Andreas Grantner | University of Vienna (original) (raw)
Papers by Andreas Grantner
Lyon im Pariser Salon Indien du Grand Café einem ausgewählten Publikum vorführten, schrieb die fr... more Lyon im Pariser Salon Indien du Grand Café einem ausgewählten Publikum vorführten, schrieb die französische Presse, der Tod habe aufgehört unendlich zu sein. Das Leben, das bisher nur in Worten bewahrt werden konnte, sah sich fortan in einer neuen Form und Weise gebannt. Die Ebenen zwischen Wirklichkeit und Schein, zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Macht und Machtlosigkeit, umschlungen sich an einem Ort, den der Mensch zwar wahrnehmen, aber nie restlos greifen konnte. Der Siegeszug der Videoüberwachung hat die Unendlichkeit des Lebens ins unendlich Gegenwärtige gesteigert. Der Blick, der ein Ziel benötigt, ist dabei immer mit einem Vorurteil beladen. Wenn Eugène Atget die Straßen von Paris mit seiner Fotokamera festhielt, dann mussten sie Walter Benjamin wie Tatorte erscheinen. 2 Sein Objektiv spähte nie in die Leere, es benötigte das Motiv ebenso sehr, wie das Verbrechen ein Motiv braucht. Wenn dem aber so ist, so können wir das Bewusstsein des Blickes, und im gesammelten Bewusstsein der Blicke die Art und Weise einer Gesellschaft ergründen, die sieht, um etwas zu sehen und die gesehen wird ohne zu sehen. Diese Arbeit richtet ihren Blick auf den 1. Bezirk Wiens, die Innere Stadt. Ihre Innerlichkeit verdankt sie der Ringstraße (und im Osten dem Franz-Josefs-Kai), die unseren Untersuchungsraum erst sichtbar werden lässt. In Platons Politeia findet sich eine Geschichte, die es, wie es mir scheint, an dieser Stelle verdient, erzählt zu werden. Als der lydische Hirte Gyges einst bei wallendem Regen seine Schafe hütete, erschütterte ein Erdbeben das Land und tat den Boden der Weide auf. Gyges, von der Neugierde gepackt, stieg in den Schlund hinab und fand in einem hohlen ehernen Pferd den Leichnam eines Mannes, der einen goldenen Ring am Finger trug. Der Hirte nahm den Ring an sich und kehrte zurück zu seinen Gefährten, wo ihm die Zauberkraft des Schmuckstückes offenbar wurde, die ihn unsichtbar werden ließ. Die unverhoffte Macht war unermesslich. Gyges wusste den Ring einzusetzen. Er infiltriert den Hof des Königs, verleitet dessen Gattin zum Ehebruch, ermordet schließlich den König und usurpiert die Krone. 3 Die Freiheit, die der einfache Hirte erlangt, indem er an seinem Ringe dreht und im Schatten untertaucht, erlaubt ihm seine Ungerechtigkeit. Jemand, der nichts zu befürchten hat, ist bei Platon dazu verpflichtet -zumindest vor sich selbst -die ihm naheliegende Tat auszuführen. Wenn wir 1 La Poste (30.
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Lyon im Pariser Salon Indien du Grand Café einem ausgewählten Publikum vorführten, schrieb die fr... more Lyon im Pariser Salon Indien du Grand Café einem ausgewählten Publikum vorführten, schrieb die französische Presse, der Tod habe aufgehört unendlich zu sein. Das Leben, das bisher nur in Worten bewahrt werden konnte, sah sich fortan in einer neuen Form und Weise gebannt. Die Ebenen zwischen Wirklichkeit und Schein, zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Macht und Machtlosigkeit, umschlungen sich an einem Ort, den der Mensch zwar wahrnehmen, aber nie restlos greifen konnte. Der Siegeszug der Videoüberwachung hat die Unendlichkeit des Lebens ins unendlich Gegenwärtige gesteigert. Der Blick, der ein Ziel benötigt, ist dabei immer mit einem Vorurteil beladen. Wenn Eugène Atget die Straßen von Paris mit seiner Fotokamera festhielt, dann mussten sie Walter Benjamin wie Tatorte erscheinen. 2 Sein Objektiv spähte nie in die Leere, es benötigte das Motiv ebenso sehr, wie das Verbrechen ein Motiv braucht. Wenn dem aber so ist, so können wir das Bewusstsein des Blickes, und im gesammelten Bewusstsein der Blicke die Art und Weise einer Gesellschaft ergründen, die sieht, um etwas zu sehen und die gesehen wird ohne zu sehen. Diese Arbeit richtet ihren Blick auf den 1. Bezirk Wiens, die Innere Stadt. Ihre Innerlichkeit verdankt sie der Ringstraße (und im Osten dem Franz-Josefs-Kai), die unseren Untersuchungsraum erst sichtbar werden lässt. In Platons Politeia findet sich eine Geschichte, die es, wie es mir scheint, an dieser Stelle verdient, erzählt zu werden. Als der lydische Hirte Gyges einst bei wallendem Regen seine Schafe hütete, erschütterte ein Erdbeben das Land und tat den Boden der Weide auf. Gyges, von der Neugierde gepackt, stieg in den Schlund hinab und fand in einem hohlen ehernen Pferd den Leichnam eines Mannes, der einen goldenen Ring am Finger trug. Der Hirte nahm den Ring an sich und kehrte zurück zu seinen Gefährten, wo ihm die Zauberkraft des Schmuckstückes offenbar wurde, die ihn unsichtbar werden ließ. Die unverhoffte Macht war unermesslich. Gyges wusste den Ring einzusetzen. Er infiltriert den Hof des Königs, verleitet dessen Gattin zum Ehebruch, ermordet schließlich den König und usurpiert die Krone. 3 Die Freiheit, die der einfache Hirte erlangt, indem er an seinem Ringe dreht und im Schatten untertaucht, erlaubt ihm seine Ungerechtigkeit. Jemand, der nichts zu befürchten hat, ist bei Platon dazu verpflichtet -zumindest vor sich selbst -die ihm naheliegende Tat auszuführen. Wenn wir 1 La Poste (30.