HAHN, Traugott (original) (raw)

Band II (1990)Spalten 472-475 Autor: Friedrich Wilhelm Bautz

HAHN, Traugott, Theologe und Märtyrer, * 1.2. 1875 in Rauge (Livland) als Sohn des Pfarrers Traugott Hahn (s. d.) und Enkel des Hereromissionars Hugo Hahn (s. d.), � 14.1. 1919 in Dorpat. - Mit seinem Bruder Willy erlebte Traugott in der damals für das Baltenland so schweren Zeit der gewaltsamen Russifizierung auf dem Gymnasium in Reval so offenkundige Ungerechtigkeiten und Zurücksetzungen durch den russischen Direktor, daß sich der Vater veranlaßt sah, seine Söhne nach St. Petersburg in die deutsche St. Petrischule zu geben. 1893 begannen beide an der Universität Dorpat das Studium der Theologie, das Traugott, als sein an Typhus erkrankter Bruder am 8.11. 1894 starb, für ein Semester unterbrechen mußte, um sich in der Schweiz zu erholen, da dieser harte Schlag seine Gesundheit aufs schwerste erschüttert hatte. Nach beendetem Studium ging H. zur Fortsetzung seiner wissenschaftlichen Ausbildung nach Göttingen, wohin ihn vor allem Nathanael Bonwetsch (s. d.), der Freund seines Vaters, zog. 1900 mußte er seine Studien abbrechen, um Hilfsprediger seines an einem Augenleiden erkrankten Vaters zu werden. H. wurde 1902 zum Universitätsprediger in Dorpat berufen und reichte der Theologischen Fakultät seine in Göttingen entstandenen Tychoniusstudien ein, um zu promovieren, da nach altem Recht der Pastor der Universitätsgemeinde zugleich Glied der Theologischen Fakultät sein mußte. Dabei stieß er auf starken Widerstand von seiten des Tschechen und Deutschenhassers Johann Kvacala (s. d.), des Professors der Kirchengeschichte, wurde aber doch im Herbst 1902 Magister und als Privatdozent zugelassen, weil Alfred Seeberg (s. d.), sein früherer Hochschullehrer und einer der bedeutendsten Professoren, die Dorpat damals hatte, seinen ganzen Einfluß in die Waagschale warf, um dem jungen Theologen, von dem er viel erwartete, die Wege zu ebnen. H. verheiratete sich am 29.8. 1903 mit Anny von zur Mühlen, der Tochter des Direktors der estländischen Adelsbank in Reval. Er erlebte die erste Märtyrerzeit der baltischen Kirche, die Revolution von 1905, die sich in Estland und Lettland nicht nur gegen die Deutschen und die besitzenden Klassen, sondern ganz bewußt gegen die Kirche und Gottes Wort richtete. Er atmete erleichtert auf, als es der russischen Regierung gelang, den Aufstand niederzuwerfen, und war dankbar für die religiöse und nationale Freiheit, die die Revolution gebracht hatte. Anfang 1908 wurde H. von der Theologischen Fakultät zum Professor der Praktischen Theologie vorgeschlagen gegen die Stimme Kvacalas, der nun unter den Professoren gegen ihn arbeitete, weil die Fakultät nur das Vorschlagsrecht hatte, die Wahl selbst aber von der Gesamtheit der Professoren aller Fakultäten erfolgen und dann noch von dem Ministerium in St. Petersburg bestätigt werden mußte. Bei der Wahl hatte H. drei Stimmen zu wenig, wurde aber dennoch im Frühjahr 1909 von dem Minister für Volksaufklärung zum Professor ernannt. Im Frühjahr 1915 mußte er sich, aus Livland ausgewiesen, in das Innere Rußlands begeben, durfte aber zurückkehren, weil die estnischen und lettischen Studenten durch eine Abordnung an den Kriegsgouverneur in Riga die Aufhebung des Ausweisungsbefehls erreicht hatten. Auf der Rückreise konnte H. im Gefängnis zu St. Petersburg seinen Vater und Schwager vor ihrem Abtransport nach Sibirien noch sehen und sprechen. H. setzte seine Lehrtätigkeit fort, während die anderen Professoren ihr Abschiedsgesuch einreichten, weil auf Befehl des Ministers 1916 nur die Vorlesungen der Praktischen Theologie in den ortsüblichen Sprachen des baltischen Landes, in Lettisch, Deutsch und Estnisch, gehalten werden durften, für die anderen Vorlesungen aber die russische Sprache verlangt wurde. Mit der Revolution von 1917 brach eine Zeit der völligen Willkür- und Gewaltherrschaft an. Am 24.2. 1918 befreiten deutsche Truppen Dorpat. Den letzten schönen Sommer verlebte H. mit seiner Familie in dem ländlichen Villendorf Strandhof bei Reval. Am 15.9. 1918 wurde in Dorpat die Universität wieder als deutsche Hochschule eröffnet. Als die deutschen Truppen Ende 1918 aus dem Baltenland abzogen, die rote Gefahr immer näher kam und viele flohen, blieb H. bei seiner Gemeinde. Am 8.12. 1918 schrieb er an seinen Bruder Hugo Hahn (� 1957; s. d.), der damals Pfarrer in der Landgemeinde Nissi im Norden Estlands war: "Ich maße mir natürlich keinerlei Urteil an über Deine Lage. Sagen möchte ich nur, daß ich dringend wünsche, Gott möge es Dir ermöglichen, auf Deinem Posten auszuhalten. Ich habe eine Furcht für mich und andere, daß wir ja nicht unter Johannes 10, 13 fallen. Ich glaube, wir werden es vor dem Herrn der Kirche sehr ernst zu verantworten haben, wenn und wie wir unsere Posten hier, die doch seine Posten sind, die er uns anvertraut hat, räumen. Wenn wir nicht bereit sind, um des Zeugnisses des Evangeliums willen unser Leben zu opfern, so beweisen wir, daß es für uns nicht den nötigen vollen Wert gehabt hat." In seiner Predigt am 3. Advent 1918 über Römer 14, 7. 8 sagte H.: "Er, der nun einmal der Herr der Märtyrer ist, braucht das Sterben der Seinen je und je als die kostbarste, fruchtbarste Aussaat seines Reiches. - Möge doch in uns der urchristliche Märtyrersinn wieder aufleben, der nie zum Martyrium sich drängt, wohl aber, wenn es kommt, ihm tapfer entgegengeht. Nur ganz wenige von uns dürften so weit sein, aber erstreben und erbitten sollten wir uns jetzt diesen heldenhaften Christensinn." Am Vorabend des Abmarsches der deutschen Truppen besuchte ihn noch einmal Reinold von Thadden-Trieglaff (� 1976; s. d.). Als er in später Abendstunde von dem jungen Offizier Abschied nahm, sagte H. zu ihm: "Es kann wohl sein, daß Gott auch in unseren Tagen wieder einmal das schwerste und größte Opfer verlangt, die köstlichste Saat im Reich Gottes, die Hingabe des Lebens." In der Nacht zum 4. Advent richteten die Bolschewiken in Dorpat ihre Herrschaft auf. Als die Gottesdienste in der Kirche verboten wurden, predigte H. im Pfarrhaus und hielt Andachten in den Häusern der Gemeindeglieder. So konnte er den Trauernden Kraft und Trost spenden und vielen die Wegrichtung durch das finstere Tal weisen. "Wenn ich jetzt sterben müßte", sagte H. nach einem arbeitsreichen Tag, "so hat sich mein Bleiben doch gelohnt." Am 3.1. 1919 verhafteten ihn die Bolschewiken. Das Kellergewölbe einer Bank wurde sein Gefängnis. Von Tag zu Tag kamen neue Gefangene hinzu; so waren es schließlich 80 Mann in der von Schmutz starrenden, stinkenden Zelle. Hier wurde H. ein stiller Dulder, der nicht viel sprach, aber um so nachhaltiger wirkte durch seinen Wandel ohne Wort. Ein Mitgefangener, der das Beten ganz verlernt hatte, fing wieder zu beten an, weil er sah, daß und wie H. betete. Seine Taschenbibel und sein griechisches Neues Testament hatte H. behalten dürfen. Stundenlang vertiefte er sich in Gottes Wort. Als die Gefangenen einmal länger als sonst auf das Essen ihrer Angehörigen warten mußten, äußerte H.: "Tausendmal lieber möchte ich hungern als ohne Bibel sein." Ein russischer Priester, der die Freiheit wiedererlangte, sagte von H.: "Er hat ganz in Gottes Wort gelebt." In einer Nacht wurden viele aus dem Gefängnis herausgerufen, zum Embachfluß geführt, dort erschossen und unter das Eis gesteckt, daß der Strom sie forttrüge. Die Gefangenen erfuhren es. Nun wußte H., daß seine Tage gezählt waren. Darum nahm sein Gebetsringen an Tiefe zu. Am 14.1. 1919 befreiten estländische Truppen Dorpat. 300 Männer und Frauen konnten lebend das Gefängnis verlassen. In dem "Mordkeller" aber, in dem ein Mann nicht aufrecht stehen konnte, fand man die Leichen von den 23, die die Bolschewiken noch vor ihrer Flucht erschossen hatten, darunter auch H.

Werke: Tychoniusstud., 1900; Evangelisation u. Gemeinschaftspflege I, 1909 (trug ihm die theol. Doktorwürde aus Rostock ein); Glaubet an das Licht! Ein Jg. Predigten, 1920 (19252); Dienet dem Herrn mit Freuden! 17 Predigten, 1921 (19333); Komm. o mein Heiland Jesus Christ, mein's Herzens Tür dir offen ist! Kinderpredigten, 1922 (Neuausg. 1946; 19503); Kämpfe den guten Kampf des Glaubens. Worte an Konfirmanden, 1928 (19312); Wage es mit Christus! 14 Predigten, 1955; Gott dennoch die Liebe! Predigten aus schwerer Zeit, 1955 (die beiden letztgenannten Smlg.en hrsg. v. Anny Hahn mit einem Geleitw. v. Reinold v. Thadden-Trieglaff).

Lit.: Johannes Frey, Die Theol. Fak. der Kais. Univ. Dorpat-Jurjew 1802-1903, Reval 1905, 175 f.; - Oskar Schabert, Balt. Märtyrerbuch, 1926, 76 ff.; - Ders., Der Märtyrer D. T. H., 1932 (1937: 10.-11. Tsd.); - Anny Hahn (Gattin), D. T. H. Lb. aus der Leidenszeit der balt. Kirche, hrsg. v. Wilhelm Ilgenstein, 1928 (1941: 32.-35. Tsd.); - Dies. Es gibt einen lebendigen Gott. Ein Lebenszeugnis, 1968; - Traugott Hahn (Vater), Gott allein die Ehre! Kindheit u. Jugend des � D. T. H., 1930; - Roderich v. Engelhardt, Die dt. Univ. Dorpat in ihrer geistesgeschichtl. Bedeutung, 1933; - Erich v. Schrenck, Balt. KG der Neuzeit, Riga 1933; Magdalene Hahn (Schwester), Das Geheimnis des Leidens. Ein Lb. der Pastorin Sophie Rosalle Hahn (T. H.s Mutter), zus.gefaßt nach den "Lebenserinnerungen" v. Traugott Hahn (sen.), 1939 (19575); - Viktor Wittrock, In Sturm u. Stille. Ein balt. Pfr.leben in bewegter Zeit, 1940; - Friedrich Wilhelm Bautz, Es kostet viel, ein Christ zu sein, 1949, 57 ff.; - Anna Katterfeld u. Wilhelm Ilgenstein, Du bist meines Gottes Gab. Verlobungsgesch.n bekannter Männer, 1951, 206 ff. (Prof. D. T. H. Euer Herz soll sich freuen, u. eure Freude soll niemand v. euch nehmen); - Erik Thomson, Die Familie H. Aus der Gesch. eines balt. Pfr.geschlechts, in: Sonntagsbl. f. die ev.-luth. Kirche in Bayern, Nr. 40/42, 7./21.10.1951; - Ders., T. H. Ein Märtyrer der balt. Kirche, 1954 (19622); - Johannes Schleuning, Die Stummen reden. 400 J. ev.-luth. Kirche in Rußland, 1952; - August Westrén-Doll, Prof. D. T. H., in: Balt. Köpfe. 24 Lb. aus 8 Jhh. dt. Wirkens in den balt. Landen, hrsg. v. Heinrich Bosse u. Arved Frhr. v. Taube, 1953, 135 ff.; - Reinold v. Thadden-Trieglaff, Erinnerungen an Prof. D. I. H., in: Balt. Rdsch, Bovenden über Göttingen, 4. Jg., Nr. 12, 15. 12. 1953; - Ders., Ein balt. Märtyrer. Erinnerungen an D. T. H., in: Zeitwende 25, 1954, 111 ff.; - Ders., Erinnerungen an Prof. D. T. H., in: Ostdt. Mhh. 25, 1958-59, 712 ff.; - Jörg Erb, Die Wolke der Zeugen II, 1954, 482 ff.; - Friedrich Laubscher, T. H. Der Märtyrer im Baltenland, 1954; - Balt. KG, hrsg. v. Reinhard Wittram, 1956; - D. T. H. z. Gedächtnis, in: DtPfrBl 59, 1959, 10 f.; - Friedrich Hauß, Väter der Christenheit III, 1959, 305 ff.; - Eduard Steinwand, T. H., in: Ders., Glaube u. Kirche in Rußland, 1962, 149 ff.; - Lex. dt. balt. Theologen, bearb. v. Wilhelm Neander, Hannover-Döhren 1967; - Dt.balt. Biogr. Lex. I710-1960, hrsg. v. Wilhelm Lenz, 1970, 289; - RGG III, 30; - EKL II, 8.

Letzte Änderung: 23.09.2001