jahren fast ausschließlich am Wasser auf, pendelte zwischen Sils-Maria, Genua, Sorrent, Rapallo, Venedig, Portofino, Nizza und Nepael, immer auf der Flucht vor Kopf-und Augenschmerzen, ehe er Turin zu seiner Residenzstadt erklärt. Wäre das Meer nur ein biografisches Aperçu, nur eine bloße Vorliebe für die Küstenregionen und deren heilsames Klima-Nietzsche hätte sich dieser Eigenwahmehmung als erster bemächtigt. Kein Philosoph weist einen höheren Verschleiß an nautischen und maritimen Metaphern auf, deren semantische Bezüge derart vielfältig, widersprüchlich und kontingent scheinen, als hätten sie selbst den Aggregatzustand des Meeres angenommen. In seinen Meeresbildern kann man auf Entdeckung fahren, sich treiben lassen oder untergehen. Denn wo immer sich Nietzsche auf dem Gebiete des Geistes gerne als Seefahrer und Columbus figuriert, bleibt er mit einem Bein an Land, ein "unfreiwilliges Landthier", ein Strandläufer und Meergucker, der seine Füße von der anbrausenden Gischt umspülen lässt oder wie die Eidechse in der Sonne auf einem Felsen ruht und in Gedanken auf Abenteuer ausfáhrt. Mit dem anderen Bein aber driftet er ab, kommt im wahrsten Sinne des Wortes vom Kurs ab. Versuche, Nietzsches Meeresmetaphern einzukreisen und ihnen eine eindeutige, stabile Bedeutung im Gesamtwerk zuzuweisen, müssen notwendigerweise scheitern und fuhren einmal mehr das Fortgetragenwerden von der Sprache, die man zu steuern glaubt, vor: "Für einen Menschen, den meine Denkweise rund und ganz gemacht hat, ,ist Alles im Meere', ist das Meer überall: aber das Meer selber hat an Tiefe verloren.-Doch ich war auf dem Wege zu einem ganz andren Gleichnisse und habe mich nur verlaufen! Ich wollte sagen: ich bin