Benjamin Seyd | Friedrich-Schiller-Universität Jena (original) (raw)

Papers by Benjamin Seyd

Research paper thumbnail of Das Erfordernis der Kühlung. Besänftigung als Angelegenheit der Soziologie

Berliner Journal für Soziologie

Moderne Gesellschaften haben ein Überhitzungsproblem. Das gilt im Großen (Polkappen) wie im Klein... more Moderne Gesellschaften haben ein Überhitzungsproblem. Das gilt im Großen (Polkappen) wie im Kleinen (ICE im Juli), im Einzelfall (Fukushima) wie im Allgemeinen (Klimawandel)-so viel ist allgemein bekannt. Das Problem der Regulierung ihres Energieniveaus lässt sich jedoch nicht nur mit den gesellschaftlichen Naturverhältnissen in Verbindung bringen, sondern auch mit Selbst-und Sozialverhältnissen. Wenn etwa der US-Historiker Timothy Snyder über die in sozialen Medien erzeugte Dynamik sagt: "Auf Facebook werden Menschen auf andere Menschen wütend" (Snyder 2021), und diese Wut mit der Erstürmung des Washingtoner Kapitols in Verbindung bringt (wo Menschen den von ihnen selbst gewählten US-amerikanischen Vizepräsidenten hängen wollten, weil dieser drauf und dran war, seine verfassungsmäßige Pflicht zu tun)-dann kann man, jedenfalls mit etwas Kulanz fürs Metaphorische, auch das als Ausfall der Kühlung beschreiben. Moderne Gesellschaften haben es, als "heiße Gesellschaften" (Lévi-Strauss), zwar durchaus zu einer gewissen Meisterschaft darin gebracht, mit kurzzeitigen Erregungsspitzen umzugehen und das Unbekannte, das Überraschende, das Exotische oder den Nervenkitzel zu antizipieren und mit Gewinn zu rezipieren. Doch selbst wenn manche Modernen es heiß mögenzu heiß darf es nicht werden. Denn wo immer es im sozialen Miteinander zu wirklichen Verwerfungen kommt-wo Pläne zerbersten, Hoffnungen enttäuscht werden, Meinungen aufeinanderprallen, Vorstellungen sich als inkompatibel erweisen oder gleich eine ganze Welt zusammenbrichtdroht der allzu hitzige Ausbruch ungebundenen Affekts die soziale Ordnung zu ge-Hildegard Matthies (

Research paper thumbnail of Das Politische Fühlen. Der Poststrukturalismus, das Politische und die Wende zum Gefühl

Research paper thumbnail of Immer Ärger mit dem Kategorisieren: Eine heikle Debatte im Berliner Journal für Soziologie

Berliner Journal für Soziologie

alle den Fehler, daß sie zu stark unterscheiden." Diese ursoziologische Klage ist auf irdische Ve... more alle den Fehler, daß sie zu stark unterscheiden." Diese ursoziologische Klage ist auf irdische Verhältnisse im Allgemeinen gemünzt; doch suchte man ein Beispiel einer besonders verzichtbaren, ja verhängnisvollen Unterscheidung, wäre die Differenzierung verschiedener "Rassen" eine naheliegende Wahl. Das ist das Thema von Loïc Wacquant: "Immer Ärger mit ,Race'. Eine Agenda für den Umgang mit einer heiklen Kategorie" heißt sein Beitrag, der die vorliegende Ausgabe des Berliner Journals eröffnet. Der heikle Charakter von Wacquants eigenem Unterfangen zeigt sich dabei schon in der Übersetzung der Überschrift dieses im Original unter dem Titel "Resolving the trouble with ,race'" im US-amerikanischen New Left Review erschienenen Textes (Wacquant 2022). Im Sinne eines verantwortungsbewussten Sprachgebrauchs haben wir nicht nur die wörtliche Übersetzung des Titels vermieden, sondern auf die Übersetzung des zentralen Begriffs gleich ganz verzichtet. Jedoch hat auch die gefundene Form ihren Preis. Die Entscheidung für "Race" statt "Rasse" verweist auf die gesellschaftliche Problematik in den Vereinigten Staaten und die dortige Debatte, wie sie jüngst im Anschluss an die "Black Lives Matter"-Bewegung mit neuer Vitalität geführt wurde. Doch diese Diskussion lässt sich, wie Wacquant selbst immer wieder erklärt, nicht ohne Weiteres in den hiesigen Raum übertragen. Das umso mehr, als das Sprechen von "Rassen"-und glücklicherweise, muss man doch sagen!-aus dem deutschen wissenschaftlichen Sprachgebrauch

Research paper thumbnail of It’s inequality, stupid!

Berliner Journal Fur Soziologie, Dec 1, 2020

1992 war es, als der demokratische Kandidat Bill Clinton unter dem Slogan "It's the economy, stup... more 1992 war es, als der demokratische Kandidat Bill Clinton unter dem Slogan "It's the economy, stupid!" ganz auf die Karte Wirtschaftskompetenz setzte, um den Golfkriegshelden George W. Bush als US-Präsident abzulösen. Es waren zugleich die Gründungsjahre des Berliner Journals für Soziologie, das sich in besonderer Weise den Folgen und Begleiterscheinungen der marktwirtschaftlichen Transformation im ehemaligen Ostblock widmete. Hier wie dort bestand die Erwartung, dass mit der richtigen wirtschaftspolitischen Ausrichtung die Früchte der Marktwirtschaft auch jenen zugutekommen könnten, denen ein Leben in Wohlstand, Freiheit und Sicherheit bis dahin verwehrt geblieben war. Bald dreißig Jahre später ist gesellschaftliche Transformation immer noch eines der Schlüsselthemen, denen sich unsere Zeitschrift verschrieben hat-doch die Vorzeichen haben sich geändert. Niedrige Wachstumsraten, eine gewisse Desillusionierung über die Globalisierung und ihre Folgen, die Große Pandemie und nicht zuletzt die Einsicht in das Ausmaß ökologischer Gefährdungen haben dazu beigetragen, dass dem Kapitalismus selbst eine Art von Transformation ins Haus stehen könnte. Gleichzeitig hat das uneingelöste Versprechen von Freihandel, Wachstum und "trickle-down" dazu geführt, dass Verteilungsfragen wieder in anderer, expliziterer Form gestellt werden. Was in der Clinton'schen Losung bestenfalls mitschwang, ist spätestens mit der globalen Finanzkrise wieder ins Herz politischer und sozialwissenschaftlicher Auseinandersetzungen gerückt: It's inequality, stupid!

Research paper thumbnail of It’s inequality, stupid!

Berliner Journal Fur Soziologie, 2021

1992 war es, als der demokratische Kandidat Bill Clinton unter dem Slogan „It’s the economy, stup... more 1992 war es, als der demokratische Kandidat Bill Clinton unter dem Slogan „It’s the economy, stupid!“ ganz auf die Karte Wirtschaftskompetenz setzte, um den Golfkriegshelden George W. Bush als US-Präsident abzulösen. Es waren zugleich die Gründungsjahre des Berliner Journals für Soziologie, das sich in besonderer Weise den Folgen und Begleiterscheinungen der marktwirtschaftlichen Transformation im ehemaligen Ostblock widmete. Hier wie dort bestand die Erwartung, dass mit der richtigen wirtschaftspolitischen Ausrichtung die Früchte der Marktwirtschaft auch jenen zugutekommen könnten, denen ein Leben in Wohlstand, Freiheit und Sicherheit bis dahin verwehrt geblieben war. Bald dreißig Jahre später ist gesellschaftliche Transformation immer noch eines der Schlüsselthemen, denen sich unsere Zeitschrift verschrieben hat – doch die Vorzeichen haben sich geändert. Niedrige Wachstumsraten, eine gewisse Desillusionierung über die Globalisierung und ihre Folgen, die Große Pandemie und nicht zu...

Research paper thumbnail of Zwischen den Stühlen. Das Berliner Journal für Soziologie in der gesellschaftlichen Transformation und Refiguration

Berliner Journal für Soziologie, 2021

Es hätte der gegenwärtigen Corona-Pandemie nicht bedurft, um festzustellen: Wir leben und arbeite... more Es hätte der gegenwärtigen Corona-Pandemie nicht bedurft, um festzustellen: Wir leben und arbeiten in einer Zeit vielfältiger globaler Krisenprozesse, die interagieren und sich gegenseitig verstärken. Für eine deutschsprachige Fachzeitschrift wie das Berliner Journal für Soziologie stellen sich inmitten gesellschaftlicher Beschleunigungsprozesse, räumlicher Refiguration und multipler Krisendynamiken zudem Probleme und Fragen, die nur auf den ersten Blick marginal erscheinen. Erinnern wir uns an ein Ereignis, das 2019 hohe Wellen schlug und im Bundestagswahlkampf 2021 seinen Widerhall gefunden hat: "Wir haben noch neun Jahre Zeit, um den Planeten Erde vor der Selbstverbrennung zu retten, und die Politik tut nichts!", lautete

Research paper thumbnail of Democracy in post-growth societies: A zero-sum game?

Anthropological Theory, 2021

Research paper thumbnail of Abhängigkeit im 21. Jahrhundert

PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, 2020

Abhängigkeiten im globalen Kapitalismus stellen eine historische Kontinuität dar. Wie diese sich ... more Abhängigkeiten im globalen Kapitalismus stellen eine historische Kontinuität dar. Wie diese sich seit dem Ende der formalen Kolonialherrschaft in ökonomischer und politischer Hinsicht fortsetzen, hat Mitte des 20. Jahrhunderts zunächst vor allem der lateinamerikanische Dependenzansatz prominent diskutiert. Der vorliegende Beitrag argumentiert, dass politische und ökonomische Abhängigkeiten trotz Verschiebungen gegenüber der Ausgangslage der dependenztheoretischen Diskussionen der 1970er Jahre weithin fortbestehen und sich nicht allein über die Betrachtung ökonomischer Kennziffern beschreiben lassen. Gerade auch im Hinblick auf zwei Leerstellen des Dependenzansatzes, der Aneignung von un(ter-) bezahlter Sorge- und Subsistenzarbeit sowie am kostenlosen Zugriff auf Natur, zeigen sich Machtbeziehungen und Abhängigkeitsverhältnisse, auf denen die kapitalistische Weltwirtschaft weiterhin beruht.

Research paper thumbnail of Das Politische Fühlen. Der Poststrukturalismus, das Politische und die Wende zum Gefühl

Emotionen und Politik, 2015

Research paper thumbnail of Was heißt schon „systemrelevant“?

Berliner Journal für Soziologie

Zu den Grundbegriffen der Gesellschaftsbeobachtung im frühen 21. Jahrhundert gehört, neben etwa "... more Zu den Grundbegriffen der Gesellschaftsbeobachtung im frühen 21. Jahrhundert gehört, neben etwa "Prekarität" oder "Populismus", ohne Zweifel auch "Systemrelevanz"-nicht zuletzt deshalb ist er Gegenstand des Aufmachertextes von David Kaldewey im vorliegenden Heft. Die Karriere dieses Begriffs ist auffallend jung: Noch vor zwei Jahrzehnten war der Wortgebrauch selbst in den Sozialwissenschaften unüblich. Erst seit der Begriff als Rechtfertigungsformel für die öffentlichen Bail-out-Programme der Finanz-und Eurokrise nach 2008 auftauchte, hat sich das geändert. Seinerzeit verwies die Rede von Systemrelevanz auf den Umstand, dass in diesem Fall die üblichen Regeln der Marktgerechtigkeit nicht mehr galten. Zwar mochten große Investmentbanken für ihre Misere verantwortlich sein, bankrottgehen durften sie nicht: Der Fall Lehman Brothers stand als warnendes Beispiel vor Augen. Das Beharren auf Systemrelevanz erhielt so eine beinahe ohnmächtige Note-wobei sich der technische Klang des Wortes wie auch die Evokation von "Alternativlosigkeit" nur allzu gut in die expertokratische Sachzwangrhetorik der neoliberalen Ära fügten (Séville 2017).

Research paper thumbnail of Corona – Krise – Kritik: Eine Kontroverse im Berliner Journal für Soziologie

Berliner Journal für Soziologie, 2020

Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte, heißt es. Wenn drei sich streiten, freut sich nic... more Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte, heißt es. Wenn drei sich streiten, freut sich nicht unbedingt einer der drei, womöglich aber-das jedenfalls ist die Hoffnung, die dieser Ausgabe des Berliner Journals für Soziologie zugrunde liegtdie breitere Öffentlichkeit. Seit Beginn der großen Pandemie stehen wir als wissenschaftliche Zeitschrift vor einem Dilemma. Einerseits ist "Corona" als genuin soziologisches Thema nicht zu ignorieren-zu Recht wird darauf hingewiesen, dass die Stunde der Soziologie gerade in Krisen wie dieser schlägt und sie in Krisen ihre "Systemrelevanz" (Becker 2020) bekundet. Andererseits ist es nichts Neues, dass diejenigen, denen die Stunde schlägt, nicht immer bereit sind: Wissenschaftliche Erkenntnis braucht ihre Zeit. In einem frühen lesenswerten Beitrag zur Krise notierte Branko Milanovic 1 : [W]ir haben keine Ahnung, wie lang die Pandemie andauern wird, wie viele Länder sie treffen wird, wie viele Menschen sterben werden, ob der gesellschaftliche Zusammenhalt zerreißt oder nicht. Wir tappen völlig im Dunkeln. Das meiste, was wir heute sagen, kann sich morgen schon als falsch erweisen. Wenn jemand mit seinen Prognosen richtig liegt, dann muss das nicht heißen, dass er schlau ist, sondern er kann einfach Glück haben. Doch in solch einer Krise macht Glück viel aus... Nun-inzwischen wissen wir deutlich mehr. Wir wissen, dass die Pandemie kein einziges Land verschont hat, dass sie-Stand 25. November 2020-weltweit über 59 Mio. Menschen infiziert hat und für mindestens 1,4 Mio. Todesfälle verantwort-1 Erschienen in Englisch auf Milanovic' Blog (2020, Übersetzung B.S.).

Research paper thumbnail of Das Erfordernis der Kühlung. Besänftigung als Angelegenheit der Soziologie

Berliner Journal für Soziologie

Moderne Gesellschaften haben ein Überhitzungsproblem. Das gilt im Großen (Polkappen) wie im Klein... more Moderne Gesellschaften haben ein Überhitzungsproblem. Das gilt im Großen (Polkappen) wie im Kleinen (ICE im Juli), im Einzelfall (Fukushima) wie im Allgemeinen (Klimawandel)-so viel ist allgemein bekannt. Das Problem der Regulierung ihres Energieniveaus lässt sich jedoch nicht nur mit den gesellschaftlichen Naturverhältnissen in Verbindung bringen, sondern auch mit Selbst-und Sozialverhältnissen. Wenn etwa der US-Historiker Timothy Snyder über die in sozialen Medien erzeugte Dynamik sagt: "Auf Facebook werden Menschen auf andere Menschen wütend" (Snyder 2021), und diese Wut mit der Erstürmung des Washingtoner Kapitols in Verbindung bringt (wo Menschen den von ihnen selbst gewählten US-amerikanischen Vizepräsidenten hängen wollten, weil dieser drauf und dran war, seine verfassungsmäßige Pflicht zu tun)-dann kann man, jedenfalls mit etwas Kulanz fürs Metaphorische, auch das als Ausfall der Kühlung beschreiben. Moderne Gesellschaften haben es, als "heiße Gesellschaften" (Lévi-Strauss), zwar durchaus zu einer gewissen Meisterschaft darin gebracht, mit kurzzeitigen Erregungsspitzen umzugehen und das Unbekannte, das Überraschende, das Exotische oder den Nervenkitzel zu antizipieren und mit Gewinn zu rezipieren. Doch selbst wenn manche Modernen es heiß mögenzu heiß darf es nicht werden. Denn wo immer es im sozialen Miteinander zu wirklichen Verwerfungen kommt-wo Pläne zerbersten, Hoffnungen enttäuscht werden, Meinungen aufeinanderprallen, Vorstellungen sich als inkompatibel erweisen oder gleich eine ganze Welt zusammenbrichtdroht der allzu hitzige Ausbruch ungebundenen Affekts die soziale Ordnung zu ge-Hildegard Matthies (

Research paper thumbnail of Das Politische Fühlen. Der Poststrukturalismus, das Politische und die Wende zum Gefühl

Research paper thumbnail of Immer Ärger mit dem Kategorisieren: Eine heikle Debatte im Berliner Journal für Soziologie

Berliner Journal für Soziologie

alle den Fehler, daß sie zu stark unterscheiden." Diese ursoziologische Klage ist auf irdische Ve... more alle den Fehler, daß sie zu stark unterscheiden." Diese ursoziologische Klage ist auf irdische Verhältnisse im Allgemeinen gemünzt; doch suchte man ein Beispiel einer besonders verzichtbaren, ja verhängnisvollen Unterscheidung, wäre die Differenzierung verschiedener "Rassen" eine naheliegende Wahl. Das ist das Thema von Loïc Wacquant: "Immer Ärger mit ,Race'. Eine Agenda für den Umgang mit einer heiklen Kategorie" heißt sein Beitrag, der die vorliegende Ausgabe des Berliner Journals eröffnet. Der heikle Charakter von Wacquants eigenem Unterfangen zeigt sich dabei schon in der Übersetzung der Überschrift dieses im Original unter dem Titel "Resolving the trouble with ,race'" im US-amerikanischen New Left Review erschienenen Textes (Wacquant 2022). Im Sinne eines verantwortungsbewussten Sprachgebrauchs haben wir nicht nur die wörtliche Übersetzung des Titels vermieden, sondern auf die Übersetzung des zentralen Begriffs gleich ganz verzichtet. Jedoch hat auch die gefundene Form ihren Preis. Die Entscheidung für "Race" statt "Rasse" verweist auf die gesellschaftliche Problematik in den Vereinigten Staaten und die dortige Debatte, wie sie jüngst im Anschluss an die "Black Lives Matter"-Bewegung mit neuer Vitalität geführt wurde. Doch diese Diskussion lässt sich, wie Wacquant selbst immer wieder erklärt, nicht ohne Weiteres in den hiesigen Raum übertragen. Das umso mehr, als das Sprechen von "Rassen"-und glücklicherweise, muss man doch sagen!-aus dem deutschen wissenschaftlichen Sprachgebrauch

Research paper thumbnail of It’s inequality, stupid!

Berliner Journal Fur Soziologie, Dec 1, 2020

1992 war es, als der demokratische Kandidat Bill Clinton unter dem Slogan "It's the economy, stup... more 1992 war es, als der demokratische Kandidat Bill Clinton unter dem Slogan "It's the economy, stupid!" ganz auf die Karte Wirtschaftskompetenz setzte, um den Golfkriegshelden George W. Bush als US-Präsident abzulösen. Es waren zugleich die Gründungsjahre des Berliner Journals für Soziologie, das sich in besonderer Weise den Folgen und Begleiterscheinungen der marktwirtschaftlichen Transformation im ehemaligen Ostblock widmete. Hier wie dort bestand die Erwartung, dass mit der richtigen wirtschaftspolitischen Ausrichtung die Früchte der Marktwirtschaft auch jenen zugutekommen könnten, denen ein Leben in Wohlstand, Freiheit und Sicherheit bis dahin verwehrt geblieben war. Bald dreißig Jahre später ist gesellschaftliche Transformation immer noch eines der Schlüsselthemen, denen sich unsere Zeitschrift verschrieben hat-doch die Vorzeichen haben sich geändert. Niedrige Wachstumsraten, eine gewisse Desillusionierung über die Globalisierung und ihre Folgen, die Große Pandemie und nicht zuletzt die Einsicht in das Ausmaß ökologischer Gefährdungen haben dazu beigetragen, dass dem Kapitalismus selbst eine Art von Transformation ins Haus stehen könnte. Gleichzeitig hat das uneingelöste Versprechen von Freihandel, Wachstum und "trickle-down" dazu geführt, dass Verteilungsfragen wieder in anderer, expliziterer Form gestellt werden. Was in der Clinton'schen Losung bestenfalls mitschwang, ist spätestens mit der globalen Finanzkrise wieder ins Herz politischer und sozialwissenschaftlicher Auseinandersetzungen gerückt: It's inequality, stupid!

Research paper thumbnail of It’s inequality, stupid!

Berliner Journal Fur Soziologie, 2021

1992 war es, als der demokratische Kandidat Bill Clinton unter dem Slogan „It’s the economy, stup... more 1992 war es, als der demokratische Kandidat Bill Clinton unter dem Slogan „It’s the economy, stupid!“ ganz auf die Karte Wirtschaftskompetenz setzte, um den Golfkriegshelden George W. Bush als US-Präsident abzulösen. Es waren zugleich die Gründungsjahre des Berliner Journals für Soziologie, das sich in besonderer Weise den Folgen und Begleiterscheinungen der marktwirtschaftlichen Transformation im ehemaligen Ostblock widmete. Hier wie dort bestand die Erwartung, dass mit der richtigen wirtschaftspolitischen Ausrichtung die Früchte der Marktwirtschaft auch jenen zugutekommen könnten, denen ein Leben in Wohlstand, Freiheit und Sicherheit bis dahin verwehrt geblieben war. Bald dreißig Jahre später ist gesellschaftliche Transformation immer noch eines der Schlüsselthemen, denen sich unsere Zeitschrift verschrieben hat – doch die Vorzeichen haben sich geändert. Niedrige Wachstumsraten, eine gewisse Desillusionierung über die Globalisierung und ihre Folgen, die Große Pandemie und nicht zu...

Research paper thumbnail of Zwischen den Stühlen. Das Berliner Journal für Soziologie in der gesellschaftlichen Transformation und Refiguration

Berliner Journal für Soziologie, 2021

Es hätte der gegenwärtigen Corona-Pandemie nicht bedurft, um festzustellen: Wir leben und arbeite... more Es hätte der gegenwärtigen Corona-Pandemie nicht bedurft, um festzustellen: Wir leben und arbeiten in einer Zeit vielfältiger globaler Krisenprozesse, die interagieren und sich gegenseitig verstärken. Für eine deutschsprachige Fachzeitschrift wie das Berliner Journal für Soziologie stellen sich inmitten gesellschaftlicher Beschleunigungsprozesse, räumlicher Refiguration und multipler Krisendynamiken zudem Probleme und Fragen, die nur auf den ersten Blick marginal erscheinen. Erinnern wir uns an ein Ereignis, das 2019 hohe Wellen schlug und im Bundestagswahlkampf 2021 seinen Widerhall gefunden hat: "Wir haben noch neun Jahre Zeit, um den Planeten Erde vor der Selbstverbrennung zu retten, und die Politik tut nichts!", lautete

Research paper thumbnail of Democracy in post-growth societies: A zero-sum game?

Anthropological Theory, 2021

Research paper thumbnail of Abhängigkeit im 21. Jahrhundert

PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, 2020

Abhängigkeiten im globalen Kapitalismus stellen eine historische Kontinuität dar. Wie diese sich ... more Abhängigkeiten im globalen Kapitalismus stellen eine historische Kontinuität dar. Wie diese sich seit dem Ende der formalen Kolonialherrschaft in ökonomischer und politischer Hinsicht fortsetzen, hat Mitte des 20. Jahrhunderts zunächst vor allem der lateinamerikanische Dependenzansatz prominent diskutiert. Der vorliegende Beitrag argumentiert, dass politische und ökonomische Abhängigkeiten trotz Verschiebungen gegenüber der Ausgangslage der dependenztheoretischen Diskussionen der 1970er Jahre weithin fortbestehen und sich nicht allein über die Betrachtung ökonomischer Kennziffern beschreiben lassen. Gerade auch im Hinblick auf zwei Leerstellen des Dependenzansatzes, der Aneignung von un(ter-) bezahlter Sorge- und Subsistenzarbeit sowie am kostenlosen Zugriff auf Natur, zeigen sich Machtbeziehungen und Abhängigkeitsverhältnisse, auf denen die kapitalistische Weltwirtschaft weiterhin beruht.

Research paper thumbnail of Das Politische Fühlen. Der Poststrukturalismus, das Politische und die Wende zum Gefühl

Emotionen und Politik, 2015

Research paper thumbnail of Was heißt schon „systemrelevant“?

Berliner Journal für Soziologie

Zu den Grundbegriffen der Gesellschaftsbeobachtung im frühen 21. Jahrhundert gehört, neben etwa "... more Zu den Grundbegriffen der Gesellschaftsbeobachtung im frühen 21. Jahrhundert gehört, neben etwa "Prekarität" oder "Populismus", ohne Zweifel auch "Systemrelevanz"-nicht zuletzt deshalb ist er Gegenstand des Aufmachertextes von David Kaldewey im vorliegenden Heft. Die Karriere dieses Begriffs ist auffallend jung: Noch vor zwei Jahrzehnten war der Wortgebrauch selbst in den Sozialwissenschaften unüblich. Erst seit der Begriff als Rechtfertigungsformel für die öffentlichen Bail-out-Programme der Finanz-und Eurokrise nach 2008 auftauchte, hat sich das geändert. Seinerzeit verwies die Rede von Systemrelevanz auf den Umstand, dass in diesem Fall die üblichen Regeln der Marktgerechtigkeit nicht mehr galten. Zwar mochten große Investmentbanken für ihre Misere verantwortlich sein, bankrottgehen durften sie nicht: Der Fall Lehman Brothers stand als warnendes Beispiel vor Augen. Das Beharren auf Systemrelevanz erhielt so eine beinahe ohnmächtige Note-wobei sich der technische Klang des Wortes wie auch die Evokation von "Alternativlosigkeit" nur allzu gut in die expertokratische Sachzwangrhetorik der neoliberalen Ära fügten (Séville 2017).

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Berliner Journal für Soziologie, 2020

Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte, heißt es. Wenn drei sich streiten, freut sich nic... more Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte, heißt es. Wenn drei sich streiten, freut sich nicht unbedingt einer der drei, womöglich aber-das jedenfalls ist die Hoffnung, die dieser Ausgabe des Berliner Journals für Soziologie zugrunde liegtdie breitere Öffentlichkeit. Seit Beginn der großen Pandemie stehen wir als wissenschaftliche Zeitschrift vor einem Dilemma. Einerseits ist "Corona" als genuin soziologisches Thema nicht zu ignorieren-zu Recht wird darauf hingewiesen, dass die Stunde der Soziologie gerade in Krisen wie dieser schlägt und sie in Krisen ihre "Systemrelevanz" (Becker 2020) bekundet. Andererseits ist es nichts Neues, dass diejenigen, denen die Stunde schlägt, nicht immer bereit sind: Wissenschaftliche Erkenntnis braucht ihre Zeit. In einem frühen lesenswerten Beitrag zur Krise notierte Branko Milanovic 1 : [W]ir haben keine Ahnung, wie lang die Pandemie andauern wird, wie viele Länder sie treffen wird, wie viele Menschen sterben werden, ob der gesellschaftliche Zusammenhalt zerreißt oder nicht. Wir tappen völlig im Dunkeln. Das meiste, was wir heute sagen, kann sich morgen schon als falsch erweisen. Wenn jemand mit seinen Prognosen richtig liegt, dann muss das nicht heißen, dass er schlau ist, sondern er kann einfach Glück haben. Doch in solch einer Krise macht Glück viel aus... Nun-inzwischen wissen wir deutlich mehr. Wir wissen, dass die Pandemie kein einziges Land verschont hat, dass sie-Stand 25. November 2020-weltweit über 59 Mio. Menschen infiziert hat und für mindestens 1,4 Mio. Todesfälle verantwort-1 Erschienen in Englisch auf Milanovic' Blog (2020, Übersetzung B.S.).