Brasiliens Gewerkschaften: zwischen Korporatismus und Tarifautonomie (original) (raw)

Zählebiger Etatismus - Anmerkungen zu R. Doleschal »Neue Gewerkschaften in Brasilien- Eine Hoffnung?«

PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, 1985

Nach langen Jahren der Identifikation mit den Revolutionen in den fernen Ländern hat sich das politische Interesse der bundesrepublikanischen Linken auf die eigene Region verlagert. So sehr man diesen Perspektivenwechsel auch als einen wichtigen Schritt in Richtung auf eine Überwindung der »Fremdidentifikationen mit vorgemachten und nachempfundenen Revolutionen in anderen Ländern und den damit verbundenen Denkweisen« (Negt 1984, S. 114) begrüßen mag; die Nonchalance, mit welcher die ehemaligen Identifikationsobjekte beiseite geschoben worden sind, stimmt bedenklich. Sie birgt nämlich die Gefahr in sich, daß ein ehemals abstrakt proklamatorischer Internationalismus sich hinterrücks in einen pausbäckigen Provinzialismus verwandelt, welcher den eigenen Kirchturm mit dem Weltgeschehen verwechselt und internationale Konfliktkonstellationen, welche nicht unmittelbar mit der Raketenfrage verknüpft sind, nur am Rande zur Kenntnis nimmt.

Klasse und "Volk" in der Krise der Arbeitsgesellschaft: Faschistische Entwicklungen in Brasilien

Exit, 2022

In den 1990er Jahren haben Ulrich Beck und andere Soziologen in den USA und Europa angefangen, über die "Brasilianisierung" des Westens zu sprechen. Brasilien schien dann die "Schöne neue Welt" (im Sinn von Aldous Huxley) zu sein: Die brasilianische Katastrophe hatte einen globalen sozialen Prozess antizipiert. Als Stefan Zweig sein "Brasilien, Land der Zukunft" während des Zweiten Weltkrieges schrieb, war aber Brasilien der Name einer Utopie. Obwohl eine solche Idee einfach zu verspotten ist, hat sie auch ein objektives Moment: In seinem Klassiker "Visões do Paraíso" [Anschauungen des Paradieses] hat Sergio Buarque de Holanda über die utopischen Phantasien geschrieben, die den Prozess der Kolonisation begleiteten. Der koloniale Raum war immer zukunftsorientiert gewesen-nicht im Sinne des langsamen Fortschritts, aber in dem einer utopischen Apokalypse: Amerika als Offenbarung, ein Ort ohne Gesetz und Eigentum-das Negative des "Nomos der Erde", das anomische Untergeschoss der Europäischen Ordnung. Natürlich war dieses Paradies auch die Hölle: der Fortschritt als die "ewige Wiederkunft des Gleichen". Worin liegt dann die Aktualität dieses "Experiments Brasilien"? Am Anfang der 2000er Jahre hat der Philosoph Paulo Arantes den entscheidenden Essay "Die brasilianische Fraktur der Welt" geschrieben und den Grundgedanken von Roberto Schwarz aktualisiert, nach dem die Wahrheit sich in der Peripherie offenbart. Am Ende des 20. Jahrhunderts entsteht eine neue historische Gleichzeitigkeit: Die Unterschiede zwischen der ersten und der dritten Welt werden immer geringer. Das bedeutet aber nicht, dass die "nachholende Modernisierung" in der Peripherie erfolgreich zu einem Ende gekommen ist. Der Modernisierungsprozess der Dritten Welt war zwar am Ende, aber die Peripherie hatte nicht den zivilisatorischen Standard des kapitalistischen Zentrums erreicht: eher umgekehrt. In Ländern wie Frankreich und den USA konnte man jetzt eine krasse Deklassierung und eine soziale Ungleichheit ähnlich den brasilianischen Verhältnissen beobachten. Wenn man aber in diesem Kontext von einer "Rückkehr des Klassenkampfes" spricht, ist das nur ein Zeichen unserer theoretischen und politischen Hilflosigkeit. Das Ende der westlichen Mittelklasse und die Entstehung etwa der France périphérique (wie es Christophe Guilluy genannt hat) bedeuten nicht, dass eine "neue Arbeiterklasse" existiert: Solche Begriffe erklären die neue Armut und den neuen sozialen Antagonismus überhaupt nicht. Natürlich bleibt auch der Aufstieg neuer faschistischer Tendenzen ungeklärt. Brasilien ist ja immer noch eine negative Avantgarde der Welt: Wir müssen noch bestimmen, was das bedeutet; trotzdem ist der Aufstieg Bolsonaros auch ein Beweis dafür. Was wir da sehen, ist kein politisches Symptom einer bloß "verspäteten Nation", wie Helmuth Plessner früher auf Deutschland hingewiesen hat, um die Nazi-Barbarei zu erklären. Damit meinte er, dass das präfaschistische Deutschland unter einem Mangel an Aufklärung und "politischem Humanismus" gelitten hat. Über das heutige Brasilien könnte man dasselbe hören, obwohl das Land nach 20 Jahren Diktatur einen sogenannten "Fortschrittszyklus" (zwischen 1994 und 2016) erlebt hat, zunächst mit Fernando Henrique Cardoso und dann mit Lula und Dilma: unser eigenes Kapitel des "progressiven Neoliberalismus", um einen Ausdruck von Nancy Fraser zu benutzen, obwohl "progressiv" hier nur die Fassade einer simulierten sozialen Integration ist (in den USA denkt Fraser an die Identitätspolitik; in Brasilien wäre das auch die Inklusion durch den Konsum der ärmsten Bevölkerung). Nach dem Zusammenbruch dieser zivilisatorischen Fassade der globalisierten Gesellschaften, die den Konsens der "offenen" und "demokratischen" Welt nach dem Ende des Kalten Krieges organisiert haben, konnten wir plötzlich überall von der "großen Regression" hören: So heißt z.B. ein 2017 veröffentlichtes Buch, das Beiträge von verschiedenen berühmten Intellektuellen enthält, die Phänomene wie Trump und Brexit erklären wollten. Auch im Rahmen der deutschen akademischen Kritischen Theorie hat man angefangen, über die Notwendigkeit einer Theorie des sozialen bzw. moralischen Fortschritts zu sprechen (z.B. Rahel Jaeggi, die das Ressentiment als eine Figur dieser Regression analysierte). Denn ohne den Fortschritt als Maßstab könnte man nicht die "Regression" messen. Die Idee der Regression hat aber auch den Common sense der Progressisten nach 2018 in Brasilien geprägt. Eine solche Idee enthält allerdings eine indirekte Apologie, die ideologiekritisch zu entlarven ist. Geschichtsphilosophisch hat das Walter Benjamin schon vor fast 100 Jahren gemacht, als er sagte, die Chance des Faschismus bestehe darin, dass "die Gegner ihm im Namen des Fortschritts als einer historischen Norm begegnen." 2 Der Faschismus wäre dann im Verständnis der deutschen Sozialdemokraten die Regression als Ausnahme, die von dem normalen Lauf der Geschichte abweicht. Benjamin sah, dass das freilich nicht dem Standpunkt der "unterdrückten Klassen" entspricht. 3 Es geschieht etwas Ähnliches mit dem Standpunkt der Peripherie des Kapitalismus, der jedoch nichts einfach mit irgendwelcher decolonial theory zu tun hat: Es geht nicht um einen Standpunkt der "Differenz" 4 , sondern eher, um noch mit den Worten Benjamins zu reden, um den Standpunkt des permanenten Ausnahmezustandes. Damit vermeiden wir die Phrasen über den Mangel an

Die Kooperation zwischen Betriebsräten und Gewerkschaften als neuralgischer Punkt des Tarifsystems. Eine exemplarische Analyse am Beispiel Ostdeutschlands

The German Journal of Industrial Relations, 2003

Der Beitrag betont die immense Bedeutung einer engen informellen Zusammenarbeit zwischen Betriebsraten und Gewerkschaften fur ein befriedigendes Funktionieren des deut schen Institutionensystems industrieller Beziehungen. Empirisch zeigt sich dieser Zusammen hang in schlagender Weise am ostdeutschen Negativbeispiel erodierender Geltungskraft des Flachentarifvertrags. Im Rahmen einer Typologie der Beziehungsmuster zwischen ostdeut schen Betriebsraten und Gewerkschaften wird belegt, dass nur in einer Minderheit der ost deutschen Betriebe eine arbeitsteilige 'Verschrankung' des Betriebsratsund Gewerkschafts handelns existiert und damit eine stabile Ankopplung an das Tarifsystem; in einer deutlichen Mehrheit der Betriebe finden sich hingegen defizitare Beziehungsmuster der 'Abhangigkeit 'Entkopplung' oder 'DistanzDie empirisch gewonnene Typologie basiert auf Interviews mit tariflichen und betrieblichen Expertinnen der ostdeutschen Metall-, Bauund Chemieindust rie...

Im Ringen um Autonomie: Gewerkschaften im Globalen Süden

Südlink 170, 2014

Gesellschaft -in Afrika, Asien und Lateinamerika arbeiten Gewerkschaften häufig unter erschwerten Bedingungen. Doch sie sind erstaunlich aktiv und erzielen wichtige Erfolge im Kampf für ArbeiternehmerInnenrechte. Ein Überblick über Gewerkschaften im globalen Süden.

Rechte Offensive gegen soziale Errungenschaften: Herausforderungen für ArbeiterInnen und Gewerkschaften in Brasilien

Wie sind die Gewerkschaften in Brasilien derzeit aufgestellt, gegen welche Tendenzen müssen sie ankämpfen? Und was bedeutet es, wenn die Regie-rung seit 13 Jahren von der Arbeiterpartei (PT) gestellt wird, die um 1980 aus den kämpferischen Teilen der Gewerkschaftsbewegung hervorgegan-gen ist? Dazu zeigt der Soziologe Roberto Veras de Oliveira die Entwicklung unter den PT-Regierungen auf und arbeitet heraus, dass trotz zwischenzeitli-cher Erfolge der Gewerkschaftsbewegung die Bestrebungen der Unternehmer, Flexibilisierung und Outsourcing voranzutreiben, ungebrochen und (zum Teil) erfolgreich sind.

Gewerkschaften anderer Art: organisierte Kinder in Lateinamerika

2014

Am 3. Juli 2014 beschloss das bolivianische Parlament unter Mitwirkung arbeitender Kinder ein Gesetz zur "Kinderarbeit", das neue Wege bei der Umsetzung von Kinderrechten geht. Damit und durch die Verleihung des diesjährigen Friedensnobelpreises an zwei Kinderrechtsaktivisten wird eine notwendige internationale Debatte um die Rolle von Kindern in der Gesellschaft angestoßen. Analyse Organisationen arbeitender Kinder sind ein relativ neues Phänomen und werfen umfassende Fragen nach der Konstruktion von Kindheit, aber auch nach dem Umgang mit "Kinderarbeit" auf. Gewerkschaften und Menschenrechtsorganisationen sind gefordert, ihre Position zur Kinderarbeit und zur Beteiligung von Kindern zu überdenken. Arbeitende Kinder sind in vielen Ländern Lateinamerikas gesellschaftliche Realität. Da ihre Interessen von den Gewerkschaften nicht vertreten werden, sind hier seit den 1970er Jahren eigenständige Organisationen arbeitender Kinder und Jugendlicher entstanden. Die Kinder treten für die soziale Anerkennung ihrer Arbeit und den Schutz vor Ausbeutung ein. Die Organisationen arbeitender Kinder kämpfen gegen eine doppelte Marginalisierung: Die von Kindern geleistete Arbeit wird vielfach nicht anerkannt; gesellschaftliche Mitbestimmung wird ihnen mit Verweis auf ihre Minderjährigkeit verweigert. Das Selbstverständnis der organisierten Kinder stellt westliche Konzepte von Kindheit infrage. Sie wenden sich gegen eine strikte Trennung von Kindheit und Arbeit und wollen nicht in Schutzräume abgeschoben werden, sondern sich an politischen Entscheidungen beteiligen. Kinderorganisationen tragen zu gesellschaftlichen Veränderungen bei. Dies gelingt ihnen nicht nur durch die Veröffentlichung von Vorschlägen und Forderungen, sondern auch durch konkrete Initiativen und Projekte, mit denen die Lebensbedingungen arbeitender Kinder verbessert werden.

Portugiesische Vereine und die Rolle der Gewerkschaften

Der lange Marsch der Migration. Die Anfänge migrantischer Selbtsorganisation im Nachkriegsdeutschland, 2020

In der Nachkriegszeit warb die Bundesrepublik in den 1950er und 1960er Jahren aus wirtschaftlichen Motiven sogenannte Gastarbeiter an – sie würden, so die Absicht, den Arbeitskräftemangel beheben und das Land nach einem temporären Aufenthalt wieder verlassen und in ihre Heimatländer zurückkehren. Angeworben wurden sie, um einfache, un- oder angelernte Tätigkeiten auszuüben; etwaige im Heimatland erworbene Qualifikationen wurden in der Regel nicht anerkannt. «Die ‹Gastarbeiter› erledigten ‹Ausländerjobs›» und unterschichteten den Arbeitsmarkt. Die Migration wurde organisiert auf der Basis bilateraler Anwerbeabkommen mit Italien (1955), Spanien und Griechenland (1960), der Türkei (1961), Marokko und Südkorea (1963), Portugal (1964), Tunesien (1965) und Jugoslawien (1968). Nach dem Anwerbestopp, der auf einem Erlass des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung vom 23. November 1973 beruhte, verstärkte sich der Familiennachzug der immer noch als «Gastarbeiter» geltenden Einwanderer. Ihre Integration in die Gesellschaft blieb indessen weiterhin umstritten. Noch in den 1980er Jahren etwa versuchte die Regierung Kohl, sie durch «freiwillige Rückkehrhilfen» in ihre Herkunftsländer zurückzuführen. Nur stufenweise, und über Jahrzehnte, wurde der Aufenthalt verstetigt, ergaben sich für (manche) Eingewanderte bessere Möglichkeiten der gesellschaftlichen Teilhabe. Die Situation ausländischer Arbeitskräfte in der DDR war sogar noch prekärer. Zwar war ursprünglich vorgesehen, dass die sogenannten Vertragsarbeiter, die über Staatsverträge mit befreundeten realsozialistischen Ländern – darunter neben Polen (1965) und Ungarn (1967) vor allem Vietnam (1980), Mosambik (1979), Angola (1984) und Kuba (1975) – in die DDR kamen, während ihres zeitlich befristeten Aufenthalts eine Ausbildung machten, die sie anschließend zur wirtschaftlichen Entwicklung ihres Heimatlandes nutzen sollten. In der Praxis aber geriet dieser Teil des Kontraktes rasch in den Hintergrund. Stattdessen wurden die Vertragsarbeiterinnen und Vertragsarbeiter vorrangig in jenen Wirtschaftszweigen eingesetzt, wo der Bedarf an Arbeitskräften besonders groß war. Zudem waren sie rechtlich noch schlechter gestellt als die «Gastarbeiter» in der Bundesrepublik. Kurz: Den ins Land geholten Menschen wurde das Leben sehr schwer gemacht, sie wurden faktisch in die Zange genommen vom Staat auf der einen Seite und von der als ethnisch homogen imaginierten Gesellschaft auf der anderen – und das in West wie Ost.

Das Korporatismus-Theorem und die Wohlfahrtsverbände

23. Deutscher Soziologentag 1986, 1987

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