Vlog, Videoblog: Bodo Niemann, Gerhard Riebicke und die Freikörperkultur (original) (raw)
26. June 2007
Interview mit Bodo Niemann (Quicktime-Video)
Lebensreform, Freikörperkultur und der Fotograf Gerhard Riebicke
Lebensreform und Alternativbewegungen
Gegen Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts entstanden vor allem in Deutschland und der Schweiz die sogenannten Lebensreform- oder Alternativbewegungen, in einer Zeit, in der die Menschen, geprägt von der neuen Moderne und den Folgen der industriellen Revolution, große Veränderungen zu bewältigen hatte. Zur Lebensreform gehörten all jene Bestrebungen, die zur Erneuerung der Lebensweise in Anpassung an die neu entstandenen Umstände, wie Urbanisierung und Entfremdung, führen sollten. Sehr stark betont wurde dabei die Verbundenheit mit der Natur; kennzeichnend war außerdem ein starker Subjektivismus und die Idee, ein quasi irdisches Paradies zu schaffen. Einige Bewegungen hatten eine missionarische Intention, bis hin zum sektenhaften. Die Träger der Lebensreformbewegung entstammten meist dem Bürgertum.
Einige der wichtigsten Ausprägungen der Lebensreform waren der Vegetarismus, die naturheilkundliche Medizin und die Freikörperkultur. Aber auch alternative quasi-religiöse Bewegungen hatten großen Zulauf, so zum Beispiel die Theosophie (Weisheitslehre von Gott) und Anthroposophie. Letztere entstand erst 1913, als sich Rudolf Steiner mit einer Gruppe von Leuten von den Theosophen, die sich als antichristlich verstanden, lossagte und sich fortan als anthroposophische Gemeinschaft verstand. Die großen Zentren der Lebensreform waren Amden und Monte Vérita im Tessin in der Schweiz und Berlin mit seinen umliegenden Ortschaften in Deutschland.
Gerhard Riebicke.
Die Freikörperkultur und ihr Dokumentarist
Bereits 1853 gründete der Schweizer Arnold Rikli eine sogenannte „Sonnenheilanstalt“ in der er seinen Patienten „Lichtbäder“ verordnete. In Deutschland kam die Bewegung der Freikörperkultur erst später, in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts, auf. Die zugrunde liegende Idee war vor allem eine naturnahe Lebensweise zugunsten der Gesundheit. Die Freikörperkultur hatte keine sexuellen Komponenten. Tatsächlich distanzierten sich die Anhänger ganz bewusst vom Pornografischen und Sexuellen. Es ging in der Hauptsache um den Haut-Luft-Kontakt, der als besonders gesund angesehen wurde, um die Leibesertüchtigung im Freien ohne Bekleidung, da man bestimmte Haltungsschäden auf diese Weise sofort erkennen und korrigieren konnte und um die Verbundenheit des Menschen mit der Natur. Das Nacktsein wie es die Nudisten damals verstanden wissen wollten, war ein Nacktsein an sich, nicht ein Ausgezogensein, wie es heute verstanden wird. Der eigentliche Unterschied war eben das Noch-nicht-Angezogensein und somit vollkommen Natürliche und Freie im Umgang mit dem Körper.
Auch einige Künstler gehörten der Bewegung an und wurden mit ihren Werken auch zu Dokumentaristen der Freikörperkultur. Einer der berühmtesten Lebensreformer und Freikörperkultur-Anhänger war der Maler und Illustrator Fidus (mit bürgerlichem Namen Hugo Höppener), dessen bekanntestes Werk „Lichtgebet“, das einen die Sonne anbetenden Jüngling auf einem Berggipfel zeigt, wesentlich zum künstlerischen Ausdruck der Lebensreform in all ihren zahlreichen Facetten beitrug. Das eigentliche Medium der Nudistenbewegung jedoch war die Aktfotografie und der wohl begabteste Fotograf dieses Genres seiner Zeit war Gerhard Riebicke.
Dieser, heute weitgehend unbekannte, Fotograf beschäftigte sich zunächst mit der Abbildung von Sportszenen, später, das heißt Mitte der 20er Jahre, widmete er sich der Darstellung des Nacktsportes, vor allem von Tänzern und Gymnasten, schließlich aber fand er zur jener Form von Freikörperkultur, an der auch der „normale“ Mensch teilhatte, der nicht athletisch geformt war. Die von Riebicke fotografierten Modelle wirken, betrachtet man die Bilder heute, auffallend unbefangen und frei im Umgang mit ihren Körpern und der Kamera. Selbst in den stark inszenierten Bildern sind unglaubliche Natürlichkeit und subtiler Humor zu finden. Die gott- oder naturgegebene Schönheit und Anmut der Menschen auf Riebickes Bildern wirkt derart selbstverständlich, dass man sich fragt, wo es solche Menschen heute gibt. Gibt es sie noch? Oder ist der Jetzt-Mensch durch die Überflutung mit einer permanent präsenten, unnatürlich und vulgär erotisch aufgeladenen Bilderschwemme schon so überreizt einerseits und abgestumpft andererseits, dass er die natürliche Haltung, vor allem im Nacktsein, verloren hat? Die Menschen heute sind so voll mit Bildern, dass sie, sobald sie sich ausziehen, eine Selbstinszenierung starten, die sie im „richtigen“ Licht zeigen soll. Sie planen ihre Wirkung nach außen genau, piercen und tätowieren ihre Körper, ohne dass dies irgendeinen traditionellen Hintergrund hätte, (wie bei den Völkern, die das schon seit tausenden Jahren tun), rein im Hinblick auf ihre, meist erotische intendierte, Wirkung auf andere. Diese Meinung vertritt jedenfalls der Riebicke-Kenner und –Liebhaber und ehemalige Galerist und Publizist Bodo Niemann. Wir trafen ihn in seiner Wohnung in Berlin-Mitte und führten ein langes Gespräch über Riebicke und die Freikörperkultur damals und heute.
Daniela Krien
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Vlog, Videoblog: Bodo Niemann, Gerhard Riebicke und die Freikörperkultur3.783
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Interview: Gesellschaft, Interview: Kunst und Kultur | | Trackback